MITTELMEERBILDER
GESAMMELTE ABHANDLUNGEN
ZUR KUNDE DER MITTELMEERLÄNDER
VON
Dr. THEOBALD FISCHER
GEH. REG.-RAT, PROl'ESSOR DER GEOGRAPHIE AN DER fNlVEKSITÄT MARBURG
LEIPZIG UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
1906
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
Vorrede.
Die vorliegende Sammlung von Abhandlungen zur Kunde
der Mittelmeerländer enthält Früchte dreiunddreißigjähriger Stu-
dien über die Mittelmeerländer und von einigen zwanzig bald
längeren, bald kürzeren Reisen im Bereich derselben vom Bos-
porus bis Südvi^estmarokko in den Jahren 1872 — 1902. Sie be-
ruhen fast durchaus auf Selbstsehen, ja einige sind geradezu
Reiseschilderungen, andere dagegen enthalten in gedrängtester
Kürze die Ergebnisse einer langjährigen Denkarbeit, die so-
wohl auf vielseitige eigene Beobachtungen, wie auf Verarbeitung
einer Fülle wissenschaftlichen Quellenstoffes der verschiedensten
Art zurückzuführen ist. Die meisten sind bereits in einigen
unserer besten allgemeiner Belehrung gewidmeten Zeitschriften
erschienen, wodurch sie. über :^s Jahre verstreut, wohl der Ver-
gessenheit anheimgefallen wären. Der freundliche Leser wird er-
wägen, ob man sie nicht diesem Schicksale hätte überlassen sollen.
Einige sind eigens zur Ergänzung für diese Sammlung geschrieben,
alle sorgsam nachgeprüft, nicht mehr Richtiges ausgemerzt oder
berichtigt, aber unter mögüchster Beibehaltung der ursprünglichen
Darstellung, namenthch wo sie die Zeitgeschichte oder den je-
weiligen Stand der Erkenntnis wiederspiegelt. Nicht wenige sind
jedoch geradezu als Neuauflagen anzusehen.
Entsprechend der Stelle ihres ersten Erscheinens wenden sich
die meisten an den weiten Kreis der Allgemeingebildeten, nicht
etwa an die Fachgeographen. Ich habe mich daher auch stets um
eine möglichst flüssige Darstellung bemüht. Kritische Erwägungen,
Quellennachweise u. dgl. sind mit Absicht vermieden. Rein
wissenschaftliche, nicht allgemein verständliche und nur den engen
Kreis der Fachgeographen anzuziehen geeignete Abhandlungen,
mit denen ich wohl noch einen zweiten Band füllen könnte, sind
— IV —
ausgeschieden, aber ich glaube, daß die meisten der vorliegenden
Abhandlungen auch dem Fachmanne, der weiß, daß das Mittel-
raeergebiet seit ^^ Jahren mein besonderes Arbeitsfeld ist, etwas
zu bieten vermögen, zumal ihm meine größeren wissenschaftlichen
Werke über das Mittelmeergebiet und die Quellennachweise be-
quem erreichbar sind.
Ich hoffe namentlich auch dem Verständnis der in der Weltpolitik
und im Weltverkehr von Tag zu Tag wieder wichtiger werdenden
Mittelmeerländer und dem Bedürfnisse der stetig und rasch wachsen-
den Zahl derjenigen entgegen zu kommen, welche das Mittelmeer-
gebiet in größerer oder geringerer Ausdehnung zu den aller-
verschiedensten Zwecken bereisen. Möge dies Werk auch in weiteren
Kreisen des deutschen Volkes die Überzeugung wecken oder
stärken, daß wir, wenn wir eine Welt- und Welthandelsmacht
sein und noch mehr werden wollen, uns auf die Dauer nicht mit
ästhetischen und wirtschaftlichen Interessen im Bereiche des alten
Kulturmeeres begnügen können, das zwei bis drei Jahrtausende
hindurch der Schauplatz der Geschichte und der Ausgangspunkt
aller neuzeitlichen Gesittung gewesen ist und dessen Gestade-
länder soeben aus jahrhundertelangem Schlummer zu erwachen
und ihre mehr unentwickelten als verbrauchten reichen Hilfs-
quellen zu erschließen beginnen.
Marburg a. L., Februar 1905.
Theobald Fischer.
Inhaltsübersicht.
I. Aus dem Orient. Seite
1. Konstantinopel (1905) l
2. Ein Ausflug von Konstantinopel zur Höhle von Yarim-Burgas (1872) 24
3. Landschaftsbilder von der bithynischen Riviera (1872) 33
4. Die geographische und ethnographische Unterlage der orientalischen
Frage (1891) 42
5. Die Dattelpalme im Kultur- und Geistesleben des Orients (1881) . . 61
II. Palästina.
Eine länderkundliche Studie (1904) 74
Allgemeine Charakteristik und Entwicklungsgeschichte. — Die
Küstenebene 95 — Westjordanland 97 — Jerusalem r02 - — Das
Ghor 107 — Sodom und Gomorrha 116 — Ostjordanland 118 — -
Das Klima 121 — Pflanzenwelt 128 — Bevölkerung 133 —
Wirtschaftliche Verhältnisse 138 — Verwaltungseinteilung 147 — -
Zukunft des Landes 148.
III. Italien.
1. Italien. Eine länderkundliche Skizze (1893) 154
Entwicklungsgeschichte 157 — Bodenplastik 163 — Klima und
Pflanzenwelt, Bevölkerung 167 — Wirtschaftliche Verhältnisse 170 —
Volksdichte und Siedelungskunde 175.
2. Die sizilische Frage (1875) 180
3. Ansiedelung und Anbau in Apulien (1905) 204
4. Land und Leute in Korsika (1894) 215
IV. Die Iberische Halbinsel.
1. Geographische Skizze der Iberischen Halbinsel (1893) 236
2. Skizzen aus Südspanien (1889) 255
— VI —
V. Die Atlasländer. s,e\te
1. Die Küstenländer Nordafrikas in ihren Beziehungen und in ihrer Be-
deutung für Europa (1882) . 278
2. Zwischen Tebessa und Gabes. Reiseskizzen aus Südtunesien (1886) 301
3. Reiseeindrücke aus Marokko im Jahre 1899 (1900) 333
4. Marokko. Eine länderkundliche Skizze (1903) 358
5. Französische Kolonialpoliük in Nordwestafrika (1894) 381
6. Fünfzehn Jahre französischer Kolonialpolitik in Tunesien (1886) . . 408
7. Tunis, Biserta und Tunesien im Jahre 1904 (1904) 438
8. Palmenkultur und Brunnenbohrungen der Franzosen in der Algerischen
Sahara (1880) 458
Namen- und Sachregister 472
Druckfehler 480
I. Aus dem Orient
I. Konstantinopel.^)
Obwohl oder vielleicht weil ich so ziemlich alle wegen der
Reize ihrer Lage gepriesenen Großstädte Europas aus eigener
Anschauung kenne, bin ich geneigt Konstantinopel den Vorrang
vor allen einzuräumen. Das INIeer in seinen verschiedenen Er-
scheinungsformen, die Lage fast im INIittelpunkte der Alten Welt,
auf der Grenze zweier Erdteile, im Verknotungspunkte der wich-
tigsten Land- und Wasserstraßen, die reichen geschichtlichen
Erinnerungen, das heute noch überwiegend morgenländisch-moham-
medanische, aber bereits stark von abendländisch - christlichen
Einflüssen durchsetzte, auch den Landschaftscharakter beein-
flussende Leben, verleihen diesem natürlichen Mittelpunkte eines
weiten, zwei, ja zum Teil drei Erdteilen angehörigen Länder-
gebiets einen eigenen Reiz.
Es wird möglich sein, die topographische und die geographische
Lage von Konstantinopel, d. h. die Einflüsse der Örtlichkeit selbst
wie ihrer weiteren Umgebung schärfer zu erfassen, wenn ich versuche,
soweit das heute bereits möglich ist, auf entwicklungsgeschichtlichem
Wege die heutige Verteilung von Land und Wasser an dieser Erd-
stelle, von Hoch und Tief an der Außenseite der Erdrinde und
die sich daraus ergebenden geographischen Faktoren herzuleiten.
Wie das ganze Mittelmeer in seiner heutigen Gestalt und
den dasselbe heute kennzeichnenden Zügen jugendlichen Alters
ist, so sind auch die Meere und Meeresteile, die hier, durch
schmale, stromartige Rinnen miteinander verbunden, die Hohl-
I) Es dürfte lehrreich sein, mit dieser 1904 auf Grund zweimaliger
längerer Aufenthalte in Konstantinopel geschriebenen Studie J. G. Kohls
Schilderimg in „Die geographische Lage der Hauptstädte Europas", Leipzig
1874 S. I — 38 zu vergleichen.
Fischer, Mittelmeerbilder. I
formen der Erdrinde füllen und die über den Meeresspiegel
aufragenden Rindenteile gliedern, erst in einer geologisch der
Gegenwart sehr nahe liegenden Zeit, vielleicht in einer Zeit aus-
gebildet worden, wo hier bereits der vorgeschichtliche Mensch
lebte, in der Diluvialzeit. Konstantinopel liegt auf einem großen
Bruchgürtel der Erde, der von der Straße von Gibraltar her die
große Festlandsmasse der Alten Welt gliedert und aufschließt
und sich im östlichen Mittelmeere, das eben ganz an diesen
Bruchgürtel gebunden ist, gabelt, indem er sich nach Südosten
im Roten Meere, nach Nordosten im Archipel, im Marmara- und
Schwarzen Meere bis zum Kaspischen und der großen aralo-
kaspischen Erdsenke fortsetzt, aber vom Schwarzen Meere aus einer-
seits auf die große russische Tafel im Asowschen Meere und der Bucht
von Odessa hinüber, andrerseits längs dem Laufe der Donau, der
hier an die echt mediterranen Senkungsfelder der walachischen und
der niederungarischen Tiefebene gebunden ist, nach Westen tief in
den gefalteten Landgürtel am Nordrande des Mittelmeeres hinein-
greift. Damit ist schon die Vielseitigkeit der Beziehungen dieser
Erdstelle angedeutet. Alle diese heute zum Mittelmeer vereinig-
ten Meere bezeichnen eine Kette von Einsturzkesseln, die durch
stehen gebliebene Riegel, unterseeische Schwellen, an denen, wie
an der Straße von Gibraltar und von Pantelleria die Erdteile wie
über Landbrücken zueinander in Beziehungen treten, voneinander
geschieden, sich zum Teil erst in der Diluvialzeit gebildet haben.
In die hier in Frage kommenden ist das Mittelmeer von Süden
und Südwesten her eingetreten. Noch heute sind die Brüche,
auf welchem im Bereiche des südUchen Schwarzen Meeres, des
Marmarameeres und des Archipels Krustenstücke in die Tiefe
sanken, nicht in sich verfestigt, denn diese Gegenden gehören
noch zu den am häufigsten und heftigsten von Erdbeben heim-
gesuchten. Noch 1894, am 10. JuU, richtete ein Erdbeben, das an
den Bruch gebunden gewesen zu sein scheint, der vom Golfe von
Ismid her durch das nördliche Marmarameer nach dem Goldenen
Hörn verläuft, auf den Prinzeninseln und in Konstantinopel große
Verheenmgen an. Wie diese Erderschütterungen schließen lassen,
sind hier die Bildungsvorgänge noch nicht abgeschlossen. Aber
diese Krustenbewegungen lassen sich hier weit in die Tertiärzeit
hinein verfolgen. In der jüngsten Tertiärzeit, dem Oberpliozän,
war diese Gegend Festland, wohl von beträchthcher Höhe und
Ausdehnung, so daß sich ein großer Strom bilden konnte, der
ein tiefes Erosionstal ausspülend wohl von der Gegend des
Schwarzen Meeres gegen den Archipel hin floß. Durch den
Einbruch des Schwarzen Meeres, des Marmarameeres und des
Archipels wurde dieser Strom zerstückt, der Bosporus und der
Hellespont sind die noch erhaltenen Reste seines Erosionstales,
die aber zu Meerengen wurden, als sich gleichzeitig mit der
Bildung der Einbruchskessel auch die zwischen denselben stehen
gebliebenen, brückenartig Europa noch mit Asien verbindenden
Riegel senkten, so daß das Meer in ihre Hohlformen, das Tal
des großen Stromes und seiner Nebenflüsse eindrang. Dies er-
klärt, daß der Bosporus noch heute den Eindruck eines großen
Flußtales macht, überraschend ähnlich dem Durchbruchtale des
Rheins durch das Schiefergebirge zwischen Bingen und Bonn.
Das Goldene Hörn bezeichnet ein Seitental, das von einem Neben-
flusse wohl auf einer Bruchlinie, die hier das Devon vom Tertiär
der Halbinsel von Konstantinopel scheidet, ausgewaschen wurde,
in dessen unteres Ende das Meer dann eintrat, während es von
oben durch den noch vorhandenen Nebenfluß, den vereinigten
Kiathane und Ali Bey Su, die sogenannten süßen Wasser von
Europa, mit ihren Sinkstofi'en zugeschüttet wurde. Rings um die
Ostküste der südosteuropäischen Halbinsel, vom Marmarameere bis
nach Südrußland finden sich solche in der Oberpliozänzeit erodierte
Flußtäler, deren untere Enden jetzt mit stehendem Wasser gefüllt
sind, allerdings jetzt meist Brack- oder Süßwasser, indem die
Küstenversetzung und Küstenströmung schmale, niedrige Nehrungen
vor die Talmündungen geschoben hat. Diese senkrecht auf der
Richtung der Küste stehenden Küstenseen sind am bekanntesten
aus Südrußland, wo man sie Limane nennt, eine Bezeichnung,
die dort noch an die ehemalige türkische Herrschaft erinnert, da
im Bereiche der türkischen Sprache alle diese Meeresbuchten,
auch am Bosporus, Limane heißen. Aber diese türkische Be-
zeichnung geht off'ensichtlich auf das Seevolk dieser Erdgegend
schlechthin zurück, auf die Griechen, das griechische Atju.7jr = Hafen.
Solche Limane begleiten auch die Küste des Schwarzen Meeres
von der Donaumündung bis zum Bosporus. Der See von Derkos,
am Schwarzen Meere nordwestlich von Konstantinopel, schon an
seiner Gestalt als überflutetes Flußtal erkennbar, ist ein Liman und
ebenso am Nordrande des Marmarameeres ganz nahe westlich von
— 4 —
Konstantinopel die beiden von den Türken treffend benannten
Küstenseen von Kutschuk und Bojuk Tschekmedsche, da sie wirk-
lich wie eme kleine und eine große Schublade ins Land hinein-
geschoben sind. Wenn das Goldene Hörn nicht auch durch eine
Nehrung abgeschlossen ist, so erklärt sich das sowohl aus der
Tiefe, mit welcher hier das Meer in das Flußtal eintrat, wie
namentlich aus der starken Strömung, die in dasselbe vom Bos-
porus her eindringt. Fünf Kilometer lang in das Land ein-
greifend bildet das Goldene Hörn bei einer mittleren Breite von
300 m und auf reichlich ein Drittel seiner Erstreckung 35 — 40 m
Tiefe, mit hohen Ufern, an welchen unmittelbar die größten Schiffe
Anker werfen können, einen der herrlichsten Häfen der Welt. Die
Verengung auf 280 m nahe dem Eingange, dort wo heute die
große Brücke ihn überschreitet, ermöglicht noch erfolgreiche Ver-
teidigung gegen einen Feind, der schon in den Bosporus ein-
gedrungen war. Im Altertum wurde der Hafen hier oft durch
Ketten gesperrt. Die Strömung, die nicht stark genug ist, um
lästig zu fallen, fegt allen Unrat hinaus und erklärt wohl in erster
Linie, daß, abgesehen vom äußersten Hintergrunde und kleinen
Seitenbuchten auch im Laufe der Zeit keine Verschlammung, keine
Minderung der Tiefe eingetreten ist und künstliches Reinhalten,
Baggern u. dergl. überflüssig erscheint. Die Landumschlossenheit
verbürgt aber geringe Wellenbewegung. Das Goldene Hörn ist ein
so vorzüglicher Naturhafen, wie es deren auf der Erde nur wenige
gibt. Alle Seitenbuchten des Bosporus sind als überspülte Seiten-
täler aufzufassen, die allerdings zum Teil wieder durch die ein-
mündenden Bäche zugeschüttet sind, am auffälligsten am Tale
von Bojukdere, dem großen Tale (Dere bedeutet Flußtal).
So zerteilt also der Bosporus den das Schwarze Meer vom
Marmarameer scheidenden Querriegel in zwei schmale Halbinseln,
die sich von Europa und von Asien her, den niedergelassenen
Flügeln einer Zugbrücke ähnlich, einander entgegenstrecken. Eine
dritte noch kleinere Halbinsel wurde von der thrakischen ab-
gegliedert, indem das Meer in das Seitental des Goldenen Horns
schlauchartig, noch heute kilometerweit eindrang. Auf dieser
kleinen Halbinsel war eine so ausgezeichnete Stadtlage gegeben,
daß man den Hohn versteht, mit welchem die ersten griechischen
Ansiedler überschüttet wurden, die sich, statt an diesem Punkte,
drüben in Chalkedon, dem heutigen Kadi Kjiöi, auf einem
— 5 —
stumpfen Halbinselvorsprunge auf der asiatischen Seite südlich
vom Eingange in den Bosporus niedergelassen hatten.
Wie schon an den Dardanellen, so ist hier am Bosporus
die Schwelle, welche die zwei echt mediterranen Einbruchskessel
des Marmarameeres und des Schwarzen Meeres voneinander
scheidet, nur in einer schmalen und wenig tiefen, mit Meerwasser
gefüllten Rinne eingekerbt. Hier handelt es sich also um eine
im wesentlichen überseeische Schwelle, an der also die Erdteile
in viel engere Beziehungen treten müssen, wie an den auf große
Strecken unterseeischen Schwellen, die den Eingang ins Mittel-
meer in der Straße von Gibraltar und noch mehr die Grenze
zwischen dem mediterranen Nordwest- und dem Südostbecken
zwischen Sizilien und Tunesien bezeichnen.
Die Ähnlichkeit des Bosporus mit dem Rheintale wird um so
größer, wenn man sich letzteres, entsprechend der größeren Breite
des Bosporus und der geringeren Höhe und Steilheit seiner Tal-
gehänge zu größerer Höhe mit Wasser gefüllt denkt; denn auch
an der engsten Stelle, dort wo die Türken bei der Belagerung
von Konstantinopel auf beiden Ufern gewaltige Festen errichteten,
die noch heute stehen, Anadoli und Rumeli Hissar, und dieselben
durch Ketten verbanden , ist der Bosporus noch 660 m breit, so
breit wie der Rhein zwischen Mainz und Kastei. An andern
Stellen aber verbreitert er sich bis auf 3 km. Wie unser Rhein-
tal ist der Bosporus flußartig gewunden, mit dem gleichen Paral-
lelismus der Ufer, jedem Vorsprunge liegt eine Bucht gegenüber.
Die Länge der Meerenge beträgt längs des Talweges gemessen
31,7 km (die Strecke Bingen — St. Goar 25,5 km), die gerade
Entfernung der beiden Ausgänge nur 28,5 km (Bingen — St. Goar
23,5 km). Von einem erhöhten Standpunkte aus erscheint der Bos-
porus wie das Rheintal in eine wellige Hochfläche eingeschnitten,
die, abgesehen vom Nordende, aus denselben Gesteinen aufgebaut
ist, wie unser rheinisches Schiefergebirge und wie dieses als eine
Denudations- bzw. Abrasionsfläche aufzufassen ist. Es sind dieselben
unterdevonischen (stellenweise vielleicht obersilurischen) Grauwacken
und dunkeln Tonschiefer, zu denen auf der kleinasiatischen Seite
eingelagerte Quarzite, die auch hier die höchsten gerundeten Er-
hebungen bilden, und Kalkmassen kommen, alle Schichten wie
im rheinischen Devon stark zusammengefaltet mit im allgemeinen
nordnordöstlichen, also dem Bosporus parallelen Strichen. Auch
— 6 —
das Pflanzenkleid, das diese meist magere und wenig fruchtbare
Verwitterungsschicht bedeckt, zeigt, wenn auch ganz anders zu-
sammengesetzt, in seiner Dürftigkeit Anklänge an die ja in großer
Ausdehnung mit niedrigem Hauwald von Eichen, Ginster und
ähnlichem Gestrüpp bedeckten Höhen und Hänge unseres rhei-
nischen Schiefergebirges. Nur in den Tälern und an den Ufern
des Bosporus finden sich Anbau, Gärten und Baumpflanzungen
und ist die auf den türkischen Friedhöfen ganze Haine bildende
dunkle, schlanke Zypresse die einzige Baumform, die trotz der
niederen Breite von 41 Grad Nord, also der Breite von Neapel,
an den Süden erinnert. Die durch Nord- und Nordostwinde
vom Schwarzen Meere und aus Südrußland herbeigeführte winter-
liche Kälte hält hier noch fast alle immergrünen Mediterran-
gewächse fern. Der Bosporus und die niedrige Schwelle der
thrakischen und bithynischen Halbinsel ist das schlimmste Zug-
loch, durch welches die Kälte des Nordens in das hier durch
keinen hohen gefalteten Gebirgswall geschützte Mittelmeergebiet
einbricht, die noch oft genug an der Ostseite von Griechenland bis
in die Breite von 38^ Nord die Ölbäume erfrieren macht. Schnee-
fälle sind in Konstantinopel keine Seltenheit. Noch im Jahre 1 903
fielen hier solche Schneemassen, daß der Straßenverkehr dadurch
tagelang unterbrochen wurde. Ja, aus dem Mittelalter sind Winter
bezeugt, in denen der Bosporus mit Eisschollen trieb. Nur
wenige Ortschaften, von ärmlichen Ackergründen umgeben, wie die
Dörfer der Eifel, sind beiderseits über die Hochfläche zu beiden
Seiten des Bosporus verstreut. Gestrüppdickichte, denen allerdings
die Baumheide, wo sie in Menge auftritt, im Frühling, wenn sie
sich mit einer Fülle weißer, duftiger Blütenglocken bedeckt, einen
besonderen Reiz verleiht, bedecken unabsehbar Höhen und
Hänge. Nur an zwei Stellen, an dem noch zu besprechenden
Heiligen Walde von Belgrad und auf der kleinasiatischen Seite,
ziemlich fern von Konstantinopel, im Walde Alem Dagh gehen
die Gestrüppe in hohen Wald über, ja in letzterem im sogenannten
Vakuf-Ormani, in wahren jungfräulichen Urwald. Nur auf diesen
verhältnismäßig kleinen Bereich ließe sich vielleicht die in Wirk-
lichkeit nicht mehr vorhandene Bezeichnung ,, Baummeer" (Agatsch
Denisi) anwenden, von dem man in Konstantinopel so viel hört
und das noch immer auf den Karten spukt. Häufig, namentlich
in dem ganzen Gürtel gegen das Schwarze Meer hin, sind diese
— 7 —
Gestrüppdickichte, die sich nur durch ihre Zusammensetzung aus
vorwiegend laubabwerfenden Sträuchem von den immergrünen
mediterranen Macchien unterscheiden, so hoch und so dicht, daß
sie fast undurchdringlich sind und man sich leicht, da nur wenige
erhöhte Punkte eine Übersicht gestatten, unrettbar verirren kann.
Der Gegensatz zwischen diesen fast menschenleeren unabsehbaren
Gestrüppdickichten über den lachenden Ufern des Bosporus ist
ebenso groß wie zwischen den Ufern des Rheins mit seinen sich
aneinander reihenden Städten und Dörfern, mit ihren Weinbergen
und Obsthainen und dem rasch pulsierenden Leben auf und am
Strome imd den rauhen Höhen der Eifel oder des Westerwaids,
obwohl die Höhenunterschiede in der alten Devonscholle, in
welche der Bosporus eingeschnitten ist, wesentlich geringere sind,
wie im rheinischen Schiefergebirge. Dieselbe hat zu beiden Seiten
des Bosporus nur eine Höhe von etwa 150 m und die höchste
Erhebung in derselben, schon ziemlich weit nach Osten abgerückt,
der Aldos Dagh nördlich von Pendik hat nur 531 m. Freilich
die meisten Flüsse und Bäche, die die einförmige Hochfläche
gegliedert haben, liegen im Spätsommer trocken da, da hier noch
echt mediterran die Niederschläge noch auf den Winter angehäuft
und die Sommer sehr regenarm sind. Diese Verödung der Um-
gebung von Konstantinopel, das darin Rom gleicht, ist so zum
Teil etwas natürlich Gegebenes, zum Teil aber eine Folge der
Erschöpfung des Bodens infolge zu starker Inanspruchnahme Jahr-
tausende hindurch.
Mit diesem Wechsel einer regenreichen und einer regenarmen
Jahreszeit, noch mehr aber mit dem der Bildung stärkerer Quellen
ungünstigen geologischen Aufbaue des Landes, dem Überwiegen
undurchlässiger Felsarten hängt auch die Schwierigkeit der Wasser-
beschaffung für eine Großstadt an dieser Erdstelle zusammen. In
dieser Hinsicht ist Ostrom sehr viel ungünstiger gestellt wie Rom,
dem die Kalkstöcke des Appennin die Wasserschätze ihrer starken
Quellen zusenden. Schon im Altertum spielte HerbeischaflFung
von Wasser eine große Rolle. Die römischen Kaiser legten für
den Fall, daß die Leitungen zerstört würden, riesige Zisternen,
teils offen, teils überwölbt, auf den höchsten Punkten der Stadt
an, die die Türken haben verfallen lassen. Aber 1200 Jahre
alt führt noch heute der gewaltige von Schlingpflanzen über-
wucherte Aquädukt, den Kaiser Hadrian begonnen, Valens voll-
endet hat, von den Türken Bosdoghan-Kemeny genannt, über
ein Tal hinweg dem Herzen von Stambul Wasser zu. Die Sul-
tane des i6. und 17. Jahrhunderts haben die Leitungen verbessert
und die Sammelbecken (Bend) vermehrt. Am Nordrande der
thrakischen Halbinsel nämlich, nahe dem Schwarzen Meere, hat
sich auf den abgetragenen Devonschichten inselförmig aufgelagert
eine etwa 10 m mächtige Geröllablagerung wohl pliozänen Alters
erhalten, an deren Sohle auf der undurchlässigen Unterlage der
Devonschiefer starke Quellen zutage treten, deren Wasser in
künsthchen Weihern, den sogenannten Bend, gesammelt und nach
Konstantinopel geleitet wird. Der größte dieser Bends ist 800 m
lang und faßt 8 — 10 Mill. Kubikfuß Wasser. Um diese Quellen
nicht versiegen zu machen, wird der gewöhnlich nach einem Dorf
Belgrad genannte W^ald, der dies Gebiet bedeckt, ein beliebtes
Ausflugsziel der in Konstantinopel wohnenden Europäer, von jeher
sorgsam geschont und bewacht, ja neuerdings ist die türkische
Regierung dazu geschritten, die Bewohner der beiden Dörfer Bel-
grad und Kömürdjikjiöi, um Holzdiebstahl und Verunreinigung der
sieben durch das Waldrevier verstreuten Bends zu verhüten, zu
verpflanzen und die Dörfer in Trümmer fallen zu lassen. Ein
drittes Dorf Aiwafkjiöi ist schon in früherer Zeit aus diesem Grunde
wüst gelegt worden. Aber trotz dieser Fürsorge ist Wasser in
Konstantinopel immer eine kostbare Gabe und sind im Sommer
^venigstens, wo die zahlreichen Hauszisternen versiegen, Wasser-
verkäufer Charakterfiguren im Straßenbilde.
Nur der nördliche, der sogenannte obere Bosporus, zeigt
von unserm Rheintale abweichende Formen, denn er ist in Erup-
tivgesteine, namentlich Andesite eingeschnitten, deren größere
Widerstandsfähigkeit steilere Hänge — oft wahre Felswände —
und größere Höhe bedingt, so daß hier kaum Raum für Ansied-
lungen ist, die, alle klein und ärmlich, mehr zu Wasser als
durch felsige Pfade miteinander verbunden, sich in den Aus-
gängen kleiner Täler eingenistet haben. So ist hier am oberen
Bosporus der Landschaft auch infolge der dunkeln Färbung der
Felsen ein ernster, düsterer Zug aufgeprägt, der schon auf das
kurzwellige, insel- und hafenarme, ungastliche Schwarze Meer
vorbereitet. Gemildert wird dieser Eindruck keineswegs durch
die wahre Musterkarte älterer und neuerer Befestigungen und mit
schweren Geschützen gespickten Batterien, die die Ufer bedecken
— 9 —
und Konstantinopel gegen die Angriffe der russischen Schwarze-
meerflotte schützen sollen, wie ähnliche Befestigungen an den
Dardanellen gegen eine von Süden kommende, etwa englische
oder französische Flotte.
Einem Strome gleicht der Bosporus auch insofern, als er
wirklich mit fließendem, örtlich sogar mit stark strömendem Wasser,
allerdings salzigem, wenn auch nur schwach salzigem (i.Q^o Salz-
gehalt) gefüllt ist. Durch ihn gibt das Schwarze Meer seinen
durch die zahlreichen und großen Ströme, die es aufnimmt, be-
dingten Wasserüberschuß an das Mittelmeer ab, von dessen ge-
waltigem Verdunstungsverlust allerdings der Bosporusstrom nur
einen Bruchteil zu ersetzen vermag. Auch strömt das Wasser
nur in der oberen etwas größeren Hälfte des Querschnitts der
Rinne aus dem Schwarzen Meere aus, die untere ist von einer
entgegengesetzten Strömung eingenommen, welche salzhaltiges
Mittelmeerwasser dem Schwarzen Meere zuführt, das ohne diesen
Unterstrom schon längst ausgesüßt sein müßte. An den engsten
Stellen ist die Strömung, namentlich an den Landvorsprüngen,
so stark, daß man es vorzieht, die Boote an Tauen vom Lande
aus zu ziehen, da es sehr schwer ist, rudernd dagegen an-
zukämpfen. Beträgt doch die Stromgeschwindigkeit in der eng-
sten und tiefsten Stelle im Sommer unter dem Einfluß der nörd-
Uchen Winde und des dann infolge des Hochwassers der Ströme
hohen Standes des Schwarzen Meeres 9,5 km in der Stunde,
d. h. mehr wie die Donau bei Wien bei mittlerem Wasserstande.
Den Teufelsstrom, Scheitan Akentisi, nennen die Türken diese
Gegend der stärksten Strömung. Auch die Schiff"ahrt wird von
der Strömung beeinflußt, Segelschiff"e müssen sich gegen den
Strom schleppen lassen. Gesundheitlich ist dieser Salzstrom, der
allen Unrat, der hineingeworfen oder vom Lande hineingespült
wird, ins Marmarameer hinausträgt, von unschätzbarem Wert.
Unterstützt in dieser Wirksamkeit und zugleich verstärkt wird er
gerade in der Zeit, wo es am nötigsten ist, im Sommer, durch
den dann monatelang andauernden Nord- und Nordostwind, die
Etesien der alten Griechen, der frische, reine Seeluft vom Schwar-
zen Meer her zuführt und namentlich den Aufenthalt am oberen
Bosporus, in Therapia und Bojukdere, wo daher im Sommer die
europäischen Gesandten wohnen, so angenehm macht. Während
des W'inters dagegen ist das Leben am Bosporus dem Süden
lO —
zugekehrt, dem Marmarameere, dessen hohe nach Süden geneigte
Nordgestade, besonders an der höheren bithynischen Halbinsel
und auf den lieblichen Prinzeninseln, so milde Winter haben, daß
dort der Ölbaum gedeiht. Konstantinopel kann daher schon jetzt
als eine gesunde Stadt gelten und wird vielleicht die gesundeste
Weltstadt sein, wenn einmal europäische gesundheitliche Ein-
richtungen zur Durchführung gekommen sein werden.
Mit der Strömung, welche die Gewässer des Schwarzen
Meeres durch diese enge Rinne zusammendrängt, hängt wohl
auch der Fischreichtum des Bosporus zusammen, der außer-
ordentlich ist. Nicht nur ein kleiner sardellenartiger Fisch, dort
Ziros genannt, wird in großen Mengen, besonders im Frühling
gefangen, sondern vor allem auch der mächtige Thunfisch, dessen
Schwärme sich im Altertume, scheint es, viel mehr wie heute in
der Meerenge und besonders im Goldenen Home zusammen-
drängten, so daß ihr Fang wesentlich zur Ansiedlung der Griechen
an dieser Stelle und der Handel mit geräuchertem Thunfisch zum
Aufblühen von Byzanz beitrug.
Die Stätte des ältesten Byzanz, die gegen den hier an der
heutigen Seraispitze nur 1800 m breiten Eingang des Bosporus
vom Marmarameere her vorgestreckte Spitze der durch das Gol-
dene Hörn ausgesonderten Halbinsel, die, vom Meere ziemlich
hoch aber mit gutem Baugrunde ansteigend, nur an der Land-
seite einer schützenden Mauer von etwa 1500 m Länge be-
durfte, erschien von der Natur so begünstigt, daß man die ersten
griechischen Ansiedler an diesen Küsten, die sich in Chalkedon
auf der asiatischen Seite auf der weit weniger gut ausgesonderten
Halbinsel niedergelassen hatten, die heute Kadikjiöi trägt, der
Blindheit zieh. Die erste Gründung einer griechischen, dorischen,
Niederlassung an Stelle einer thrakischen Burg des Byzas, daher
Byzantion genannt, wird in das Jahr 667 v. Chr. gesetzt. Von
den Thrakern zerstört, aber 628 erneuert, blühte Byzantion
durch Ausbeutung der Fischereien — das alte Byzanz führte
einen Fisch im Wappen und Fischnahrung hat bei Belagerungen
oft eine Rolle gespielt — , durch Beherrschung des gesamten
Handels von und nach dem Schwarzen Meere, besonders der
Getreideausfuhr aus den Getreideländern desselben, die also seit
2^1^ Jahrtausenden eine Rolle spielt, bald derartig auf, daß der
Umfang ihrer Mauern 40 Stadien, 7 — 8 km Länge erreichte.
Als Seestadt und als Beherrscherin der Wasserstraßen ist also Byzanz
zuerst groß geworden. Und diese Rolle spielt auch noch das heutige
Konstantinopel freilich fast ohne eigene Rederei. Reichten die Be-
ziehungen von Byzanz lange wohl nur bis Griechenland, so die von
Konstantinopel heute über alle Gestade des Mittelmeers bis nach
Nordwest-Europa und durch den Suezkanal bis Indien. Byzanz
vermochte sich, wenn auch unter wechselnden Schicksalen, als
kleiner griechischer Freistaat bis in römische Zeit zu behaupten,
wo sie durch Kaiser Konstantin neu gegründet und nach ihm
benannt als Hauptstadt des römischen, später oströmischen,
Reichs erst ihre volle weltgeschichtliche Bedeutung erlangte.
Dies beruhte zunächst darauf, daß sie schon lange nicht mehr
am Rande der griechischen Welt lag, sondern in dem ganzen
weiten Bereiche der Getreideländer des Schwarzen Meeres ein
großes wirtschaftliches Hinterland besaß, das gegen diesen Mittel-
punkt gravitierte und nur durch ihn mit dem übrigen mediter-
ranen Kulturkreise verkehrte. Die in das Schwarze Meer mün-
denden großen Ströme waren ebensoviele Handelsstraßen, die
schließlich in Konstantinopel zusammenliefen, zu denen aber die
Wasserstraßen längs der Gestade dieses Meeres, namentlich
längs dem Nordrande Kleinasiens und zahlreiche Karawanen-
wege hinzukamen, die aus dem osteuropäischen Flachlande und
von der aralokaspischen Senke her am Asowschen Meere und
an der Bucht von Odessa ausmündeten. Durch die Ausdehnung
des römischen Reichs nach Osten hin kam aber zu diesem
nördlichen ein ebenso großes östliches „Hinterland" hinzu. Die
Gunst der geographischen Lage erwies sich als ebenso groß wie
die der topographischen. Dazu kamen nun alle Vorteile der
Hauptstadt eines großen Reichs. So wurde Konstantinopel in
spätrömischer Zeit eine Weltstadt, eine Rolle, die es das ganze
Mittelalter hindurch spielte, wie namentlich die arabischen Geo-
graphen sie stets als solche bezeichnen. Wie bis zu den Arabern
Nordafrikas und Spaniens, zu den eben erst sich höherer
Kultur erschließenden Völkern Mittel- und Nordwest-Europas, so
dringt ihr Ruhm durch Vorderasien, ja vielleicht bis Ostasien,
nach beiden Seiten auf Landwegen.
Es sind besonders vier solcher Landwege, die hier zu-
sammenlaufen und weite Länder mit gegensätzlicher natürlicher
Ausstattung ihrer Erzeugnisse auf denselben auszutauschen an-
12
spornen, wie dies bei den schon angedeuteten Wasserstraßen an
diesem Punkte der Fall ist. Die kleinasiatische und die süd-
osteuropäische Halbinsel sind die Träger dieser Landstraßen und
erscheinen so gleichsam wie die zwei Flügel einer Zugbrücke,
die niedergelassen die Ländermassen Vorderasiens und Mittel-
europas miteinander verbinden. Die Oberflächengestalt beider
Halbinseln gibt dem einen Paare westöstliche, dem andern nord-
westsüdöstliche Richtung. Letztere ist die bei weitem wichtigere.
Wir können beide als sich in Konstantinopel schneidende Ge-
rade auffassen. Die Nordwestsüdostrichtung erscheint besonders
auf der südosteuropäischen Halbinsel als scharf orohydrographisch
bedingt, indem die Gewässer der großen alten rumelischen
Scholle, des Kerns der ganzen größeren Osthälfte der Halbinsel,
auf der einen Seite von dem großen niederungarischen Senkungs-
felde, durch welches die Donau aus Deutschland der südost-
europäischen Halbinsel zustrebt, angezogen werden, also der
den Nordrand der Halbinsel begleitenden Donau zustreben,
Nischawa-Morawa, auf der andern Seite von den thrakischen,
einer Fortsetzung des ägäischen Bruchgebiets, Maritza und Ergene,
Diese wichtigste Verkehrslinie der ganzen südosteuropäischen
Halbinsel, die Konstantinopel mit Belgrad, dem hydrographischen
Mittelpunkte der ganzen mittleren Donau, verbindet, hat un-
gefähr in der Mitte zwischen beiden, um das in die rumelische
Scholle eingesenkte, durch die Iskerschlucht quer durch den
Balkan zur Donau entwässerte Becken von Sofia zu erreichen,
zwei Gebirgsschwellen zu übersteigen, die eine zwischen Nischawa
und Isker, die im letzten Kriege zwischen Serben und Bulgaren
umkämpften Höhen von Dragoman und Sliwnitza, 726 m, die
andere zwischen Isker und Maritza, der Paß von Vakarel 845 m
hoch. Die alte römische Heerstraße, deren Pflaster, wenn auch
von den Türken wiederhergestellt, man noch im 16. Jahrhundert
benützte, war hier durch Mauer und Tor geschlossen, das man
seit dem 15. Jahrhundert, gewohnt, alle großen Römerbauten
hier im Südosten mit dem großen Kaiser in Beziehungen zu
setzen, Trajanstor nannte. Im Altertum und noch im Mittelalter
hieß es Succorum claustra. Die Türken nannten es Kapulu
Derbend (Torpaß). Der Pascha von Sofia hat dieses geschichtlich
merkwürdige Denkmal, das von allen abendländischen Gesandt-
schaften erwähnt wird, 1835 abgetragen. Nur ein kleines Tor
— 13 —
mit einem Turme ist noch in dichtem Buchenwalde erhalten.
Hier lag die Grenze zwischen Ost und West, zwischen lUiricum
und dem Orient. Auf dieser Diagonallinie haben sich die römi-
schen Heere, die Heere der Kreuzfahrer und die türkischen
Heere bewegt, welche gegen Ungarn und Mitteleuropa vor-
rückten. Wie schon die Römer sie durch Militärstationen ge-
sichert hatten, so hatten die Türken an ihr Militärkolonien an-
gelegt, mohammedanische Inseki im unterworfenen christlichen
Lande. Ihr folgt heute die große internationale Eisenbahnlinie
Paris-Konstantinopel, eine Linie, welcher heute aus dem Herzen
Europas nach Südosten vordringend, deutsche Gesittung und
deutscher Handel unaufhaltsam folgt, wie sich schon, abgesehen
von den mindestens 27^ Millionen Deutschen in Ungarn, in den
starken, stetig wachsenden deutschen Kolonien in den End-
punkten Belgrad und Konstantinopel, wie in dem Zwischenpunkte
Sofia ausprägt. Wie so auf diesem Landwege aller Verkehr,
der aus dem Donaugebiete und Mitteleuropa nach dem Orient
geht, Konstantinopel erreicht, so auch der Verkehr, der sich der
Donau als Wasserstraße bedient. In Kleinasien setzt sich diese
Südostlinie in gleicher Richtung über das allenthalben wegsame
innere Hochland nach der Oasenstadt Konia und den kilikischen
Toren fort, dem Über- bzw. Durchgange durch den kilikischen
Taurus nach Syrien und Mesopotamien: die Linie der durch
deutschen Unternehmungsgeist gebauten sogenannten Bagdadbahn,
die Ende 1904 bereits bis an den Gebirgswall des Taurus er-
öffnet ist, künftig der kürzeste Weg nach Indien. Konstantinopel
wird so in nicht ferner Zukunft der wichtigste Punkt an einer
der wichtigsten Linien des Schnellverkehrs werden.
Die westöstliche Linie wird durch die Nordküste des grie-
chischen Inselmeers bestimmt. Von Saloniki aus überschreitet
sie den gefalteten Gebirgswall, welcher der Westseite der süd-
osteuropäischen Halbinsel ihren Charakter aufprägt und die große
meridionale Erstreckung derselben bedingt, mit Hilfe der auch
sie kennzeichnenden Becken, dem von Ostrowo, von Monastir,
von Ochrida, und endigt, fast von Ochrida an dem Quertale des
Schkumbi folgend, bei Durazzo. Die Römer hatten diese Linie,
die allerdings westlich und östhch vom Ochrida-See Höhen von
1 100 m überschreiten muß, zur Via Egnetia ausgebaut, die zwischen
Brundisium und Dyrrhachium, das Adriatische Meer querend, Rom
— 14 —
mit Konstantinopel verband. Auch sie ist bis nach Monastir
durch eine Eisenbahn ersetzt, die sich als anatolische Bahn in
der gleichen Richtung von Haidar Pascha an der asiatischen
Seite des Bosporuseingangs heute bis Angora fortsetzt, als ur-
alter Verkehrsweg aber bis nach Sivas, Armenien und Persien.
Beide Eisenbahnen verdanken deutschem Unternehmungsgeist ihr
Dasein. So ist Konstantinopel der Schnittpunkt von Land- und
Wasserstraßen, die zu den geschichtlich wichtigsten der Erde
gehören und auch in Zukunft wieder große wirtschaftliche Be-
deutung erlangen werden.
Daß diese Landstraßen den Bosporus aufsuchten und ihn an
seinem Südende überschritten, nicht etwa am Nordende oder
die Dardanellen, erklärt sich daraus, daß ersteres, wie wir
sahen, unwirtlich und schwer zu überschreiten, letztere für den
Verkehr abgelegen waren und nicht entfernt einen Punkt von
gleicher topographischer Begünstigung besaßen. Sowohl von der
europäischen, wie von der asiatischen Seite kann man die Dar-
danellen, die auch an der engsten Stelle noch doppelt so breit
sind wie der Bosporus, nur auf Umwegen erreichen.
Aber noch ein Umstand ist für die Lage, für die Eignung
von Konstantinopel zur Hauptstadt eines großen Reichs und für
die Entwickelung zu einer Welthandelsstadt von größter Be-
deutung: die natürliche Festigkeit, die Unangreifbarkeit sowohl
zu Lande, wie zu Wasser. Sie verbürgte ununterbrochene Ent-
wickelung, Anhäufung von Reichtümern, Kulturschätzen und Bil-
dungsmitteln jeder Art, selbst in Zeiten des tiefsten Niedergangs
und völliger militärischer Ohnmacht. Beide, die günstige Ver-
kehrslage und die natürliche Sicherheit verleihen dieser Erd-
stelle eine Lebenskraft, die kaum ihres gleichen auf der Erde
hat. Seit beinahe 2000 Jahren blüht hier eine Weltstadt, die an
Dauer wohl nur von der „ewigen" Stadt übertroflfen wird, aber
keine Periode so tiefen Niedergangs gehabt hat wie diese.
Diese beiden Eigenschaften seiner Hauptstadt allein ermöglichten
dem byzantinischen Reiche sich durch alle Stürme der Völker-
wanderung hindurch, ein Jahrtausend länger wie das west-
römische zu erhalten, wenn auch zuletzt wie ein lebendes Fossil
aus dem Altertume und lange nur auf die Hauptstadt beschränkt.
Diese selbst aber ließ den Niedergang des Reichs nur in ge-
ringem Maße erkennen; denn lange vor der Eroberung von Kon-
stantinopel durch die Türken (1453) war die wirtschaftliche Kraft,
die untilgbar dieser Erdstelle innewohnt, dem verkommenen
Herrschervolke entglitten und wieder rasch wachsend, in die
Hände von weit hergekommener Ansiedler übergegangen, die
zuerst schüchtern und geduldet, bald aber als die wahren Herren
auftraten und den gesamten Handel und Verkehr beherrschten :
die Italiener. Wiederum wie in altgriechischer Zeit überwog der
Seehandel. Die Genuesen, von deren Machtstellung noch heute
der gewaltige Rundturm (aus dem 13. Jahrhundert) über Galata
zeugt, beherrschten lange Zeit die Meerenge und das Schwarze
Meer. Nach dem Vertrage von 1353 durfte kein byzantinisches
Schiff ohne ihre Erlaubnis und Zoll in das Schwarze Meer ein-
laufen.
Das gleiche Schauspiel bietet uns die Gegenwart. Auch
das türkische Reich ist verfault und verkommen, aber Konstan-
tinopel sinkt und entvölkert sich darum nicht. Im Gegenteil,
die mohammedanischen Bewohner, die Scharen von Beamten
mit ihren Familien, denen in den verlorenen Landschaften der
südosteuropäischen Halbinsel der Aufenthalt verleidet wird, drängen
sich vorzugsweise in der Hauptstadt zusammen, vermehren aber
die Zahl der bettelarmen Angehörigen des in allen seinen
Gliedern und Schichten verarmten Herrenvolkes. Was den By-
zantinern die Italiener waren, das sind den Türken, besonders
seit dem Krimkriege, die Kolonien der europäischen Kultur-
und Handelsvölker: Franzosen, Engländer, Italiener, neuerdings
vor allem Deutsche. Wiederum ist das wirtschaftliche Leben^
ist aller Reichtum und abendländische Kultur nicht im alten
Byzanz, sondern an der Nordseite des Goldenen Horns, in
Galata und Pera zusammengedrängt. Diese europäischen Kolonien
bilden, wie einst die Genuesen, einen Staat im Staate. Je mehr
das Türkentum sinkt, um so mehr wächst ihre Zahl, ihr Reichtum,
ihr Einfluß.
Die natürliche Festigkeit von Konstantinopel ist noch heute
die gleiche wie schon im Altertume, so sehr sich sonst auch
die Verhältnisse geändert haben. Sie beruht darauf, daß man
weder zu Lande noch zur See leicht an die Stadt herankommen
kann und dieselbe schon in größerer Entfernung ausgezeichnete
Verteidigungsstellungen besitzt, die auch eine schwächere Macht
zu behaupten vermag. In der ältesten Zeit handelte es sich nur
— i6 —
um die Verteidigung der eigentlichen Stadthalbinsel an der
Landseite, da das Meer fast zu allen Zeiten hinreichend Schutz
gewährte, namentlich gegen Angriffe von Asien her. Wie noch
heute Groß-Konstantinopel, war schon das alte Byzanz, das
auch seinerseits oft belagert, aber selten erobert worden ist, nur
durch Angriffe zu Lande und zur See zugleich zu bewältigen.
Erst nachdem die Türken mit unsäglicher Mühe den Bosporus
durch Ketten gesperrt hatten, die die noch heute stehenden
gewaltigen Festen an der engsten Stelle verbanden, konnten sie
zur eigentlichen Bestürmung der Stadt schreiten. Als die Stadt
über die Stadthalbinsel hinaus gewachsen war und die Macht
von Byzanz zu sinken begann, schien es am besten, die ganze
thrakische Halbinsel durch eine Mauer zu sperren. Das war die
vom Kaiser Athanasius 507 v. Chr. gebaute Mauer, die quer
über die Wurzel der thrakischen Halbinsel vom Schwarzen zum
Marmarameere führte. Ihr entspricht in der Gegenwart die
etwas weiter zurückgelegene Linie von Tschataldscha, die vom
Liman von Bojuk Tschekmedsche am Marmarameere längs dem
Tale des dort einmündenden Flüßchens an den Liman von
Derkos am Schwarzen Meere führt. Eine innere Verteidigungs-
linie folgt den Höhen rings um Konstantinopel von Bojukdere
am Bosporus bis Makri Kjöi am Marmarameere. Der Linie von
Tschataldscha entspricht auf der asiatischen Seite die Linie des
Riva Dere, dessen tief eingeschnittenes, fast die ganze bithy-
nische Halbinsel querendes Tal eine ausgezeichnete Verteidigungs-
stellung bietet, wenn eine kaum minder gute, nur etwas längere
überwältigt sein sollte, die von Ismid aus längs dem unteren
Sakaria führt. Wie so zu Lande ein Feind der Stadt leicht fern
gehalten werden kann, so noch leichter zur See am Nordeingange
des Bosporus wie an den Dardanellen, die daher beide zu beiden
Seiten mit wahren Musterkarten von Festungswerken aus den
allerverschiedensten Zeiten besetzt sind. Beide Meerengen sind
ja auch jetzt durch internationale Verträge für Kriegsschiffe ge-
sperrt. Solange der Herr von Konstantinopel auch im Besitz
der Meerengen ist, stehen ihm die reichen Gestade des Mar-
marameeres zur Verfügung, ist das europäische Gestade verloren,
so bleibt das asiatische, beherrscht der Feind, von Norden kom-
mend, das Schwarze Meer, so bleibt der Archipel und umgekehrt.
Die Natur hat für Konstantin opel den Schutz vorbereitet, den
— 17 —
man einer modernen Festung durch einen Kranz weit ab-
gerückter Forts zu geben sucht. Es gleicht einer befestigten
Provinz.
So hat sich Konstantinopel seit dem Altertume als Weltstadt
behauptet, während seine Nebenbuhlerinnen Antiochien und Alexan-
dria, auch ihrerseits im späteren Altertum Brennpunkte des Han-
dels zwischen dem mediterranen und dem süd- und ostasiatischen
Kulturkreise längst ihre Bedeutung verloren haben. Von den
nahe gelegenen, durch Kunst und Gunst für kurze Zeit empor-
gebrachten Nikomedien und Nikäa zu schweigen. Auch die
Brennpunkte des italienischen Handels am Schwarzen Meere, die
Endpunkte der großen asiatischen Karawanenwege gegen Ende
des Mittelalters, Sudak und Kaffa in der Krim, hatten nur zeit-
weilig Konstantinopel geschädigt. Durch die Eroberung Konstan-
tinopels seitens der Türken hatte auch ihre Todesstunde ge-
schlagen. Konstantinopel selbst erhielt dadurch allerdings einen
ganz anderen Charakter. Die Seebeziehungen traten zurück, da
ja unter der Herrschaft der Türken, eines durchaus festländischen
Volkes, das nur vorübergehend unter großen Herrschern mit
Hilfe griechischer Seemannschaften auch das Meer beherrscht
hat, das Schwarze Meer völlig verödete. Konstantinopel wurde
die Hauptstadt und der natürliche Mittelpunkt eines gewaltigen
Reiches, das nicht nur die beiden Halbinseln umfaßte, sondern
den größten Teil von Ungarn, die Länder um das Schwarze
INIeer, Syrien und Mesopotamien, große Teile von Arabien und
des Nordrands von Afrika, bis nach Algerien. Der politische
Zusammenschluß dieses gewaltigen drei Erdteilen angehörigen
Ländergebiets und die Behauptung desselben Jahrhunderte hin-
durch war nur möglich von einem so ausgezeichneten Mittelpunkte
aus wie Konstantinopel.
Durch die türkische Eroberung ist auch der bauliche Cha-
rakter der Stadt und die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung
eine ganz andere geworden. Die hohen Minarets der zahlreich
errichteten gewaltigen Moscheen, die allerdings vielfach die
Sofienkirche zum Muster nahmen, die noch zahlreicheren Türbes,
die Grabmäler von Sultanen und ihrer Angehörigen, die leichten
türkischen Holzhäuser, welche an Stelle byzantinischer Steinbauten
traten, von denen noch einige im Fanar, dem Stadtviertel
der alten griechischen Familien am Goldenen, Hörn, dazu die
Fischer. Mittelmeerbilder. 2
— i8 —
gewaltigen Stadtmauern, Wasserleitungen, riesige Zisternen u. dgl.
erhalten sind und vor allem die das Haus gegen die (Öffentlich-
keit, gegen das Straßenleben abschließende Lehre des Islam
gaben dem Stadtbilde ein völlig verändertes Aussehen. In den
türkischen, wie überhaupt in den nichteuropäischen Stadtvierteln
sind die Straßen meist eng, winkelig, durch die fensterarmen oder
mit durch Holzgitter verschlossenen Fenstern versehenen kleinen,
hölzernen Familienhäuser unfreundlich, schlecht gepflastert, voll
Schmutz und Unrat, den zu beseitigen immer noch die herren-
losen Hunde vorzugsweise berufen sind. Dazu kamen ferner ganz
neue Bevölkerungselemente, die das heutige Konstantinopel in
weit höherem Maße als die meisten Städte des Orients als ein
buntes Mosaik von Stadtteilen erscheinen lassen, deren jeder von
einem andern Volke bzw. Glaubensbekenntnis bewohnt wird,
wenn auch die frühere scharfe Abgrenzung sich mehr und mehr
verwischt. Zunächst zogen die neuen Herrn, die ethnisch so bunt
gemischten osmanischen Türken, ein und nahmen die besten
Plätze für sich in Anspruch. IVIit dem Wachsen des Reichs, dem
ungeheuren Zuströme von Renegaten aus den verschiedensten
Völkern — es sei nur an die vorzugsweise aus Christenknaben
ergänzten Janitscharen erinnert, die vorzugsweise in Konstantinopel
ihr Standquartier hatten — wuchs die mohammedanische Bevöl-
kerung. Sie hat heute noch den größten Teil des alten Kon-
stantinopel inne, bis an die noch wohlerhaltene, zum Teil drei-
fache 6 km lange Mauer an der Landseite, durch deren Bresche
nahe dem Nordende die Türken in die Riesenstadt eindrangen.
Das älteste Byzanz auf der Spitze der Halbinsel, später die Akro-
polis der Stadt, wurde der Herrschersitz, das alte Serai, ein
großer, noch heute von mächtigen Mauern und Türmen um-
schlossener und abgeschlossener Stadtteil, der aber auch viele
Gärten, Kasernen u. dgl. enthält, aber heute nicht mehr von den
Sultanen bewohnt wird. Neben den neuen Herren behaupteten
sich aber auch die Griechen, wenn auch vielfach unterdrückt,
durch Klugheit und List, durch ihre alte Kultur und wohl auch
ihren Reichtum, den sie bald wieder zu mehren verstanden. In
der Neuzeit hat eine bedeutende Zuwanderung von Griechen,
von den Inseln des Archipels, aus Kleinasien und aus dem
Königreiche stattgefunden, da eben Konstantinopel den Kindern
dieses rührigen Volks ein gutes Fortkommen bietet, so daß Kon-
— 19 —
stantinopel wahrscheinlich noch heute die größte Griechenstadt ist.
Die Griechen nannten sie auch schlechthin „die Stadt", wie noch
die türkische Bezeichnung Stambul für die eigentliche Halbinsel-
stadt erkennen läßt. Zu den Griechen kamen nun zum Teil ge-
waltsam hier angesiedelt christliche Armenier hinzu, die wohl
mindestens zu 150000 Seelen ganze Stadtteile bevölkern. Ferner
Juden, vorwiegend sogenannte Spaniolen, aus Spanien vertriebene,
die nach Charakter und körperlichen Eigenschaften unter allen
Juden wohl am höchsten zu stellen sind. Die große christlich-
abendländische, fast ganz italienische Kolonie, die die Türken
vorfanden, dürfte zum großen Teil vernichtet worden sein. An
ihre Stelle traten die sogenannten Levantiner, Nachkommen abend-
ländischer Christen, fast ausschließlich romanischen Stammes, die
lange Zeit als Vermittler zwischen Abendland und Morgenland
eine wichtige, wenn auch meist wenig rühmliche Rolle gespielt
haben, aber jetzt namentlich seit dem Krimkriege mehr und mehr
gegen den frischen Zustrom aus dem Abendlande zurücktreten.
In dieser europäischen Kolonie überwog früher die italienische
Sprache, die aber seit dem Krimkriege durch das Französische
etwas zurückgedrängt wurde, neben dem aber jetzt das Deutsche
und das Englische eine immer größere Rolle spielen.
Trotz des Sinkens der türkischen Macht ist Konstantinopel
durch Zuwanderung beständig gewachsen und wächst es noch
immer. In welcher Richtung, das schreibt die Lebensader der
Stadt, das Goldene Hom und der Bosporus vor. Schon in by-
zantinischer Zeit, da dem Wachstum landeinwärts die Entfernung
von dieser Lebensader Grenzen zog und wohl schon damals wie
heute außerhalb der großen Mauer nur noch von Gärten, mit
Zypressen bestandenen Friedhöfen und Einzelhäusern unterbroche-
nes offenes, steppenartiges Land sich ausdehnte, griff die Stadt
auf die Höhen über das Goldene Hörn hinüber, Pera, heute der
Sitz der europäischen Gesandtschaften, der europäischen Gast-
häuser u. dgl., zu dessen Füßen unten am Strande, in genuesi-
scher Zeit die Schififslände, Galata, sich zu einem wichtigen Stadt-
teile, dem Hauptsitze des Verkehrs entwickelte. Dazu erlangte
die kleinasiatische Ergänzung von Byzanz, ChrysopoUs, heute
Skutari, größere Bedeutung. Schon vor der Eroberung durch die
Türken war also Konstantinopel zu einer Dreistadt ausgewachsen,
allerdings unter Überwiegen der Halbinselstadt. Daneben waren
— 20 —
aber auch schon in byzantinischer Zeit die Ufer des Bosporus
weithin von Dörfern und Landhäusern besetzt, die in der Neuzeit
mehr und mehr miteinander verwachsen sind, so daß man unter
Konstantinopel als Wohnplatz jetzt neben Stambul alle die Städte,
ja zum Teil Großstädten zu vergleichenden Ortschaften am Gol-
denen Hom und am Bosporus verstehen muß, die sich auf dem
europäischen Ufer nordwärts bis Bujukdere, auf dem asiatischen
von KadikjÖi, das, neu und regelmäßig gebaut, nur von Euro-
päern und Griechen bewohnt ist, bis Beikos ausdehnen, die
Häuserreihen kaum hier und da und immer nur auf kurze
Strecken unterbrochen, wenn die Ufer zu steil sind. Um die
zahlreichen kleinen Buchten und in die Täler hinein, die alle
weithin mit wohlbewässerten Gärten gefüllt sind, dehnen sich die
Ortschaften um so weiter aus. Galata und Pera mit den heute
völlig damit verwachsenen Ortschaften Beschiktasch, Pankaldi,
Hankjiöi, der Judenstadt, und Halidj Oghlu kommen an Aus-
dehnung und wohl auch an Einwohnerzahl Stambul gleich. Auch
Skutari ist der Kern eines großen dicht besiedelten Wohnplatzes.
Am oberen Bosporus sind Therapia und Bujukdere, fast als
hätten sich an diesen herrlichen Buchten die Menschen vor be-
ginn des unwirtlichen Engtales gestaut, ansehnliche Städte. ,,Die
ganze 20 km lange Strecke von Konstantinopel bis Bujukdere
bildet eine einzige fortlaufende Stadt von Wohnungen und Lust-
häusem, Kiosken, Moscheen, Springbrunnen, Bädern und Kaffee-
häusern. Die Gärten steigen in Terrassen empor und die mäch-
tigen Zypressen der Begräbnisplätze krönen die Gipfel. Wenn
man längs der Ufer einen Quai ausgeführt hätte, so würde dieser
gewiß der schönste Spaziergang in der Welt sein. Die Reichen
und Mächtigen haben aber ihre Häuser und Gärten dicht an und
über dem Meere selbst haben wollen, und die schlecht gepflasterte
Straße zieht sich oft durch elende Hütten, durch Torwege und
zwischen hohen Mauern hin Oft nimmt der Weg plötzlich
eine Wendung, du stehst vor einer Moschee, neben einem Spring-
brunnen und unter mächtigen Platanen am klaren plätschernden
Strom des Bosporus Und zehn Minuten weiter von dieser
Szene des Lebens und Überflusses kannst du in eine weite,
menschenleere Einöde treten. Du darfst nur auf die höchste
Höhe hinaufsteigen, so liegt der thrakische Chersones, ein Hügel-
land vor dir, auf welchem du kein Dorf, keinen Baum, kaum
21
einen Weinberg, sondern nur einen steinigen Saumweg erblickst.
Der Fluch einer schlechten, habgierigen Verwaltung ruht auf
diesen Fluren, — Wie ein mächtiger Strom windet die Meerenge
sich durch lauter zusammenhängende Ortschaften, zwischen Pa-
lästen, Moscheen, Kirchen, Schlössern hindurch, zwei Meere ver-
bindend und zwei Weltteile trennend, sie bildet eigentlich die
Hauptstraße von Konstantinopel, wenn man unter dieser Benennung
das ganze Aggregat von Städten, Vorstädten und Ortschaften
versteht, in welchem 800 000 Menschen beisammen wohnen." So
drückte sich Moltke schon vor mehr als 60 Jahren aus. Noch
heute gilt die Schilderung im wesentlichen. Die Bevölkerung
dieses Groß - Konstantinopel kann man heute auf etwas über
1V4 Millionen Köpfe schätzen, wovon mehr als 100 000 auf das
asiatische Ufer kommen, ein Wachstum, das zwar gegenüber dem
der übrigen Großstädte Europas als langsam, aber in einem in
Verfall befindlichen Reiche bedeutungsvoll ist. Und die bunte
Mischung der sich auch schon im physischen Typus und in den
Trachten als überaus bunt zusammengesetzt erweisenden Bevöl-
kerung kennzeichnet auch ihrerseits die Weltstadt und die Haupt-
stadt eines noch immer über drei Erdteile ausgedehnten Reichs.
Die große Galata mit Stambul verbindende Brücke über das
Goldene Hörn, über die sich von Sonnenaufgang bis Sonnen-
untergang ein Strom von Menschen ergießt, bietet die beste Ge-
legenheit, das bunte Bild auf sich wirken zu lassen.
Zu der großen Ausdehnung der Stadt längs des Bosporus
haben neben dem Raumbedürfnis, den topographischen Verhält-
nissen, der Verkehrserleichterung auf dem Wasser vor allem auch,
wie schon Moltkes Schilderung erkeimen läßt, die wunderbaren
Reize beigetragen, mit denen die Natur diese Erdstelle über-
schüttet hat. Deri Seadet, die Pforte der Glückseligkeit, so nen-
nen die Türken ihr Konstantinopel. Diese Reize, das Vorhanden-
sein zahlreicher Punkte, welche mit rinnendem Wasser zur Anlage
von Springbrunnen, Bädern, üppigen, schattigen Gärten herrliche
Blicke boten und zur Anlage von Villen unmittelbar an dem
Ufer des nicht von Wellen und Gezeiten bewegten Meeres förm-
lich einluden, bestimmten die Sultane ihren Wohnsitz aus Stambul
an den Bosporus zu verlegen, wo sich nebeneinander, heute nur
notdürftig unterhalten, die Riesenpaläste von Dolmabaghtsche und
Tschiragan aus den Fluten erheben, während der jetzige Sultan
— 22 —
sich im Jildis Kiösk, inmitten weit ausgedehnter, ummauerter
Gärten am Talgehänge über Tschiragan und dem durch seine
auf einem Landvorsprunge gelegene schöne Moschee bekannten
Ortakjiöi einen neuen Wohnsitz schuf. Diesem Beispiele folgten
die Großen des Reichs und wer immer in der Lage war außer-
halb der Stadt, sei es auch nur im Sommer, zu wohnen, vor
allem auch die zahlreichen europäischen Gesandtschaften, mit
ihrem großen Personal, deren jede neben einem Palaste in Pera
einen meist inmitten großer Gärten oder am Meeresufer gelege-
nen Sommerpalast besitzt, besonders in Therapia und Bujukdere.
Jeder dieser großen Familien schloß sich meist eine von ihr ab-
hängige Gefolgschaft an. Die mit Rücksicht auf sie verbesserten
Verkehrsverhältnisse ermöglichten nun auch weniger Bemittelten
sich am Bosporus niederzulassen und so sind einige dieser Bos-
porusortschaften, am meisten wohl Kadikjiöi, geradezu zu Villen-
städten geworden, in denen die Familien untertags in Stambul,
Pera oder Galata, die dadurch den Charakter von Geschäfts-
stadtteilen anzunehmen beginnen, beschäftigter Beamter oder
Geschäftsleute wohnen. Das bedingt natürlich einen lebhaften
Verkehr, der sich nur in Stambul selbst, in Pera und der näch-
sten Umgebung aus den schon von Moltke angedeuteten Gründen
mit Hilfe von Pferde- bzw. elektrischen Bahnen vollzieht, sonst
allgemein zu Wasser mit ganzen Flotten kleiner Dampfer und
auf zahllosen sogenannten Ka'iks, kleinen Ruderboten mit scharfem
Kiel, die den ganzen Tag den Bosporus stromauf, stromab, von
Erdteil zu Erdteil durchfurchen. Aber zu ihnen gesellen sich,
um das Bild dieser einzigartigen, zugleich den herrlichsten Hafen
bildenden Wasserstraße noch weiter zu beleben, große und kleine
Segelschiffe, meist unter griechischer Flagge, und die größten
Seedampfer, deren Ziel entweder Konstantinopel selbst ist und
deren stets eine große Zahl am Eingänge ins Goldene Hörn vor
Galata ankert, oder die die Meerenge nach kurzem Aufenthalte, oft
auch ohne solchen durchfahren, einem ferneren Ziele zustrebend: der
Donaumündung, Odessa, Sebastopol, Taganrog, Batum oder Tra-
pezunt. Dazu ankert wenigstens im Sommer die türkische Kriegs-
flotte im Bosporus den Sultanspalästen gegenüber, heute freilich
mehr ein kostbares Spielzeug.
Die Stadtteile am Ausgange des Goldenen Homs sind die
Hauptsitze des geschäftlichen Lebens. Dort liegt ein Bazar und
— 23 —
viele Hans (Kaufhöfe), die Ministerien, die Hohe Pforte, die größten
Moscheen usw. Je weiter von ihnen entfernt, um so toter er-
scheint die Stadt, ganz besonders in den abgelegenen rein tür-
kischen Stadtteilen von Stambul längs der Stadtmauer. Weite
Flächen, die Stätten von Bränden, die bei dem Holzbau rasch
ganze Stadtteile vernichten, liegen dort unbebaut. Am Goldenen
Hom, ganz nahe der größten der drei nach Galata und auf die
Nordseite des Goldenen Homs führenden Brücken liegt auch der
Bahnhof, der Endpunkt der großen internationalen Linie, die von
hier — ein Erfolg, den dem Sultan abgerungen zu haben ans
Wunderbare grenzt — durch das alte Serai und durch die ganze
Stadt nahe dem Marmarameere führt und an der Südwestecke
der Stadt an dem Kastell der sieben Türme aus derselben
austritt.
Der Anblick und der Eindruck den die dreigeteilte Welt-
stadt auf den zur See von Süden Kommenden macht, das Häuser-
meer von Stambul mit den zahllosen, die Hügel krönenden hoch-
ragenden Kuppeln und Minarets der Moscheen, der von Schiffen
aller ^'ölker wimmelnde Bosporus und das Goldene Hörn, ist ein
einzig großartiger, nie wieder verwischter. Einen Sitz des Welt-
handels kann man Konstantinopel in der (Gegenwart freilich nicht
nennen, wenn es auch noch der erste Einfuhrhafen der Türkei
ist. Gewiß, die Stadt selbst und die Bedürfnisse ihrer Bewohner,
der Hof, das Heer, die Verwaltung des zentralisierten Staates
beleben schon einen bedeutenden Handel, sie ist auch Sitz und
Ausgangspunkt von Küstendampferlinien, die die Gestade des
Marmarameeres , des Archipels und des Schwarzen Meeres be-
dienen, aber das Wirtschaftsgebiet, das sie noch beherrscht,
Thrakien und das nördliche Kleinasien, ist klein und arm, Smyma
beeinträchtigt es in Kleinasien, Saloniki auch seinerseits im Brenn-
punkt einer die Erdteile verbindenden Verkehrslinie auf der
Halbinsel, Odessa im Schwarzen Meere. Den größten Teil des
Handels nach dem Schwarzen Meere sieht es ohne Umschlag zur
See vorüber ziehen. Freilich fehlt es auch noch vielfach an den
Anlagen, deren die Großschiffahrt der Neuzeit nicht entbehren
kann. Die große Masse der Bevölkerung von Konstantinopel,
besonders die türkische, ist arm und bedürfnislos bzw. nicht in
der Lage, solche zu befriedigen. Es fehlt an Unternehmungsgeist,
an Gewerbetätigkeit. Das heutige Konstantinopel macht seine
— 24 —
Eigenschaft als natürlicher und Verkehrsmittelpunkt eines un-
geheuren, an Hilfsquellen der verschiedensten Art reichen Länder-
gebiets wenig geltend. Es vermöchte sehr wohl der Sitz einer
bedeutenden Gewerbstätigkeit zu werden, denn Arbeitskräfte
und billige Nahrung sind in Fülle vorhanden, die Zufuhr von
Rohstoffen zur See billig, auch Brennstoffe vermöchte das nahe-
gelegene Kohlenvorkommen von Bender Eregli und Songoldak
an der Küste des Schwarzen Meerer in Bithynien billig zu
liefern.
So groß und wichtig, so vielseitig anziehend Konstantinopel auch
heute ist, seine relative Bedeutung ist eine geringere als in verschie-
denen Perioden seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte, aber
die Bedingungen sind noch immer vorhanden, daß seine Zukunft^
aber gewiß wieder in anderen Händen wie heute, eine der glän-
zendsten Zeit der Vergangenheit ebenbürdge werden kann. Aber
wie sich diese Zukunft in politischer Hinsicht gestalten wird, ver-
mag auch der kühnste Flug der Phantasie nicht zu enthüllen.
Als Hauptstadt eines Bulgarenreiches ist es nicht zu denken, wie
es überhaupt zu der südosteuropäischen Halbinsel allein zu ex-
zentrisch liegt. Es ist die natürliche Hauptstadt beider Halb-
inseln. Wer immer diesen einzigartigen Erdenfleck besitzen wird,
der wird auch wenigstens die benachbarten Gebiete beider Halb-
inseln und besonders die Gestadeländer des Marmarameeres
besitzen, oder die äußersten Anstrengungen machen müssen, um
sie zu erwerben.
2. Ein Ausflug von Konstantinopel zur Höhle
von Yarim-Burgas.O
So merkwürdige Gegensätze die Zeit mit ihrer rastlos nach
allen Seiten hin vordringenden Kultur und ihren Kulturraitteln
auch allenthalben und namentlich im Orient geschaffen hat, einen
größeren und drastischeren wird man kaum finden, als den von der
i) Aus: Die Natur. Zeitschrift zur Verbreitung naturw. Kenntnis.
Herausgegeben von Dr. Otto Ule u. Dr. Karl Müller von Halle. 8. u. 15. Jan.
1873. Nach Eröffnung der ersten Teilstrecke der Eisenbahnlinie Belgrad —
Konstantinopel zu Konstantinopel im Juli 1872 geschrieben.
— 25 —
neuen Eisenbahn in Konstantinopel gebotenen. Dicht am Goldenen
Hörn mit seinem Mastenwald, nahe an der großen Brücke, auf der
vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang eine unglaublich bunte
Menge, Vertreter aller Nationen des Orients und Okzidents, un-
ermüdlich herüber und hinüber wogt, unmittelbar neben und zum
Teil an der Stelle der alten, riesigen Mauer des Sera'i, des ehe-
maligen furchterregenden Sitzes der Sultane, vor denen Europa
zitterte, erhebt sich jetzt das neue (provisorische) Bahnhofsgebäude
von Sirkedschi Iskelessi. Es ist einfach im Äußern, aber be-
deutungsvoll als der Ausdruck der abendländischen Zivilisation,
die langsam, aber unaufhaltsam und mit immer beschleunigterem
Schritt auch am Gestade des Bosporus einzieht. Schon sind ihr
die ]\Iauern des Herrscherpalastes, aus dessen Toren einst die
Bestürmer Wiens auszogen, den Waffen der Kulturträger erlegen,
vielleicht ein Fingerzeig für das Schicksal, das dem ganzen Tür-
kentum bevorsteht. Es ist eine edle Rache Europas an den
asiatischen Barbaren, die einst in ungebrochener Naturkraft und
in religiösem Fanatismus so schwere Leiden und furchtbare Ge-
fahren über dasselbe heraufbeschworen. Die Religion ist es, die
noch am zähesten der von Westen kommenden friedlichen Um-
wälzung widersteht und den Staat der Osmanli aufrecht erhält.
Die alte und unscheinbare ^loschee, die noch immer mitten in
der Bahnhofsanlage, der selbst die Türme des Serai nicht wider-
standen, ihre alten Mauern trotzig erhebt, gibt dem deutlich Aus-
druck.
Recht eigentlich im Herzen des ungeheuren und vielgeglieder-
ten Städtekomplexes, der sich an beiden Ufern des Goldenen
Homes und des Bosporus wie an einem großen Kreuzwege lagert,
beginnt die Linie, die einst Orient und Okzident eng verbinden
wird. In einer glücklichen Stunde hat ihr der Padischah den
Durchgang durch die ausgedehnten Baulichkeiten und Gärten
gestattet, die, eine Stadt für sich, das Serai bilden. Jetzt hat er
dies zwar bereut, aber zu spät; dafür muß jetloch ein langer
Einschnitt, über den jetzt eine Brücke führt, in einen Tunnel
verwandelt werden, damit der Großherr, wenn er, von seinem
Palast von Dolmabaghtsche kommend, an der Sera'ispitze landet
und durch das Kanonentor in das Innere des Sera'i hinaufreitet,
nicht von dem Rauch und dem Lärm eines etwa durchgehenden
Zuges belästigt werde. Dieser Vorgang, dem sich unzählige
— 26 —
analoge anreihen ließen, ist bezeichnend für die „Prinzipien",
nach denen das osmanische Reich regiert wird. Dicht an der
Seraispitze vorbei zieht sich die Linie schön gewunden durch das
Serai, durchbricht dessen Mauern nochmals in der Nähe der Aja
Sophia und geht dann, immer dem Gestade des Marmarameeres
nahe bleibend, um dessen Buchten herum durch die ganze Stadt,
die sie an den „Sieben Türmen" erst verläßt, eine Strecke, die
man vom Goldenen Hörn her zu Fuß kaum in i^j^ Stunden zurück-
zulegen vermag.
Die Fahrt durch die Stadt ist sehr interessant; Geschichte
und Altertum, wie landschaftliche Schönheit tragen dazu bei.
Kaum hat man noch einen Blick auf das Gewimmel des Hafens
und das bergansteigende Häusergewirr von Galata und Pera ge-
worfen, so nimmt uns schon ein tiefer Einschnitt auf, und die
altersgrauen Bauwerke des Serai schauen von der Höhe auf uns
herab. Dann geht es vorbei an der Menagerie des Sultans, wo
man hundert der größten und schönsten Strauße beisammen sehen
kann, und zugleich eröffnet sich auch die herrlichste Aussicht
auf das Marmarameer, das sich, von weißen Segeln belebt, in
duftiger Bläue ausbreitet. Unfern erheben sich die lieblichen
Prinzeninseln, der Schaumgeborenen gleich, aus den Wogen,
Oxeias unwirtlicher Fels und Plateias romantisches Kastell, von
Lord Bulwer erbaut; dahinter, einer mächtigen Kulisse gleich,
der breite, weiß schimmernde Schneerücken des Olymp. Doch
rasch entzieht sich dem staunenden Auge dies feenhafte Panorama,
denn schon sind wir aus dem Serai hinaus, und Häuser oder
auch die altersschwachen, von den Wogen unermüdlich unter-
spülten Mauern, von denen einst griechisches Feuer auf die
Schiffe der stürmenden Araber herabregnete, verdecken die Aus-
sicht. Der moderne Bau des Finanzministeriums mit seiner mäch-
tigen Säulenhalle und die schlanken und doch kräftigen Minarets
der Aja Sophia und Achmedje, wie Wachen um die hohen
Kuppelgewölbe gestellt, ziehen rechts auf der Höhe das Auge
an. Auch die hohe, einst mit Goldblech bekleidete Säule des
Hippodrom, um welche die blutigen Kämpfe der Zirkusparteien
wüteten, ragt, eine traurige Ruine, über Häuser und Trümmer
der Gegenwart empor.
Rechts und links erheben sich die hölzernen Häuser, die
mit ihrer bloßgelegten Rückseite einen ergötzlichen Einblick in
— 27 —
die liebliche Unordnung und Natürlichkeit eines türkischen oder
armenischen Hauses gestatten. Hier und da kommt man an den
Trümmern und bloßgelegten Fundamenten alter Bauten vorbei,
oder eine von der Eisenbahn in die Mauern gerissene Bresche
gestattet den Überblick über das Meer. Bald durcheilen wir
auch den Wlanga-Bostan , den in Gärten verwandelten hom-
förmigen Hafen des Theodosius, und an der Stelle, wo einst
Galeeren ankerten, fliegt jetzt das Dampfroß durch üppige
Gemüsebeete dahin. Der im Altertum Lykos jetzt Tschajyr
genannte kleine Bach, der unter der alten Stadtmauer hin-
durch in die Stadt eintritt und, oft unter Häusern versteckt,
das flache Tal durchfließt, das die wellige Hochfläche von Stam-
bul gliedert, bewässert dieselben. Er hat wohl auch den Hafen
verlandet.
Am äußersten Südwestende von Stambul, nahe an der ver-
fallenen sog. Veste der „Sieben Türme" und nach ihr Yedi-Kule
genannt, ist die Station, von der aus bereits seit Februar 1870
«ine Strecke von drei Meilen, bis Kutschuk-Tchekmedsche, dem
Verkehr übergeben war. Sie liegt hoch auf dem steilen Meeres-
ufer und bietet eine herrliche Aussicht. Auch außerhalb der
Mauer geht die Fahrt immer am Gestade entlang; die malerisch-
gigantische Mauer von Stambul zieht sich weithin über die Höhe
zum Goldenen Hörn hinüber, während man am Meere an Ma-
krykjöi und Sankt Stephano, den Sommerfrischen der Griechen,
vorüberkommt. Sankt Stephano (seitdem durch den hier von
den Russen diktierten kurzlebigen Frieden vom 3. März 1878
bekannt geworden), ganz von Griechen bewohnt, liegt mit seineu
stattlichen Häusern mitten in Gärten, und von den Türmen
seiner ansehnlichen Kirchen schallen die Glocken, zur Messe
rufend. Auch Sankt Floria, ein großes Landgut des Sultans, ist
schön gelegen. Landeinwärts ziehen sich weite Getreidefelder,
schlecht bearbeitet wie man sieht, und, obwohl wir erst den
15. Juli zählen, nur noch die Stoppeln zeigend. Hunderte von
Störchen suchen auf ihnen ihre Nahrung.
Bei Kutschuk-Tschekmedsche wendet sich die Eisenbahn
ins Innere des Landes, dem Ufer der Lagune entlang, die sich,
einst der Jagdgrund Omer Paschas, der an ihrem westlichen
Gestade sein großes Landgut AUbeykjöi hatte, etwa sechs Kilo-
meter weit ins Land hineinzieht. Dieser Strandsee ist einer
— 28 —
schmalen Schublade gleich ins Land hineingeschoben^) und hängt
durch einen so engen Kanal mit dem Meer zusammen, daß
eine ehemals durch ein Tor gesperrte Brücke darüber führt. (Es
ist ein echter Liman-See, eine vom Meere überflutete und durch
eine Nehrung, das Werk der Brandung und Küstenversetzung,
geschlossene Flußmündung.) Am Ende des Sees, wo ein nicht
unbeträchtlicher Fluß, von den Eingeborenen kurzweg Tundschai
(kaltes Wasser) genannt, einströmt, liegt unter einer herrlichen
Baumgruppe der einsame Polizeiposten von Yarim-Burgas (Halb-
Burgas). Unser Zug, der erste, der zur Probe so weit fuhr, hielt,
und wir stiegen aus, um uns zunächst für die noch kommenden
Strapazen mit einem vortreß"Iichen Mahle zu stärken, das wir aus
unserm Hotel in Pera mitgeführt hatten. Es reichte nicht nur
für unsere aus sieben Personen bestehende Gesellschaft, sondern
auch für die fünf Saptiehs des Postens, die, an Brot und Zwie-
beln gewöhnt, noch nie so lukullisch gespeist hatten. Bieder
und freundlich, wie alle Türken niederen Standes, besonders in
der Provinz, ließen sie sich trotz ihrer zerfetzten und schmutzigen
Uniformen mit der Würde und dem Anstände eines Königs von
ihren Gästen, den unbekannten Giaurs, bewirten, ihrerseits mit
einem trefflichen Kaffee aufwartend, dem einzigen Genuß neben
dem Tschibuk, den diese Naturkinder kennen. Im Schatten einer
riesigen Platane waren wir gelagert, doch nicht allzunahe; denn
auf derselben hatten ein Storchenpaar und Tausende von Sperlingen
ihr Quartier aufgeschlagen, deren Nester alle Zweige bedeckten
und sogar ringsherum in das Storchennest hineingebaut waren.
Der ganze Wachtposten liegt sehr einsam und befindet sich
mit seinen Insassen in dem bekannten verwahrlosten Zustande,
der alle dem Staate gehörige Einrichtungen außerhalb Konstan-
tinopels auszeichnet. Ein steinernes Wachthaus und ein elender,
halb in Trümmern liegender Han gerade gegenüber waren die
ganzen Baulichkeiten. Ein gut erhaltener Brunnen fehlte nicht.
Es galt von hier aus zu Fuß das Ziel unseres Ausflugs, eine
neuentdeckte Höhle zu erreichen. Einer der Saptiehs fand sich
bereit, uns nach der eine halbe Stunde entfernten Höhle zu
i) Daher der Name. Kutschuk (d. h. klein), im Gegensatz zu Bujuk-
Tschekmedsche (große Schublade), einem ganz ähnlichen Strandsee etwas
weiter nach Westen.
— 29 —
begleiten. Es war ein Veteran von mindestens 60 Jahren, ein
Araber von kräftiger, hoher Gestalt und dem Anstand eines
Königs. Er verkürzte uns den Weg durch Erzählungen aus
seinen Feldzügen, namentlich gegen die Ägypter in Syrien, vor
30 Jahren, wobei er mit Stolz des Aga Moltke erwähnte, den er
oft begleitet hatte.
Der Weg führte auf einer wohl noch der Römerzeit an-
gehörigen gepflasterten Straße im Tale des Tundschai hinauf,
das sich bei der Höhle ziemlich verengt und mit seinen pitto-
resken Kalkfelswänden eine ganz hübsche Landschaft bildet, der
nur der gänzliche Mangel an Menschen und menschlichen Woh-
nungen den Charakter der Verlassenheit gibt. Dicht am Wege
sprudelt eine klare und kühle Quelle von beträchtUcher Stärke
aus dem eozänen Kalkgebirge, das hier beginnt. Sie dürfte der
zutage tretende, in ein tieferes Niveau getretene unterirdische
Wasserlauf sein, der die Höhle erzeugt hat. Omer Pascha, der
Feldherr des Krimkrieges, hat sie in ein Becken fassen lassen,
und Mustapha, unser alter Araber, war sofort mit der Volkssage
bei der Hand, die er natürlich als unzweifelhafte Wahrheit vor-
trug, daß das Wasser aus der Donau komme und unter dem
ganzen Balkan durchgehe. Derartige Sagen gehen übrigens in
Thrakien von fast allen mit größerer Stärke aus dem Kalkgebirge
hervorbrechenden Quellen.
Nahe dabei an der rechten Talwand und am linken Ufer
der Tundschai sind die beiden Eingänge zu der Höhle, der eine
in geringer Höhe über der Talsohle, der andere etwas höher,
etwa 25 m über derselben. Ein breiter und hoher Gang führt
geradeaus in den Berg hinein, etwa 40 m lang, verengt sich
dann, während ein breiter Eingang rechts in einen großen, min-
destens 4 m höher liegenden Saal hinaufgeht. Derselbe hat in
der größten Breite nach meiner ungefähren Messung 12 m , ist
30 m lang und in der Mitte 13 bis 14 m hoch; er ist fast bis
in den Hintergrund hell erleuchtet, da er vom eine 8 bis 9 m
breite und 6 m hohe Öffnung gegen das Tal hat. Diese große
Halle ist im ganzen ein Werk der Natur; aber in ihrem vorderen
Teile finden sich überall Spuren von Menschenhand, so nament-
lich an der Südseite, dem unterirdischen Eingang schräg gegen-
über, drei in den weichen Kalkfelsen gehauene Nischen. Die
erste und größte, deren Öffnung an der Basis etwa 5 m Weite
— 30 —
hat, hat ganz die Form einer Apsis, und im Hintergrunde der-
selben sind drei Sitzreihen eingehauen, die amphitheatralisch auf-
steigen, aber so niedrig und schmal sind, daß 15 Personen, für
die der Platz hinreichen würde, höchst unbequem sitzen mußten.
In der Mitte befindet sich ein größerer und höherer Sitz. Neben
dieser Nische und mit ihr durch einen i m breiten, 2 m hohen
und ebenso langen Gang verbunden, befindet sich eine kleinere
viereckio-e Nische, in deren Hintergrunde eine Art Altar aus dem
Felsen gehauen ist. In der Wand sieht man Löcher, worin viel-
leicht Balken zum Verschluß der Nischen befestigt waren, wäh-
rend andere ähnliche Löcher höher oben, sowie breite Einschnitte
bis gegen die Decke hinauf darauf hindeuten, daß die Grotte
durch Scheidewände in mehrere Abteilungen zerfiel. Auch an
der Decke erkennt man Spuren menschlicher Arbeit, da dieselbe
vier Aushöhlungen in der Gestalt eines Kuppelgewölbes zeigt,
während die Grotte in der Mitte sich zu einer hohen, offenbar
aber natürlichen, ziemlich spitz zulaufenden Kuppel emporschwingt.
Eine fünfte, den vier kleineren entsprechende Wölbung ganz an
der weiten, vorderen Öffnung ist mit der Decke, wie es scheint,
gewaltsam zerstört.
Ganz im Hintergrund der Halle ist in einiger Höhe und
durch Stufen zugänglich ein viereckiger Block oder Sitz aus-
gehauen, und ein tiefes und enges Loch führt in den Felsen
hinein. Der Boden ist dick mit altem Schafmist bedeckt, und
die Decke hier und da, namentlich vorn, von Rauch geschwärzt,
von Inschriften jedoch keine Spur.
Auch außerhalb der Höhle sieht man an den Felsen mannig-
fach, am häufigsten nach der Quelle hin, Spuren von mensch-
licher Arbeit: ausgehauene Terrassen, Reste von Treppen, Riste
und Balkenlöcher, als ob ein Haus schräg an den Felsen angebaut
gewesen wäre u. dgl.
Wozu nun das Ganze gedient, dürfte schwer zu bestimmen
sein; vielleicht gelingt es einmal einem Archäologen von Fach,
der ohne Lieblingsideen und Vorurteile die Grotte untersucht,
das Rätsel zu lösen. Dieselbe war bisher den Konstantinopler
wie den abendländischen Gelehrten, soviel ich weiß, unbekannt,
und ich kenne daher nur zwei Meinungen über ihre Bedeutung.
Die eine ist die des Herrn von Hochstetter, der im Sommer
1869, als er für die Zwecke der türkischen Eisenbahngesellschaft
— 31 —
die Balkanhalbinsel durchreiste, auch der Sankt Georgshöhle, so
nennen die Griechen dieselbe, einen flüchtigen Besuch abstattete.
Er vermutet, sie habe als geheime Kultstätte der ersten Christen
gedient. Dem widerspricht aber der Umstand, daß unsere ganze
Reisegesellschaft, obwohl sie Ähnliches erwartet und daher eifrig
danach gesucht hat, auch nicht das geringste, darauf hindeutende
Abzeichen, ein Kreuz oder dergleichen, entdeckt hat. Die ganze
Anlage hat durchaus keinen christlichen Charakter. Die andere
mir bekannte Ansicht ist die des Dr. Dethier, eines seit 30 Jah-
ren in Konstantinopel ansässigen deutschen Gelehrten, der um
die Erforschung der dortigen Altertümer manches Verdienst hat,
in diesem Falle aber die Neigung erkennen läßt, gewisse Lieb-
lingsideen überall verwirklicht zu sehen. Er findet nämlich in
dieser Grotte, die er in unserer Gesellschaft besucht hat, eine
Opferstätte von Phalbauern, die, zu den von Troja an den Stry-
mon auswandernden Päoniern gehörig (so interpretiert er Hero-
dots Angabe), auf dem Durchzuge an der nahen Lagune von
Kutschuk-Tschekmedsche sitzen blieben. Es bedarf wohl zur
Würdigung dieser Theorie kaum noch der Bemerkung, daß man
von dortigen Pfahlbauten noch nicht die geringste Spur ent-
deckt hat.
So viel scheint mir indessen klar zu sein, daß man in der
Tat eine Kult- und Opferstätte vor sich hat, und zwar eine heid-
nische, vielleicht sogar einen Orakelsitz der Thraker. Darauf
mag der erhöhte Sitz im Hintergrunde der Höhle mit dem Loch
im Felsen hinweisen, während in der amphitheatralischen halb-
runden Nische die Priesterschaft ihre Sitze hatte, den Oberpriester
in der Mitte, und durch den Gang mit den in der viereckigen
Nebengrotte Opfernden in Verkehr stehend.
Dies möge über die große Halle genügen. Ich hatte schon
erwähnt, daß der untere Gang an der Stelle, wo man rechts in
jene hinaufsteigt, sich bedeutend verengt, und zwar zu einer
Breite von 2 und einer Höhe von i\'^ m. Gleich darauf er-
weitert er sich aber wieder, und die eigentliche innere Höhle
beginnt mit einer imposanten, 16 bis 17 m breiten und etwa
25 m hohen Wölbung, deren Stalaktiten, von bengalischem Feuer
beleuchtet, magisch erglänzten. ^lit allem zu einer solchen Ex-
pedition Nötigen versehen, drangen wir vor; ein Matrose des in
Konstantinopel stationierten französischen Kriegsschiffs, dessen
— 32 —
Kommandeur in unserer Gesellschaft war, war mit Feuerwerk,
Tauen und langen Leinen beladen, während wir selbst Signal-
pfeifen und Wachskerzen führten.
Nach dieser ersten Erweiterung nahe am Eingang verengt
sich die Galerie sofort wieder und wird so eng, daß die frag-
lichen Benutzer der Höhle, wenn nicht erst Omer Pascha, in der
Mitte einen zwei Fuß tiefen und ebenso breiten Gang in den
Boden gehauen haben, um aufrecht gehen zu können. Der Weg
steigt mehr und mehr, und an einer Stelle, etwa ^4 Stunde vom
Eingange, war ich überrascht, an einer Seitenwand neben einer
etwas älteren, völlig unleserhch gewordenen lateinischen Inschrift
mit deutschen Buchstaben in den weichen Kalkstein eingekratzt
zu lesen: ,, Ziegler 181 1". So weit ist also schon in diesem
Jahre allem Anschein nach ein Landsmann vorgedrungen. Nach
40 Minuten Gehens zweigte sich links steil abwärts ein unzugäng-
licher Hühlenraum ab, gleich darauf ein zweiter. Nach einigem
Steigen erreichten wir eine große Halle, wo der Weg sich gabelt,
imd wir die Galerie rechts einschlugen. Bis hierher war unser
biederer Mustapha an der Spitze marschiert, fast unaufhörUch
mit sonorer, klangvoller Stimme Gebete aus dem Koran singend,
zur Verscheuchung der bösen Geister. So weit kannte er das
Terrain; als wir aber noch weiter vordrangen, verzichtete er auf
die Führerschaft und schloß sich dem Ende des Zuges an,
um dem Padischah das Leben seines besten Saptiehs nicht zu
gefährden. Schöne Tropfsteinbildungen zeigten sich an den
Wänden und an der Decke, Säulen ragten empor, eine mitten
in der Galerie und gegen 8 m hoch, i bis 2 Fuß stark, bis zur
Decke reichend. Bald hörten wir in der Ferne ein schrilles
Pfeifen, das, je mehr wir vorrückten, immer lauter ertönte, und
schließlich umschwärmten uns Tausende von Fledermäusen, welche
Wände und Decke schwarz bedeckten. Der Glanz unseres ben-
galischen Feuers scheuchte sie noch mehr auf, und so zahlreich
umschwärmten sie uns, daß man nur die Hand auszustrecken
brauchte, um eine zu fassen. Schon war unserm Vordringen ein
Ziel gesetzt, denn die Höhle verengte sich plötzlich so, daß man
auf Händen und Füßen hätte weiterkriechen müssen. Dazu
war niemand von der Gesellschaft geneigt, obwohl ich überzeugt
bin, daß der Gang sich bald wieder erweiterte, denn viele Fleder-
mäuse kamen aus der engen Öffnung hervor. Außerdem war
— 33 ~
aber der Rauch so dick geworden, daß man nur noch mit Mühe
atmete. Ein schneller Rückzug war daher unvermeidlich, und wir
konnten nicht feststellen, ob die Höhle, wie Mustapha mit ernster
Miene erzählte, wirklich bis Stambul geht. Bald erreichten wir den
Kreuzweg wieder und schlugen nun den anderen Gang ein, der,
beständig aufwärts steigend, der allgemeinen Richtung der Höhle
nach Süden folgt. Nach kurzem Wandern erreichten wir das
Ende desselben, das nur kriechend erreichbar war, und wo ich
eine durch den Felsen sich drängende abgestorbene Baumwurzel
fand, also ein sicheres Zeichen, daß wir der Erdoberfläche an
diesem höchsten Punkte der Höhle nicht fern waren. Die Tem-
peratur war auch überall eine hohe und nie unter 1 5 ** R.
Nachdem wir Vaterland und Jahreszahl mit unsern Kerzen
an die Decke gemalt, traten wir den Rückweg an, auf dem
deutsche Volkslieder, von einem jungen englischen Diplomaten
angestimmt, Mustaphas Geistergesänge ersetzten. Auch an Zwi-
schenfällen hatte es nicht gefehlt; denn oft genug fiel man in ein
tiefes, mit Wasser oder Schlamm gefülltes Loch oder rutschte
auf dem schlüpfrigen Fledermausguano, der dicht den Boden
bedeckte, einen Abhang hinab. Omer Pascha, als erfahrener
Landwirt, hat viel davon hinausschaffen und als Dünger ver-
wenden lassen; man sah noch hier und da zusammengeworfene
Haufen.
Bis zum fernsten Punkte, den wir erreicht, mochten es etwa
50 Minuten Weges sein, und nach zweistündigem Aufenthalt im
Innern der Höhle traten wir wieder an das Tageslicht. Wir
kehrten nach Yarim-Burgas zurück, wo auch unser Zug, der noch
bis ans Ende der fertiggestellten Linie, nach Tschataldsche, ge-
fahren war, nicht lange auf sich warten ließ und uns nach Kon-
stantinopel zurückbrachte.
3. Landschaftsbilder von der bithynischen Riviera.^)
Will man im Grient das Schöne suchen, so gibt es nur zwei
Wege, entweder man muß sich an die dürftigen Reste des Alter-
tums halten, soviel ihrer Zeit und Barbaren gelassen, oder aber,
l) Das Ausland. Hersg. von Fr. von Hellwald. Augsburg 14. Okt.
1874. Es ist anziehend mit der vorliegenden die Schilderung zu vergleichen,
Fischer, Mittelmeerbilder. 3
— 34 —
und das ist das sicherere, an die Natur, die hier so prächtig wie
nur irgendwo ihre Tempel erbaut hat. Die Menschen der Neu-
zeit haben nichts zu dem Bau beigetragen, nur zu seiner Zer-
störung. Jahrhunderte lang haben sie daran gearbeitet, täglich
noch arbeiten sie daran, und der an den Anblick sorgfältiger
Pflege und Unterstützung der Natur gewöhnte Nordländer hat
Mühe sich über die tägliche Vernichtung, die nie etwas Neues,
selbst wenn es nicht besser und schöner wäre, dafür schafft,
hinwegzusetzen, und der Freude an dem noch vorhandenen Ein-
gang zu verschaffen.
Und es ist noch herrlich genug was übrig geblieben! Füge
hinzu, was die Vergangenheit auf jedem Schritt dem Kundigen
erzählt, und die Gegenwart an Neuem, Ungewohntem bietet, und
der Orient wird vor deinem erstaunten Auge liegen wie ein
offenes Buch in mächtigen halbverwischten und schwer zu deuten-
den Charakteren, die mit jedem neuen Aufschlagen immer ver-
ständlicher werden, immer neue Geheimnisse enthüllen, neue Ge-
nüsse bringen.
Einen der schönsten und anziehendsten Ausflüge, die man
von Konstantinopel, das jemand eine vor die Säue geworfene
Perle genannt hat, aus machen kann, ist der in den Golf von
Ismid. Schreiber dieses hat denselben, da er bislang nur zu
Wasser möglich ist, auf der „Sefa", einem kleinen einem Italiener
gehörigen Dampfer in einer internationalen Gesellschaft gemacht,
wie sie Konstantinopel in allen Schichten der Bevölkerung kenn-
zeichnet, was den Reiz einer solchen Fahrt nur erhöhen kann.
Aus dem Bosporus ausgelaufen, hielten wir uns immer nahe
an der asiatischen Küste, wo jenseits Skutari auf der Höhe des
Ufers der Riesenbau der Selimieh Kischla, wohl die größte Ka-
serne der Welt, von vier hohen schlanken Türmen flankiert, sich
erhebt. Ihr gegenüber das große Militärhospital von Haider
Pascha, und vor demselbem der englische Friedhof mit dem
schönen Obelisken, der, ein Denkmal des während des Krim-
krieges hier ihren Wunden erlegenen englischen Soldaten, uns
auch an manchen verlorenen Sohn Deutschlands erinnert. Eine
welche General v. d. Goltz ein Vierteljahrhundert später von der bithynischen
Riviera und dem Golfe von Ismid gegeben hat, auf dessen noch immer nicht
gewürdigte Naturschönheiten auch er nachdrücklich hinweist. Anabolische
Ausflüge. Berlin 1896. S. 73 ff. u. 372 ff.
OD
geräumige Bucht wird jetzt durchschnitten, in deren Hintergrund
man die Arbeiten zu der Anlage eines Hafens, und unter Bäumen
versteckt das noch nicht ganz beendete Stationsgebäude der
neuen Eisenbahn erblickt. Jenseits zieht sich die Höhen hinauf
der düstere Zypressenwald des großen Friedhofes von Skutari.
Doch nicht lange haftet das Auge an diesem Totenhaine, denn
schon liegt auf einem hohen Plateau weit ins ]\Ieer vorgestreckt
Kadi-kjöi vor uns, das alte Chalkedon, jetzt wieder zur schönsten
Stadt am Marmarameer emporgeblüht, fast ganz von Griechen
bewohnt, deren schmucke, luftige Häuser freundlich herüber-
schauen, der letzte Vorort von Konstantinopel nach Süden hin.
Dann eine neue Bucht und ein neues Vorgebirge, Fener Burnu
(Leuchtturmspitze) von seinem hohen Leuchtturm so genannt, der
sich vor einem Wald von Platanen, Therebinten, Zypressen und
Pinien erhebt, dem Belustigungsort der Chalkedonier. Hier stand
einst ein römischer Kaiserpalast und ein Tempel der Aphrodite.
Hier kann man noch heute an einem Sonn- oder Festage Grie-
chinnen sehen, die, wie einst eine ihrer Ahnen, würdig wären
als Modell einer Aphrodite zu chenen. Denn was man auch
immer, und meist mit Recht, von der Entartung der Griechen am
Bosporus (wenn man diese Byzantiner Grieclien nennen darf)
anführen mag, das eine wird man nicht leugnen können, daß sie
wohl infolge der beständigen und starken Zuwanderung von Insel-
griechen noch immer die hohen Körpervorzüge der Hellenen zu
Phidias' Zeit besitzen, und an geistiger Begabung alle übrigen
Völkerschaften des türkischen Reiches weit hinter sich lassen.
Das ganze Ufer von Skutari an bietet einen herrlichen An-
blick. Üppig grüne Gärten, wo, neben Aprikose und Pfirsich,
Mandeln und köstliche Feigen reifen, wechseln ab mit reich ge-
segneten Rebengeländen und gelben Getreidefeldern, bis fem auf
den Höhen steiniger Boden und Mangel an Wasser jeden Acker-
bau unmöglich machen. (Die Eisenbahn hat hier ganze Villen-
siedelungen entstehen lassen.) Buchten schneiden in das Land
ein, und mehrere kleine Eilande unfern der Küste, steil aus der
Flut emporsteigend, und schon in ihren Fundamenten unter-
waschen, deuten darauf hin, daß hier die Wellen eine reiche
Beute gemacht haben. Bis nach den Prinzeninseln bemerkt man
geringe Tiefe und aufragende Klippen. Das größte dieser Land-
trümmer — es sind die Fortunas genannten Klippen — war
3*
— 36 -
bebaut, und sein sanft nach Norden abgedachter Rücken trug
einen Wein- und Obstgarten, in dessen Mitte sich ein Erdhügel
erhob, die Wohnstätte des einsamen Menschenkindes, das auf
dieser Klippe haust; unten unter dem überhängenden Felsen lag
ein kleiner Nachen, ein schwaches Brett, das den Einsiedler mit
der Welt verbindet.
Wald findet man an dieser Küste nicht; die einst hier hau-
sende Zivilisation hat ihn schon vor einem Jahrtausend vielleicht
verschlungen, und die Trägheit und Beschränktheit der Bewohner
läßt keinen wieder aufkommen. Aber üppiges Buschwerk von
Eichen, Arbutus, Lorbeer und Myrthen, und andern aromatischen
Sträuchem der mediterranen Buschvegetation (Macchien) bedeckt
die unbebauten Hänge. Nur zu oft wird es niedergehauen,
um als einziges dürftiges Feuerungsmaterial zu dienen. Nur von
Obstbäumen umgeben strecken sich die Ortschaften am Ufer hin,
Kartal und Pendik die bedeutendsten , die Höhen dahinter sind
kahl und verbrannt. Pendik ist das alte Panteichion, der Lieb-
lingsaufenthalt Belisars, der hier ein Landgut hatte, und von
seinen Feldzügen ausruhte, wie uns Prokop von Cäsarea erzählt.
Etwas nördlich davon, der Insel Proti gerade gegenüber, erhebt
sich über dem gleichnamigen Städtchen unten am Strande der
400 m hohe Maltepe, nächst dem nahen Kaisch Dagh der letzte
hohe Berg der bithynischen Halbinsel gegen Konstantinopel hin,
bei den Byzantinern Auxeneis genannt, nach einem Einsiedler,
der hier ein Kloster errichtete, dessen Trümmer man noch am
Nordwestabhang erblickt. Zugleich war aber diese Höhe auch
die letzte Station des berühmten Feuertelegraphen, den unter
dem Kaiser Theophilos (833 — 842) der große Mathematiker und
Astronom Leo einrichtete, und der auf einer Höhe bei Tarsus
in Kilikien beginnend, in kurzer Zeit nach Konstantinopel meldete,
wenn die Araber die Reichsgrenzen überschritten.
Von Pendik südostwärts beginnt eine reichere Gliederung
der Küste, kleine Halbinseln, Tuz Burnu, Ütsch Burnu, strecken
sich vor und am Yelken Kaya Burnu nimmt die bis dahin Süd-
ost streichende Küste Ostrichtung an und man fährt in den
Busen von Ismid, den Sinus Astacenus der Alten ein, der sich
in einer Länge von gegen 48, und einer Breite von etwa 5 km,
sich aber zuletzt auf 2 — 3 verengend, genau von Westen nach
Osten in das Land hinein erstreckt; jetzt so genannt nach der
— 37 —
dürftigen und von Fiebern heimgesuchten Stadt Ismid oder Is
kimid, dem alten prächtigen Nikomedia, dem Sitze der Auguste
und Cäsaren des Ostens, mit dessen Glänze Kriege, Barbaren,
Perser und Türken gründlich aufgeräumt haben.
Dieser Golf, fast einem Binnensee gleich, ist einer der
schönsten der Welt, und die Herrscher von Byzanz wußten ihn
wohl zu schätzen, denn sie bauten sich hier Lustschlösser und
hielten sich oft dort auf. Biegt man um das Kap Yelken Kaya,
wo ein mächtiger Felsblock, einem zertrümmerten Turm nicht
unähnlich, sich aus den Fluten als VVogenbrecher erhebt, so
öifnet sich eine herrliche Aussicht in das Innere des Meerbusens.
Auch die Natur nimmt einen andern Charakter an; der Hang
des langsam aufsteigenden, dem Süden zugekehrten Gebirges,
auf der letzten Strecke jenseits des Vorgebirges ohne alle Kultur,
ist gut angebaut und prangt im Grün der Reben, untermischt
mit graugrünen Olivengärten, die hier herrlich gedeihen und
reichen Ertrag liefern. Bald erreicht man den Ort Aritsu, von
den Türken Daridja genannt, der sich am Ufer malerisch hinauf-
zieht, einzelne Häuser förmlich am Felsen hängend, der Hafen
von zahlreichen Küsten- und Fischerfahrzeugen belebt. Nur
Griechen wohnen hier, und die ehemalige ^Moschee liegt in
Trümmern, ihr Minareh, halb zerfallen, schimmert zwischen dem
Grün der Platanen und Nußbäume hervor. Ohne viele Arbeit
nährt der Ertrag der Öl- und Weingärten die Bewohner. Das
Obst und die Trauben von Aritsu sind berühmt und werden
nach Konstantinopel und im ganzen Marmarameer versandt; nur
wenig wird gekeltert, obwohl der Wein einen sehr angenehmen
Geschmack und Feuer hat, dem am Neusiedlersee wachsenden
ähnlich. Eine reiche Einnahmequelle ist auch der Fischfang,
namentlich im Mai, wo große Massen StavTiden, ein der Makrele
ähnlicher, aber weit kleinerer Fisch, in den Golf kommen, und
zu Millionen mit leichter Mühe gefangen werden. Eingesalzen
und getrocknet bilden sie überall am Marmarameer und im
Archipel einen gangbaren Handelsartikel.
Nicht weit nach Nordosten von Daridja, im Innern des
Landes, liegt der kleine Ort Ghebisseh, Lybissa bei den Alten,
Dakivyza bei den Byzantinern, einst ein wichtiger Rastpunkt des
Karawanenhandels. Hier fand Hannibal, der unermüdliche Kämpfer
für seines Vaterlandes Größe und Freiheit, den selbstgewählten
- 38 -
Tod, der ihn endlich, fern von der Heimat, der unerbittlichen
Rache der Römer entzog. Hier fristete auch der arme Knabe
Johannes Laskaris, der Erbe von Byzanz, sein trauriges Dasein,
nachdem Michael Paläologos für sich selbst die Stadt den Latei-
nern entrissen und ihn geblendet hierher verwiesen hatte. Unten
am Gestade, weiter ostwärts, lagen die berühmten warmen Bäder
von Polopythia. Warme Quellen sind zu beiden Seiten des Golfs
Ismid, wohl an die Bruchlinien gebunden, auf welchen der Golf
liegt, häufig genug. Die Quellen sind im Laufe der Zeit ver-
schwunden, und es ist schwer die Lage von Polopythia zu be-
stimmen. Nach Stephan von Byzanz lag es aber an der Nord-
küste, nicht weit vom Eingang in den Busen, und Prokop
berichtet, daß sich Justinian nahe dabei einen Palast erbaute.
Trümmer eines solchen finden sich nun in der Tat auf einem
Hügel am Meeresufer, 4 km östlich von Daridja, an einem Orte,
der noch heute von den Türken Eski Serai oder Eski Hissar
(alter Palast, altes Schloß), bei den Griechen Paläokastro genannt
wird.^) Es ist ein großes Viereck aus einem äußern, dem Meere
zugeneigten Teile, und einem inneren, höher liegenden bestehend.
Das Ganze zeigt feste Mauern, mit viereckigen und runden Tür-
men, die noch immer 10 bis 13 ra hoch sind und sehr wohl auf
die Zeit Justinians zurückgehen können. In der Nähe der Ruine,
an der Mündung eines Tales, liegt jetzt ein kleiner Ort von
wenigen Häusern, aber es ist um so wahrscheinlicher, daß hier
die Bäder von Polopythia und der Palast Justinians zu suchen
sind, da die Gegend in der Tat schöner ist als irgend ein Punkt
der Nordküste vom Yelken K^ya Bumu bis Ismid. An der West-
seite des Ruinenhügels öffnet sich nämlich ein ziemlich weites
von Ghebisseh herabkommendes Tal, durch das sich ein Bach
schlängelt und das noch heute üppige Vegetation und gute Kul-
tur zeigt. Weit zieht es sich, allmählich flacher werdend, in das
Land hinein, und im Hintergrunde erhebt sich auf einer Anhöhe
das Landhaus des Großveziers Edhem Pascha. Einen neuen,
eigentümlichen, mit Hannibal und Justinian nicht recht zu ver-
einigenden Reiz gewinnt die Gegend durch eine schöne Brücke, die
noch im Bau ist und über welche die Eisenbahn von Skutari nach
Ismid führen wird. Auf festen, schlanken Pfeilern, aus rotem und
l) V. d. Goltz gibt S. 375 ein Bild der Ruine.
— 39 —
grauem Marmor, der sich hier überall in Masse findet, über-
schreitet sie das Tal in kühner Höhe, um sich jenseits in einem
Einschnitt zu verlieren.
Verfolgt man die Linie, so kommt man nach einem zwei-
stündigen, bei der Gluthitze eines Mittags im Juni in dieser
Gegend nicht gerade erquickenden Spaziergange an einen Punkt,
welcher der schwierigste, aber auch der schönste des ganzen
Baues ist. Die Eisenbahnlinie zieht sich nämlich von ihrem An-
fang, zwischen Skutari und Kadi-kjöi an immer am Meere ent-
lang, was, beiläufig bemerkt, nicht gerade von ungewöhnlicher
Klugheit zeugt, insofern sie Orte verbindet, die zur See schon
durch eine regelmäßige Dampferlinie dem Verkehr erschlossen
sind, während bei ebenso geringen Bauhindemissen im Innern
weit größere Vorteile erreicht werden würden. Hinter Kartal
zieht sie sich etwas ins Innere, bis sie hinter Daridja den Golf
von Ismid erreicht und an demselben in bedeutender Höhe
hinzieht.
An dem erwähnten Punkte schiebt sich ein breiter Rücken
ins Meer vor, der durch einen Einschnitt von 15 m Tiefe durch-
schnitten wird. Hier hatte ich ein unerwartetes Zusammentreffen
mit einem englischen Ingenieur, einem alten Bekannten, mit dem
ich ein paar Monate früher auf der Donau gereist war, und der
den Bau dieser Strecke leitete. Er kehrte damals gerade von
einer großen Weltreise zurück, auf der er auf der Überfahrt von
Buenos Aires Schiffbruch gelitten und sich im Rettungsgürtel
anderthalb Tage auf dem Meere herumgetrieben hatte. Jetzt
fand ich ihn hier wieder, wie er eben beschäftigt war, an diesem
schönen Punkte seine Baracke zu bauen, die zugleich, ein sonder-
bares Zusammentreffen, das Hauptquartier des Bauabschnitts
Deutschland ist. Die Strecken der Linie sind nämlich nach den
einzelnen Staaten benannt und durch Zufall oder Spielerei grenzen
auch hier Frankreich und Deutschland aneinander. Und unter
den Beamten und Arbeitern welches Völkergemisch! Der erste
Aufseher meines Bekannten war ein Korse, der zweite ein Ita-
liener; in einer Baracke, die als Schmiede diente, befand sich
ein alter Grieche, der seine Familie mitgebracht und mit seinem
Kinde, einem reizenden kleinen Mädchen, spielte, ein merk-
würdiger Kontrast zu dieser Umgebung. Gruppen von Arbeitern
standen und lagen umher, denn es war Sonntag, wo nur die
— 40 —
wenigen Türken arbeiteten. Die meisten Arbeiter waren Kroaten,
aus dem türkischen Kroatien, knochige, sonnenverbrannte Ge-
stalten, mit verschlagenen Gesichtern, den Fez oder die Mütze
aus Schaffell auf dem Kopfe, in ihrer grauen, aus dem bekannten
filzartigen Stoffe gefertigten nationalen Kleidung. Andere Gruppen
waren von Türken gebildet, die während ihrer Mittagsruhe ihre
Zigarette oder ihren Tschibuck rauchten, wieder andere, Griechen,
unterhielten sich mit Diskuswerfen, wobei ihnen ein glatter, runder
Stein als Diskus diente, den sie mit großer Geschicklichkeit und
Treffsicherheit handhabten: ein Spiel, das, wie das Ringen, bei
den Griechen am Bosporus noch viel geübt wird. Noch andere
waren dabei, aus Steinen und Reisig Hütten zu bauen, die bei
dem schlechten Material elend genug ausfielen, oder sie stellten
die durch einen heftigen Regen in der letzten Nacht durch-
weichten wieder her. Die trockneten ihre durchnäßten Kleider
und Decken, die kochten ihr aus Bohnen und anderem Gemüse,
ohne Fleisch, bestehendes Mahl, und nicht wenige lagen, je nach
dem Geschmack, in ihren Löchern oder in der Mittagssonne,
und schliefen den Schlaf des Gerechten, der einem Menschen
zu gönnen ist, der in diesem Klima von 4Y2 Uhr morgens bis
7 Uhr abend mit 2^3 Stunde Ruhe dazwischen gearbeitet hat.
Alle aber verhielten sich still und friedlich, keine Spirituosen,
kein Lärm und Geschrei, so daß dieses Lager von gar nicht oder
halb zivilisierten Pionieren der Kultur an dieser einsamen Küste
Asiens ein interessantes und angenehmes Bild darbot.
Und nun die Umgebung! Auf der einen Seite, landeinwärts,
ein langsam aufsteigender Hang, Gestrüppe von Myrthen und
Kirschlorbeer, mit Felsblöcken durchsäet, hier und da eine Gruppe
von Ölbäumen, aber nirgends ein Dorf oder eine feste mensch-
liche Wohnung. Die ganze Küste ist hier weithin menschenleer.
Den Hang zum Meere hinab bedeckt ein Weingarten mit saftig-
grünen Reben voller Trauben, daneben senkt sich eine Schlucht
zum Meere, das hier eine kleine Bucht bildet, in der unser
Dampfer unser harrt. Zu unsern Füßen der Golf, den hier zwei
Vorgebirge noch mehr zum Binnensee machen. Das eine, Kaba
Bumu, fällt von Norden als steiler Felsen ins Meer, das andere,
eine schmale Landzunge, die sich von Süden als ein grüner
Streifen weit in die blauen Wogen hineinstreckt und auf der
äußersten Spitze ein weiß schimmerndes Leuchthaus trägt, Dii
— 41 —
Bumu, der Schuttkegel des Yalak Dere, der, aus einem Engtale
hervorbrechend, einen dreieckigen sumpfigen Halbinselvorsprung
so weit vorgeschoben hat, daß sich der Golf hier auf 2y, km
verengt. Unabsehbar zieht sich der Golf nach Osten, am Hori-
zont sich blau in blau mit dem Himmel vermischend. Im Süden
und Südosten aber erheben sich mächtige Berge, die westlichsten
Ausläufer der westpontischen Ketten, die, vom Sakaria (dem
Sangarius der Alten) durchbrochen, sich am Boz Burnu, dem
alten Posidium, ins Marmarameer stürzen, an ihrem Nordhange
vom Golf von Ismid und dem Marmarameere, am Südhange vom
Isnik Göl (See von Askania) und dem Busen von INIudania (von
Kius) bespült. Es ist der Samanly Dagh und der Göl Dagh
(Arpanthanius) nach ungefährer Schätzung mindestens 3 — 4000
Fuß hoch, hinter denen sich jenseits des von den Quellen durch-
rieselten paradiesischen Tales von Brussa der schneeige breite
Rücken des Olymp erhebt, eine Landschaft, die sich mit solchem
Hintergrunde, mit ihren Wellenlinien, ihren Tälern und Wäldern,
ihren stürzenden Bächen im Inneren, ihren schönsten Farben-
mischungen mit mancher unserer Alpenansichten und Landschaften
messen kann.
In der Tat, schon dieser eine Punkt würde die Reise von
Konstantinopel hierher lohnen, aber die ganze Gegend ist dem
entsprechend, und die Fahrt nach Ismid wird, sobald die Eisen-
bahnlinie beendet ist, durch ihre Naturschönheiten reichlichen
Genuß bieten. Auf der ersten Strecke bietet sie den Blick auf
die Prinzeninseln, das Marmarameer und seine südlichen Gestade,
auf der andern über den Golf und die blauen Gebirge.
Schon sind umfassende Vorarbeiten durch unsern verdienst-
vollen Landsmann Pressel, jetzt im Dienste der türkischen Regie-
rung, und seine geschickten Ingenieure, zum Weiterbau der Bahn
bis Angora gemacht, wunderbar ausgeführte Pläne der haupt-
sächlichsten Städte im Iimem Kleinasiens sind fertig und werden
bei ihrer künftigen Veröffentlichung von der deutschen Wissen-
schaft mit Freuden begrüßt werden. Nicht lange mehr wird es
dauern, bis der Schienenweg den eilenden Reisenden von den
Ufern des Bosporus in das Herz der Halbinsel führt, und ein
neues Glied der eisernen Kette angefügt ist, die Europa mit
Indien verbinden, verwahrloste Länder der Kultur zurückgeben
Avird. Dann wird der Okzidentale, nachdem er den Bosporus
— 42 —
bei Skutari auf einer Brücke überschritten, die dauernder sein
wird als die des Dareios bei Rumeli Hissar, am Golfe von Ismid
mit Staunen seinen Einzug halten in das Märchen- und Wunder-
land Asien.
Therapia am Bosporus, im Juli 1872.
4. Die geographische und ethnographische Unterlage
der orientalischen Frage.')
Als Oskar Peschel, den wir nach A. von Humboldt und
K. Ritter als den Neubegründer der geographischen Wissenschaft
in Deutschland verehren, im Frühjahr 1871 seine Vorlesungen
über europäische Staatenkunde auf dem neu begründeten Lehr-
stuhle für Geographie, dem ersten in Deutschland, an der Uni-
versität Leipzig eröffnete, stellte er als letztes Ziel derselben hin:
das Verständnis der Zeitgeschichte, Er sprach die Hoffnung aus,
daß seine Zuhörer, namentlich etwaige zukünftige Staatsmänner
oder Volksvertreter unter ihnen, alle aber als Wähler und Zei-
tungsleser der Zeitgeschichte besseres Verständnis entgegenbringen
und beispielsweise die orientalische Frage mit ganz anderen
Augen ansehen würden als vorher, so daß sie, wenn sie den
Beruf dazu fühlten, als Publizisten — Peschel war selbst jahr-
zehntelang ein hervorragender und einflußreicher Publizist ge-
wesen — ein ernstes Wort mitsprechen könnten. Peschel war
also der Meinung, daß für einen Staatsmann, für einen Volks-
vertreter, für einen Zeitungsschreiber, ja für jeden gebildeten
Zeitungsleser eine gründlichere geographische Vorbildung nötig
sei. Heute, nach zwanzig Jahren, ist dies Wort noch weit zu-
treffender, denn die Welt ist seitdem noch viel kleiner geworden,
die Wege des Weltverkehrs kürzer, seine Mittel wirkungsvoller;
unterseeische Kabel verbinden uns heute nicht nur mit den ver-
schiedenen Teilen der Neuen Welt, der Ostrand der Alten, die
Südspitze Afrikas, das antipodische Neu-Seeland sind uns auf
Stunden nahe gerückt; die innersten Geheimnisse der gewaltigsten
Festlandsmassen von Asien und Afrika sind uns erschlossen; ja
der bis vor kurzem dunkle Erdteil spielt in der europäischen
Politik eine große, geradezu gefährliche Rolle! Er beschäftigt
l) Erschienen in der Deutschen Rundschau Oktober 1891
— 43 —
seit jähren die Staatsmänner fast ganz Europas und hat die ein-
sichtsvollsten, vaterlandsliebendsten Kreise einzelner Länder schon
wiederholt in die höchste Erregung versetzt. Nicht nur fließen
heute Nachrichten der verschiedensten Art und von den ent-
legendsten Erdgegenden, oft von entscheidender Wichtigkeit, täg-
lich dem gebildeten Zeitungsleser zu und bleiben bei ungenügen-
den geographischen Kenntnissen gänzlich ohne Verständnis,
nein, auf jeden einzelnen von uns üben jene Länder mit ihren
Stoffen und Kräften, häufig ohne daß wir es merken, bei dem
riesig entwickelten Weltverkehr ihren Einfluß aus; die Völker
schaffen sich heute in Gegenden, die vor kurzem kaum dem
Namen nach bekannt waren, neue Machtmittel, die bei der Ent-
scheidung europäischer Fragen in die Wagschale geworfen werden.
Täglich tritt daher an uns die Mahnung heran, unsere Kenntnis
der Erde und ihrer Völker zu erweitem und zu vertiefen! Aber
nicht bloß etwa die Kenntnis fremder Erdteile, wie dies vor
Icurzem noch mit Vorliebe geschah. Beim Zunächstliegenden, bei
der Heimat, beim eigenen Vaterlande muß man beginnen; denn
der Staat stellt heute Anforderungen an die Person und das Gut
jedes Staatsbürgers, denen zu entsprechen es einer großen, nicht
nur im Herzen, sondern auch im Verstände begründeten Vater-
landsliebe bedarf. Und ohne Kenntnis des \'aterlandes, nicht
nur seiner Geschichte, sondern seiner ganzen Landesnatur ist
eine tiefer begründete Vaterlandsliebe nicht denkbar. Um aber
die Geschichte unseres Vaterlandes zu verstehen, bedarf es auch
einer Kenntnis seiner Weltstellung, seiner Beziehungen zu fast
allen Ländern und Völkern Europas, denn fast alle haben wir
zu unmittelbaren Grenznachbam. Genau aus denselben Gesichts-
punkten, aus denen mit Recht bei den Beratungen über die
Verbesserung des preußischen Unterrichtswesens größeres Gewicht
auf die Pflege unserer Sprache und der Geschichte unseres Vater-
landes gelegt worden ist, müßte dies auch mit der Geographie
der Fall sein. Leider scheint diese Überzeugung aber bis heute
noch nicht durchgedrungen zu sein.
Wie vor zwanzig Jahren ist auch heute noch die von Peschel
als Beispiel angeführte orientalische Frage die brennendste Frage
der europäischen Politik. Die seitdem ganz außerordentlich fort-
geschrittene Kenntnis der südosteuropäischen Halbinsel, die darum
als wichtigster Gegenstand der Verhandlungen auf der neunten
— 44 —
Tagung der deutschen Geographen zu Wien in der Osterwoche
1891 angesetzt worden war, hat auch unser Verständnis der
orientalischen Frage wesentlich vertieft, und wir wollen daher ver-
suchen auf Grund jener auch unseren Lesern dieses näher zu
rücken.
Man versteht gewöhnlich, um es kurz zu sagen, unter der
orientalischen Frage die Gestaltung der Geschicke der südost-
europäischen und der kleinasiatischen Halbinsel und ihrer Be-
wohner, namentlich des türkischen Staats und Volks. Vor allem
gibt es eine orientalische Frage nicht erst seit hundert Jahren,
fast jede Periode der Geschichte hat eine solche gehabt. Die
Eroberung Konstantinopels durch die Türken, die unter den Er-
eignissen aufgezählt wird, von welchen an man den Beginn der
neuen Zeit datiert, was ist sie anders, als die nach Jahrhunderte
langen Kämpfen für ein halbes Jahrtausend gelöste orientalische
Frage? Der Umstand, daß dieselben Gegenden immer erneut
den Hauptbrennpunkt der europäischen Politik bilden, muß sofort
die Vermutung wachrufen, daß bei dieser Erscheinung geographische
Gesetze mitspielen, die der Mensch wohl zeitweilig außer Kraft
setzen, aber niemals ganz aufheben kann. In der Tat herrschen
in jener Erdgegend geographische und, durch sie bedingt, ethno-
graphische Verhältnisse, welche dieselbe naturnotwendig immer
wieder zu einem Herde bald nur die Umgebung, bald weitere
Kreise in Mitleidenschaft ziehender Beunruhigung machen müssen.
Die südosteuropäische, oder wie man sie meist noch immer,
einen seit einem halben Jahrhundert widerlegten Irrtum verewigend,
nennt: die Balkanhalbinsel steht zu Kleinasien in den engsten
geographischen, geschichtlichen und politischen Beziehungen. Keine
der beiden Halbinseln besitzt für sich eine zentrale, beherrschende
Landschaft, einen Punkt, an welchem sich die natürliche Haupt-
stadt, geographisch begünstigt, entwickeln könnte; beiden ist Kon-
stantinopel die gemeinsame natürliche Hauptstadt, neben welcher
nur noch Mittelpunkte kleiner Sonderlandschaften in Betracht
kommen; keine der beiden vermag für sich allein eine politische
Einheit zu bilden und hat jemals in der Geschichte eine solche
gebildet. Nur als Glied des großen Weltreichs der Römer ist
die europäische Südosthalbinsel politisch geeint gewesen und sonst
nie mehr. Der Grund dazu ist in geographischen Verhältnissen
zu suchen. Sie besteht, die Grundzüge ihrer beiden südeuropäischen
— 45 —
Schwesterhalbinseln in sich vereinigend, aus zwei nach Entstehung,
innerem Bau, Oberflächengestaltung und Beziehungen zu den Be-
wohnern grundverschiedenen Teilen: dem illyrisch-griechischen
Faltenland im Westen, dem rumelischen Schollenland im Osten.
Die kleinere schmale Westhälfte, Griechenland, Albanien, Monte-
negro, Herzegowina, Bosnien und Dalmatien, besteht aus lauter
langgestreckten, schmalen, einander parallelen Bergzügen, welche
in südöstlicher und südsüdöstlicher Richtung streichen und noch
in den drei Spitzen der Peloponnes zu erkennen sind. Dieselben
sind dadurch entstanden, daß durch seitlichen Druck die ober-
sten, vorwiegend aus Kalksteinen der Kreide- und der älteren
Tertiärformation bestehenden Schichten der festen Erdkruste zu-
sammengeschoben, zusammen- oder eraporgefaltet wurden. Dies
ganze Gebiet trägt überall mehr oder weniger den Charakter
eines Karstlandes; arm an Wasser und Ackererde, felsig, rauh,
schwer zugänglich, bildet es einen breiten Wall, welcher die Adria
vom Innern und Osten der Halbinsel scheidet. Montenegro, das
sog. Sandschak Novipazar, ein Teil von Bosnien und der Herze-
gowina bilden dort ein im Mittel etwa looo m hohes rauhes,
von tiefen Flußtälern zerschnittenes Karsthochland von etwa
30000 qkm Flächeninhalt, das ausgedehnteste Hochland von
dieser Höhe in Europa. Wenig anlockend, verschlossen nach
außen, wenig wegsam im Innern, arm an Hilfsquellen und Be-
wohnern, reich an kleinen Sonderlandschaften und natürlichen
festen Zufluchtsstätten bildet das ganze illjTisch-griechische Falten-
land bis nach Atollen und Arkadien südwärts ein Gebiet des
Verharrens, ein Gebiet geringer Veränderlichkeit der Zustände,
wo sich besiegte Völker, wie die Serben in Montenegro, die
Albanesen und Zinzaren zu behaupten und ihre nationale Eigen-
art in die Gegenwart hinein zu retten vermochten. Nur dem
Schutz ihrer unwirtlichen Berge verdanken es die bis heute kultur-
losen Albanesen, die Nachkommen der alten Illyrier und wohl
neben Basken und Kelten das älteste Volk Europas, daß sie in
römischer Zeit nicht romanisiert, im Mittelalter nicht slawisiert,
seitdem nicht turkisiert wurden. Urväterliche Sitten und Ein-
richtungen haben sich bei ihnen erhalten; wie vor dreitausend
Jahren befahren sie noch heute ihren nationalen Fluß, den Drin, auf
aufgeblasenen Ziegenhäuten ; noch heute besitzen sie keine nationale
Schrift. Albanien ist heute das unbekannteste Land Europas.
- 46 -
Diesem illyrisch-griechischen Faltenlande steht die größere
Osthälfte der Halbinsel mit ganz anderen Verhältnissen gegen-
über, Sie bildet, der iberischen Halbinsel vergleichbar, mit vor-
wiegend westöstlicher Erstreckung zwischen der Donau und dem
Archipel den ältesten Teil der Halbinsel, eine alte Urgebirgs-
scholle, deren Oberfläche in späteren geologischen Zeiten durch
Bildung zahlreicher Bruchlinien, welche die ganze Scholle zer-
stückten, reicher ausgestaltet worden ist. Faltung spielt hier eine
ganz untergeordnete Rolle. Durch solche Bruchlinien und auf
denselben erfolgende Vertikalverschiebungen der einzelnen Schollen-
trümmer bildeten sich die Gebirge dieses Teiles der Halbinsel,
die Rhodope, ein um looo m über die Umgebung aufragendes
Urgebirgsmassiv , die Gebirge Makedoniens und Serbiens. Nur
im Balkan tritt uns ein wenn auch 600 km langer, so doch nur
30 km breiter gefalteter Landgürtel entgegen, dessen Faltenzüge
aber auch nach Norden in die ungefaltete bulgarische Kreidetafel
übergehen. Wie in Bulgarien, so sind auch in Thrakien und
anderwärts Teile der Scholle später wieder vom Meer und den
sich in demselben ablagernden Sedimenten bedeckt worden, wäh-
rend auf den Bruchlinien lange Zeit eine große vulkanische
Tätigkeit, von welcher noch heute zahlreiche heiße Quellen
zeugen, Trachytgesteine, bald in großen Decken, bald in Kegeln,
an zahlreichen Punkten und in großer Ausdehnung zutage
förderte.
Ganz anders geartet ist also die geologische Geschichte
dieses Teiles der Halbinsel, ganz anders daher sein innerer Bau,
ganz anders demnach sind auch seine Oberflächenformen, seine
Bodenarten und Wasseradern, demnach auch die Beziehungen
des Landes zum Menschen, seine Geschichte. Das rumelische
Schollenland ist aufgebaut aus einer überaus großen Mannigfaltig-
keit der Formationen und Felsarten, von den ältesten eruptiven
und sedimentären bis zu den jüngsten; es wird daher gekenn-
zeichnet durch eine große Mannigfaltigkeit der Bodenarten unter
Vorkommen fruchtbarster junger vulkanischer und jüngster Schwemm-
gebilde. Auch an inneren Schätzen ist es reich; im Mittelalter
gehörte es zu den reichsten Bergbaugebieten Europas und hat
vielleicht als solches noch eine große Zukunft. Vorwiegend ge-
birgig, aber mit Gebirgen von mäßiger Höhe, ist es doch, im
wesentlichen, weil Faltung hier nur als Nebenerscheinung in
— 47 —
Betracht kommt, überall wegsam, reich an offenen Landschaften,
fast überall bewohnbar, ja dichter Besiedlung fähig. Die Auf-
geschlossenheit nach allen Seiten, die Leichtigkeit des Verkehrs,
die ^Möglichkeit der Verdichtung der Bevölkerung und der Bil-
dung von Großstädten, raschere und höhere Kulturentwicklung,
größere geschichtliche Bedeutung kennzeichnen das ruraelische
Schollenland gegenüber dem illyrisch-griechischen Faltenlande.
Dasselbe ist ein Gebiet der Bewegung, der Veränderlichkeit der
Zustände, ja selbst der ethnographischen Verhältnisse wie kein
anderes Gebiet Europas. Dort im Westen verharrt alles in Ruhe,
hier ist alles in beständigem Fluß und Bewegung; dort findet
sich — selbst vom Westen des durch spätere Bewegungen der
festen Erdkruste zertrümmerten, reicher ausgestalteten und da-
durch individualisierten Griechenland gilt dies — keine geschicht-
lich wichtigere, keine Großstadt; von dort ist keine die Mensch-^
heit beeinflussende Leistung ausgegangen; hier dagegen ent-
wickelten sich in Vergangenheit und Gegenwart, noch mehr
gewiß in einer überaus verheißungsvollen Zukunft, mehrere Punkte
zu Brennpunkten geschichtlichen Interesses und der Gesittung:
Belgrad, Nisch, Salonichi, Philippopel, Adrianopel, Konstantinopel.
Alle großen geschichtlichen Ereignisse der Halbinsel vollziehen
sich auf dem Boden des rumelischen Schollenlandes.
Der wichtigste geographische Faktor jenes Landes ist seine
Oberflächengestaltung. Diese wird hier gekennzeichnet durch das
Auftreten einer großen Zahl von Kesseltälern, tiefen mit jüngerem
Schwemmland gefüllten, meist elliptischen Becken, die von hohen
Bergen umwallt diesem Teile der Halbinsel ein schachbrettartiges
Ansehen geben. Diese Kesseltäler sind wohl meist als auf jenen
Bruchlinien entstandene, nur in einzelnen Fällen als auf Aus-
laugung zurückzuführende Einsturzkessel aufzufassen; viele von
ihnen besitzen noch heiße Mineralquellen, künftige Badeörter.
Die meisten waren lange Zeit von Seen gefüllt, die aber heute
bis auf wenige in Makedonien von den Flüssen entwässert sind,
die sich in engen, meist ungangbaren Schluchten, wie der Isker
aus dem Becken von Sofia durch den Balkan, einen Ausweg ge-
bahnt haben. Doch sind manche noch sumpfig, und in einigen
stauen sich in regenreichen Zeiten die Gewässer vor den engen
Ausflußschluchten zu Seen an. Bei ihrer großen Zahl kann keines
von hervorragender Größe sein; schwer über Gebirge miteinander
- 48 -
verkehrend, kann auch keines die Rolle einer zentralen beherr-
schenden Landschaft spielen. Eine solche fehlt also der Halb-
insel und damit auch eine Grundbedingung einer großen politischen
Einheit. Es fördern diese Kesseltäler, indem sie der Entwicklung
zahlreicher Punkte als Mittelpunkte kleiner Sonderlandschaften
günstig sind, vielmehr die politische Zersplitterung. Das Kessel-
tal von Sofia z. B., der jetzt so viel genannten, rasch aufblühen-
den Hauptstadt Bulgariens, eines der größeren und begünstigteren,
hat bei der immerhin beträchtlichen und ein im Winter recht
rauhes Klima hervorrufenden Meereshöhe von 550 m eine Größe
von nur 290 qkm, so viel wie das Gebiet von Lübeck! Dabei
unterhält dasselbe leichteren Verkehr, aber auch da noch über
Pässe von 726 bzw. 745 m Höhe, nur nach Nordwest, gegen
Serbien und die Donau, und nach Südost, gegen Thrakien, den
Archipel und den Bosporus. Durch jene Bruchlinien und Kessel-
täler sind nun aber auch die Flüsse in ihrer Entwicklung und
Laufrichtung beeinflußt, und ihnen müssen naturnotwendig in
einem Gebirgslande, als welches die Halbinsel in ihrer Gesamt-
heit erscheint, auch die Verkehrswege folgen. In dieser Hinsicht
ist von entscheidender Wichtigkeit das Vorhandensein von zwei
die ganze Halbinsel, aber innerhalb des rumelischen Schollen-
landes, durchsetzenden Furchen, die eine in meridionaler, die
andere in diagonaler Richtung. Der großen Meridionalfurche
folgen die Morawa zur Donau, der Vardar zum Archipel, in der
Diagonalfurche entwickelt sich der größte selbständige Fluß der
Halbinsel, die Maritza, die an Lauflänge unserm Main entspricht.
Beide Furchen vereinigen sich im Becken von Nisch, das daher
eines der wichtigsten Knotenpunkte des Verkehrs und eines der
Hauptschlachtfelder der Halbinsel ist. Die Meridionalfurche, in
welcher man in der Talwasserscheide von Preschowo, ohne es
zu merken, in nur 500 m Meereshöhe aus dem Gebiet der
Donau in das des Archipels gelangt, folgt heute schon die wich-
tige Eisenbahnlinie Belgrad-Saloniki, die sich in Dampferlinien
nach Kleinasien, Syrien, Ägypten und durch den Suezkanal nach
Süd- und Südostasien wie nach Ostafrika fortsetzt, heute schon
die kürzeste Linie von Mitteleuropa nach jenen Ländern, die zu
ihrer vollen Entwicklung nur noch größere Schnelligkeit der Eisen-
bahnzüge und Hafenbauten in Saloniki erfordert. Sie wird da-
nach in kurzem eine der wichtigsten Verkehrslinien der Erde
— 49 —
werden, namentlich für unser Vaterland. Der Diagonalfurche
folgt die Eisenbahn Belgrad-Konstantinopel, die in weiterer Zu-
kunft, wenn sie durch Kleinasien fortgesetzt sein wird — deutscher
Unternehmungsgeist und deutsches Geld schaffen bekanntlich eben
diese Fortsetzung — der kürzeste Weg nach Indien sein wird.
Beide Linien setzen sich längs der Donau über Pest und Wien
bis in das Herz von Mitteleuropa fort, und die südosteuropäische
Halbinsel erscheint so mit Kleinasien als eine große Landbrücke,
welche die Festlandsmassen von Europa und Asien mit ihren
dicht gedrängten Volksmassen verbindet. Nur durch den Salz-
wasserstrom des Bosporus, der an seiner engsten Stelle wenig
breiter ist als der Rhein bei Mainz, voneinander getrennt, bilden
die beiden Halbinseln Hälften eines Ganzen; beide, und in höhe-
rem Maße die europäische Südosthalbinsel, tragen so den Cha-
rakter von Durchgangsbrücken des Weltverkehrs, d. h. von Län-
dern, auf welche Einfluß auszuüben, alle Kulturvölker bemüht
sein müssen. Damit ist eine der geographischen Grundlagen der
orientalischen Frage gegeben, welche sofort erkennen läßt, daß
auch das Deutsche Reich, trotz eines gegenteiligen Ausspruches
unsers großen Staatsmannes, in hohem Grade von der Lösung
derselben berührt wird.
Die Wichtigkeit jener beiden Verkehrswege prägt sich auch
darin aus, daß alle eben genannten Großstädte der Halbinsel an
derselben hegen. Außer jenen beiden bildet aber an der Nord-
grenze entlang die Donau eine dritte große Verkehrslinie, die
von dem hohen bulgarischen Ufer völlig beherrscht wird, ja in
der abkürzenden Eisenbahnlinie Rustschuk-Varna die Halbinsel
selbst schneidet. Eine vierte internationale Verkehrslinie lief im
Altertum, zum Teil auch noch im Mittelalter, als Via Egnatia
der Donaulinie am Südrande der Halbinsel parallel von Kon-
stantinopel über Saloniki nach Durazzo und von da über die
Adria nach Italien. Heute verödet, wird auch diese Linie in
nicht femer Zukunft wieder große Bedeutung erlangen; dieselbe
deutsche Gesellschaft, welche die kleinasiatischen Bahnen baut,
hat auch bereits den Bau der Linie Saloniki-Monastir in Angriff
genommen, d. h. die Umwandlung des auch für den örtlichen
Verkehr wichtigsten Stückes der Via Egnatia in einen Verkehrs-
weg der Neuzeit. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die
große Verkehrslinie von Triest und Venedig nach Ägypten und
Fischer, Mittelmeerbilder. 4
— 50 —
weiter unter der hohen Westseite der Halbinsel hinläuft, wie die
Linie Odessa-Konstantinopel an der Ostseite. Vor allem aber:
diese zuletzt genannte Linie, die Linie Belgrad-Konstantinopel,
die alte Via Egnatia, die Donaustraße mit der Seitenstraße Rust-
schuk-Varna, ja alle Verkehrswege des Schwarzen und Kaspischen
Meeres von Südrußland bis nach Turkestan und Nordpersien am
Nordrande Kleinasiens entlang, alle Wege nach und durch Klein-
asien nach Persien, Mesopotamien, Syrien, Indien und Arabien
verknoten sich radienförmig zusammenlaufend in dem einen Kon-
stantinopel, das für sich allein manches Königreich aufwiegt. Seit
griechischer Zeit ist Konstantinopel durch alle geschichtlichen
Wechselfälle hindurch eine der größten Welthandelsstädte ge-
wesen und wird es in Zukunft in höherem Maße als jemals wer-
den. Die ungeheure Lebenskraft dieses Punktes prägt sich am
besten darin aus, daß der tiefe Verfall des byzantinischen und in
der Gegenwart des türkischen Reiches, die Volkszahl, die Han-
delstätigkeit, die ganze Bedeutung von Konstantinopel nicht zu
beeinflussen vermocht hat. Als die Tatkraft der Byzantiner zu
erlahmen begann, traten an ihre Stelle in ihrer Hauptstadt selbst,
fast als Herren des Staates, die Italiener. Byzanz gegenüber
blühte die italienische Schiffslände Galata empor, deren gewaltige
Mauern und Türme es noch heute als eine Stadt in der Stadt
erkennen lassen. Genau so ist mit dem Verfall der Türkenmacht
in unserm Jahrhundert, aber namentlich seit dem Krimkriege,
Stambul gegenüber das europäische Pera über dem mittelalter-
Galata emporgewachsen. Aller Handel und Verkehr, alle Geld-
mittel liegen in den Händen der 1 30 000 dort, und heute schon
über Pera hinaus, angesiedelten Angehörigen fast aller Nationen
Europas, die gleich den Genuesen des Mittelalters auf ihre Vor-
rechte und ihre politischen Vertreter gestützt, einen Staat im
Staate bilden.
In herrlicher Umgebung, an einem Salzwasserstrome gelegen,
der, zwei Meere und ihre Gestadeländer verbindend, unserm
Rheine vielfach, auch an landschaftlichen Reizen ähnlich ist, im
buchtenreichen Bosporus und im Goldenen Hörn im Besitz eines
Hafens, welcher alle Flotten der Welt aufzunehmen vermöchte,
ist die Lage dieser Stadt auf der Grenze zweier Erdteile geradezu
einzig. Dazu kommt noch die natürliche Festigkeit dieses Punk-
tes, der mitten zwischen Meer- und Landengen gelegen ist. Die
_ 51 —
Engen des Bosporus im Norden, der Dardanellen im Süden sind
leicht zu sperren; im Osten, von wo bisher die Gefahr seltener
gedroht hat, gilt das gleiche von dem Eingange in die bithy-
nische Halbinsel bei Ismid; noch größer ist die natürliche Festig-
keit im häufiger und heftiger bedrohten Westen auf der Wurzel
der thrakischen Halbinsel, die sich dort zwischen den von Nor-
den und von Süden eingreifenden Strand- (Liman-) Seen von Ter-
kos und Groß-Tschekmedsche auf 25 km verengt. Dort liegt die
Wasserscheide nahe dem Schwarzen Meere, und von derselben
rinnt in tief eingeschnittenem, steilwandigem Tale trägen Laufes
mit versumpften Ufern ein danach benanntes Schwarzwasser (Ka-
rasu) zu dem letztgenannten See, mit diesem eine natürliche Ver-
teidigungsstellung schaffend, die unser Landsmann Blum Pascha
1877 durch eine Reihe 1879 noch verstärkter Vesten fast un-»
bezwinglich gemacht hat. So fast unnahbar, hat Konstantinopel
an den Gestaden des Marmarameeres ein ausgedehntes, an Hilfs-
quellen reiches Gebiet zur Verfügung, das lange Zeit seine
800000 (jetzt 1V4 Mill.) Einwohner zu ernähren vermag. Auch
darin prägen sich die engen Beziehungen beider Schwesterhalb-
inseln aus, daß ihre gemeinsame Hauptstadt in Europa gelegen
ist, ihre unmittelbaren Lebensadern aber in Kleinasien hat; denn
von Thrakien ist sie durch weite Steppe getrennt, die dort das
neue Rom menschenleer und öde umschließt, faßt wie die Cam-
pagna das alte. Konstantinopel ist ein überaus wertvoller, aber
schwer zu erringender Besitz; es vermag sich dort, wie die Ge-
schichte des byzantinischen Reichs zeigt, auch eine schwache
Macht, selbst wenn beide Halbinseln bis an jene Verteidigungs-
stellungen verloren sind, noch lange Zeit zu behaupten; in den
Händen einer starken aber bedeutet es die Herrschaft über beide
Halbinseln und das östliche Mittelmeer, über ein ungemein wich-
tiges Netz von Verkehrswegen und bildet einen Machtfaktor von
ganz unschätzbarer Größe.
Der Westen und Nordwesten der Halbinsel, ja fast das
ganze, auch von innen schwer zugängliche Faltenland, sind aller-
dings dem Machtbereiche von Konstantinopel etwas entrückt, und
nur in Zeiten starker Machtentfaltung vermag der Herr von Kon-
stantinopel auch den Westen zu erobern und zu behaupten.
Das durch die dinarischen Faltenzüge vom Innern abgeschlossene
Küsten- und Inselland Dalmatien haben die Türken niemals zu
4*
— 52 —
erobern vermocht, ebensowenig die felsige Gebirgsfeste von Monte-
negro; auch in Albanien hat ihre Macht immer auf schwachen
Füßen gestanden, obwohl gerade dort die einzigen beiden ver-
hältnismäßig leicht gangbaren Wege quer durch das Faltenland
an die Adria führen, die Via Egnatia im Süden von Makedonien
her durch die Becken der dessaretischen Seen, eine andere im
Norden vom Amselfelde her durch das Dringebiet nach Skutari.
Griechenland schließlich, ein zerstücktes Gebirgsland mit mari-
timem Charakter, ähnlich Norwegen, vermochten sie nur zu er-
obern und zu behaupten, solange sie auch zur See mächtig
waren. Einige Teile Griechenlands sind sehr lange, andere
(Ionische Inseln) dauernd im Besitze Venedigs geblieben, eine in
der Landesnatur begründete Tatsache, die für die Geschicke des
griechischen Volkes von allergrößter Tragweite gewesen ist; denn
dadurch blieb dasselbe stets in Beziehungen zur abendländisch-
christlichen Gesittung; es konnte durch die türkische Zwingherr-
schaft nicht so völlig aus der Reihe der geistig lebenden Völker
gestrichen werden, wie z. B. die Bulgaren.
Die nordwestlichen Teile der Halbinsel dagegen, Bosnien
und Serbien, öffnen und neigen sich nach dem großen Donau-
becken, wie ja auch namentlich Bosnien schon wiederholt von
Ungarn abhängig gewesen ist. Wenn sich die türkische Herrschaft in
Bosnien so lange zu behaupten vermochte, so beruhte dies ledig-
lich darauf, daß es dort, wie ähnlich in Albanien, gelungen war,
den einflußreichsten Teil der Bevölkerung zum Islam zu bekehren.
Beide Länder sind mit ihrem ganzen wirtschaftlichen Dasein,
wohin immer ihre nationalen und politischen Neigungen auch
gehen mögen, auf den Donaustaat angewiesen, wie sich dies bei
Serbien vor kurzem in dem sogenannten Schweinekriege gezeigt
hat, in welchem dasselbe, Ungarn gegenüber, eine schwere Nieder-
lage erlitten hat. Gegen Nordosten streckt sich die Halbinsel
an der unteren Donau, die ganz Bulgarien mit Südrußland ver-
bindet, halbinselartig gegen letzteres hin; selbst die Landesnatur
nimmt in der Dobrudscha südrussischen Charakter an. Von dort
sind auch einst die Bulgaren eingewandert. Die Beziehungen
Bulgariens zu Rußland erscheinen als ethnographisch und geo-
graphisch beeinflußt; nur das ganz besondere Ungeschick russi-
scher Diplomaten hat hier geographische Gesetze, hoffentlich für
lange Zeit, außer Kraft zu setzen vermocht. Einen vierten halb-
— 53 —
inselartigen Zipfel streckt schließlich die Halbinsel im Südosten
Kleinasien entgegen, zu welchem sich auch die Täler der größten
selbständigen Flüsse, Maritza und Vardar, breit öffnen.
Fassen wir die wichtigsten geographischen Charakterzüge
der Südosthalbinsel zusammen, so lernten wir als solche kennen:
die Gegensätze der Oberflächengestaltung des Westens und des
Ostens mit den sich daraus ergebenden Folgen, den Mangel
einer zentralen Landschaft und eines natürlichen Mittelpunktes,
dagegen das Vorhandensein zahlreicher abgeschlossener, schwer
zugänglicher Sonderlandschaften und eines geographisch wunder-
bar bevorzugten Punktes, eines Punktes von erdrückender Wichtig-
keit, der aber exzentrisch liegt und der natürliche Mittelpunkt
eines größeren, mindestens Kleinasien mit umfassenden Gebietes
ist; schließlich die Vielseitigkeit der Beziehungen, die sich aus
dem Charakter als ausgezeichnetes Durchgangsland des Weltver-
kehrs und aus der wagerechten Gliederung ergeben.
Diese geographischen Charakterzüge, namentlich letzterer,,
spiegeln sich am deutlichsten in der großen ethnographischen
Mannigfaltigkeit der Südosthalbinsel wider, die, weil geographisch
bedingt, zu allen Zeiten bestanden hat und selbst von den Rö-
mern, diesen Meistern in der Aufsaugung und Anähnlichung
noch so verschieden gearteten Volkstums, nicht bewältigt werden
konnte. Auch in der römischen Zeit wurden mindestens drei
Sprachen dort gesprochen, wahrscheinlich mehr: Lateinisch,
Griechisch und Illyrisch. Die Nähe und leichte Zugänglichkeit
von Asien her, der Wiege der Völker, führte immer neuen Zuzug
herbei; die Oberflächengestaltung, namentlich im westlichen Falten-
lande, bewirkte, daß sich selbst schwache Volker, die Buntheit
der Karte mehrend, zu erhalten vermochten. So die Albanesen,
bei denen bis auf den heutigen Tag das Bewußtsein nationaler
Eigenart und Zusammengehörigkeit kaum zu dämmern beginnt;
so die Griechen, die sich, wenn auch durch übermächtige Feinde
überwältigt und anscheinend dem Untergange als Nation ver-
fallen, immer wieder emporrangen, wie heute nach der Türken-
zeit, so im Mittelalter nach der slawischen Überflutung; so die
romanisch redenden Wlachen, die sich in den Gebirgen als
Hirten, wenn auch an Zahl geschwächt und nur verstreute
Trümmer des einst auf der Halbinsel so weit verbreiteten romanisch
sprechenden Volkstums, doch durch mehr als ein Jahrtausend
— 54 —
ihre nationale Eigenart und Sprache zu wahren vermocht haben.
Zu diesen drei ältesten Völkern der Halbinsel, von denen Grie-
chen und Wlachen als ethnisch überaus gemischte anzusehen
sind und nur durch die Sprache als Nation erscheinen, kommen
nun Einwanderer mit Beginn des Mittelalters hinzu, die un-
gehindert durch die breiten, offenen Eingänge im Nordwesten,
Nordosten und Südosten hereinströmen konnten. Non Nord-
westen kamen die Slowenen und Serben, von Nordosten die ur-
sprünglich nicht slawischen Bulgaren, von Südosten die osma-
nischen Türken, in ihrem Gefolge, zum Teil gewaltsam angesiedelt,
Tataren, Armenier, Tscherkessen, dann Zigeuner, deren Zahl sehr
groß ist; seit dem vorigen Jahrhundert auch Rumänien, noch früher
spanische Israeliten, im neunzehnten Jahrhundert auch polnische.
Bei einer Bevölkerung von etwa 14Y2 {'^l^U ^^^^' iQOo) Mil-
lionen auf 490 000 qkm der ganzen Halbinsel — dieselbe steht
also dem Deutschen Reich an Größe beträchtlich, an Volksdichte
um das Dreifache nach — zählt man, nur diejenigen gerechnet,
welche mit mindestens 200000 Köpfen vertreten sind, elf ver-
schiedene Völker, zu denen aber noch mehrere andere hinzu-
kommen, von den, wenigstens in der Weltstadt Konstantinopel,
nach Tausenden zählenden Vertretern fast aller Kulturvölker
Europas abgesehen. Wie Konstantinopel noch heute aus tür-
kischen, griechischen, armenischen, jüdischen und europäischen
Stadtvierteln besteht, von denen namentlich jedes der vier erste-
ren in der Mehrzahl auftritt, jedes meist schon seinem äußeren
Charakter nach unterschieden und gesondert, so fast jede größere
Stadt der Halbinsel. Überall herrscht das bunteste Völker- und
Sprachengemisch.
Erhöht wird aber diese Zersplitterung dadurch, daß bis auf
die Griechen — von denen nur wenige Mohammedaner — und
die Türken alle übrigen Völker noch durch Religion und Kon-
fession gespalten sind, die im Orient eine fast größere Scheide-
wand bilden, als verschiedene Nationalität. Nach Religion und
Konfession richten sich auch die politische Zu- und Abneigung
und die politischen Beziehungen. Die Serben, abgesehen davon,
daß Teile dieses Volkes dem ungarischen, dem österreichischen
(Dalmatien), dem serbischen, dem montenegrinischen und tür-
kischen Staate angehören, Bosnier und Herzegowiner auch noch
provinziell geschieden sind, zerfallen in griechische und römische
— 55 —
Katholiken und in Mohammedaner. Ähnlich sind die Albanesen
dreifach religiös gespalten. Bei den Bulgaren tritt dies weniger
hervor, da die Zahl der römischen Katholiken und der Moham-
medaner (Pomaken) bulgarischer Nationalität beschränkt ist. Die
Zahl der Mohammedaner ist noch in diesem Jahrhundert auf
Kosten der Albanesen, Bulgaren, Serben und Makedonier ge-
wachsen. Die Bekenner des Islam halten sich und rechnen sich
fast immer zu den Osmanli. Keines dieser Völker ist so zahl-
reich oder den andern an Gesittung und Tüchtigkeit so über-
legen, daß es die übrigen zu beherrschen vermöchte; ja, bis auf
Albanesen und Bulgaren hat jedes einen großen Bruchteil seiner
Volksgenossen außerhalb der Halbinsel und in derselben nicht
angehörigen Staatsverbänden. Es ist klar, daß in allen diesen
Verhältnissen von dem Augenblicke an, wo die Türken nicht
mehr imstande waren, mit roher Gewalt die übrigen Völker zur
arbeitenden und steuerzahlenden Herde herabzudrücken, inneren
Reibungen der verschiedensten Art und Eingriffen von außen
Tür und Tor geöffnet war. Während bis zu Beginn unseres
Jahrhunderts, von Dalmatien, Kroatien, den ionischen Inseln und
etwa Montenegro abgesehen, noch die ganze Halbinsel der tür-
kischen Gewaltherrschaft gehorchte, begannen seitdem die Em-
pörungen gegen dieselbe, zum Teil durch Hilfe von außen, Er-
folge zu erzielen; Serben und Griechen, schließlich auch die
Bulgaren gelangten zu eigener Staatenbildung. Wie Lage, Welt-
stellung, wagerechte und senkrechte Gliederung jene große ethno-
graphische Mannigfaltigkeit hervorgerufen hatte, so hat diese im
neunzehnten Jahrhundert wieder die heutige Staatenbildung ver-
ursacht. Nicht weniger als vier selbständige Nationalstaaten be-
stehen heute auf der Halbinsel: Serbien, Bulgarien, Montenegro,
Griechenland; drei andere, die Türkei, Rumänien, Österreich-
Ungarn besitzen größere oder kleinere Teile derselben. Die
Albanesen haben auch ihrerseits eine gewisse Selbständigkeit er-
langt. Alle diese Staaten und Völker, abgesehen von der Wichtig-
keit der Halbinsel für alle europäischen Mächte und der sich
daraus ergebenden gegenseitigen Überwachung, stehen einander
eifersüchtig uud mißtrauisch gegenüber; jeder hegt ungemessene
Ansprüche und Ausdehnungsgelüste; ja, heute streiten sich sogar
Bulgaren und Serben um die Nationalität der slawischen Be-
wohner von ^Makedonien, die die Bulgaren für Bulgaren, die
- 56 -
Serben für Serben erklären, die die fortschreitende ethnographische
Erforschung aber als einen dritten slawischen Stamm mit wesent-
lich slowenischer Grundlage erweisen dürfte. Wir bezeichnen sie
daher als Makedonen. Zu der großen orientalischen Frage kom-
men daher noch verschiedene Fragen zweiter Ordnung hinzu,
jede geeignet, in jedem Augenblick einen Brand zu entzünden,
der sofort zu einem europäischen werden muß. Jedes dieser
Völker trachtet auch im Frieden dem anderen Boden abzuringen;
Serben, Griechen und Bulgaren machen in jeder Weise nationale
Propaganda und suchen namentlich durch Schulgründungen, für
welche die beiden letzteren Völker große Opfer bringen, sich die
Zukunft zu sichern, während die Albanesen, ihrer Volksart und
ihrem Gesittungsstande entsprechend, die Serben gewaltsam zu-
rückdrängen. So hoch ist die nationale und religiöse Abneigung
gestiegen, daß jeder Krieg, abgesehen von einer gewaltigen
INIinderung der Volkszahl, durch den Krieg selbst und die ver-
heerenden Seuchen, die ihm hier unfehlbar zu folgen pflegen,
wenn er eine Änderung der politischen Karte zur Folge hat,
auch eine völlige Verschiebung der ethnographischen Verhältnisse
hervorruft. Seit der doch friedlich erfolgten Abtretung von
Thessalien an Griechenland hat eine so rasche Auswanderung
der dort seit dem zehnten Jahrhundert schon angesiedelten Tür-
ken begonnen, daß in wenigen Jahren die ethnographische
Einheit wieder hergestellt sein wird. In noch größerem Maß-
stabe, zu Hunderttausenden, wandern Türken und Tataren aus
Bulgarien aus, wo ganze Städte und Landschaften dadurch ent-
völkert werden. Eine ethnographische Karte von Donau-Bulgarien
wird in Zukunft wohl nur noch Reste jener ausgedehnten tür-
kischen und tatarischen Gebiete der östlichen Landesteile zeigen.
Sehr viele der verdrängten Türken sind nach Kleinasien hinüber-
gewandert, viele aber haben sich in der Hauptstadt und in dem
noch türkischen Drittel der Halbinsel niedergelassen und das
mohammedanische Element, auf welchem allein der Bestand der
türkischen Herrschaft beruht, so weit verstärkt, daß heute, eine
politisch hoch bedeutsame Tatsache, die Bekenner des Islam dort
etwa 53 Prozent der Bevölkerung bilden.
Die Beseitigung der türkischen Herrschaft in dem heute noch
türkischen Teile der Halbinsel wird daher wesentlich schwieriger
sein. Freilich darf nicht unerwähnt bleiben, daß diese Rückzugs-
— 57 —
bewegung der Türken, oder richtiger der Mohammedaner, schon
seit langem begonnen hat. Aus Ungarn, aus Serbien, aus Grie-
chenland mußten sie nach Abschüttelung des türkischen Joches
auswandern, weil sich in ihnen die furchtbare Zwingherrschaft
verkörperte; ja, in Bulgarien selbst war dieser Vorgang schon vor
dem letzten Kriege eingeleitet. Städte, welche zu Beginn des
Jahrhunderts ganz türkisch waren, sind allmählich bulgarisch ge-
worden; in heute völlig bulgarischen Landschaften des oberen
jMaritzabeckens zeugen alle Namen der Dörfer, Felder, Waldungen,
Bäche usw. von den ehemaligen türkischen Bewohnern, Das
Dahinschwinden der türkischen Bevölkerung, das selbst in Klein-
asien so schreckenerregend rasch vor sich geht, hatte in Europa
schon vor dem letzten Kriege begonnen. Die ungeheure Last
des Kriegsdienstes lag allein auf den Türken, sie allein zahlten
die furchtbare Blutsteuer. Seit Aufhebung der Janitscharen, die
sich, wie bekannt, meist aus bekehrten Christenknaben selbst er-
gänzten, den Niederlagen im Felde und dem gesunkenen An-
sehen des türkischen Namens, womit ein bedeutender Rückgang
des Zustromes von Renegaten eintrat, wurden diese Lasten dem
Volke selbst immer fühlbarer. Die kräftige junge Mannschaft
wurde dem Lande und dem Erwerbe entzogen; die unaufhör-
lichen Kriege rafften sie dahin; die Überlebenden kehren erst
nach Jahren, oft als Kranke oder Krüppel, zurück und finden ihr
Gut in materiellem, ihre Familie in sittlichem Rückgang. Die
ungleiche und ungerechte Besteuerung, die Willkürherrschaft, die
heillose Verderbtheit der türkischen Verwaltung trifft das eigene
Volk am empfindlichsten, das wenig rührig, bieder und ehrlich
in den unteren Schichten, sich nicht dagegen zu schützen vermag.
Die Verarmung gerade der Türken ist allgemein. Dumpfe Ver-
zweiflung hat den größten Teil des türkischen Volkes ergriffen;
eine natürliche Vermehrung findet fast nicht mehr statt; die früher
überaus wichtige, mehr oder weniger gewaltsame Einverleibung
fremden Volkstums, die wir jetzt die Stammverwandten der Tür-
ken, die Magyaren, auch in Ermangelung eigener natürlicher Ver-
mehrung, so erfolgreich, namentlich auf Kosten des Deutschtums,
betreiben sehen, hat fast aufgehört. Es erscheint das türkische
Volk unaufhaltsam, nicht nur in Europa, sondern überhaupt dem
Untergange geweiht. Die Verstärkung, welche dasselbe seit dem
vorigen Jahrhundert durch Zuwanderung mohammedanischer Ta-
— 5« —
taren aus Südrußland und der Krim, dann wieder durch Tscher-
kessen aus dem Kaukasus erhalten hat, war bedeutungslos, beide
teilen die Geschicke der Türken. An ihre Stelle treten nament-
lich Bulgaren, im Süden auch Griechen. Diese steigen aus den
Gebirgen, in die sie früher zurückgedrängt worden waren oder
sich geflüchtet hatten, immer mehr herab. Im Gebiet von Vama
sind seit dem letzten Kriege 135 bulgarische Dörfer neu ent-
standen, und schon 1881 zählte man im Fürstentum vierzigtausend
neue, ackerbauende Ansiedler. Auch aus den noch türkischen
Gebieten findet Zuwanderung statt, namentlich diese Tausende
von makedonischen Arbeitern, Maurern und dergleichen, die all-
sommerlich nach Bulgarien strömen und hier den Unterschied der
Verhältnisse in noch türkischem Gebiet und im Fürstentum be-
obachten körmen, dienen als freiwillige, bulgarische Agitatoren.
Wenn wir noch darauf hinweisen, daß nach den russischen
Kriegen, namentlich 181 2 und 1829, eine starke Auswanderung
von Bulgaren nach Südrußland, schon früher nach dem ungarischen
Banat, nach den österreichischen Kriegen 1690 und 1740 eine
sehr starke, serbische Auswanderung nach Ungarn stattfand —
Albanesen setzten sich an Stelle der Auswanderer und machten
Altserbien vorwiegend albanesisch — so sehen wir, wie veränder-
lich in der Tat im Schollenland der südosteuropäischen Halbinsel
selbst die ethnographischen Verhältnisse sind, wie dort alles in
Fluß und Bewegung ist. Einwanderungen, Auswanderungen, An-
siedelungen aus den offenen, fruchtbaren Landschaften in die
Gebirge und umgekehrt, waren dort zu allen Zeiten an der Tages-
ordnung.
Es ergibt sich aus diesen Betrachtungen, daß die große
ethnographische Mannigfaltigkeit der Halbinsel durch die Gesamt-
heit der eigenartigen geographischen Verhältnisse bedingt ist.
Sie ihrerseits bedingt oder begünstigt, im Verein mit jenen, staat-
liche Zersplitterung und gegenseitige Eifersucht der einzelnen
kleinen Nationalstaaten. Jeder derselben, außer den Bulgaren,
hat Nationsgenossen außerhalb seiner Grenzen, ja, außerhalb der
Halbinsel. In der Vielseitigkeit ihrer Beziehungen, in ihrer Eigen-
schaft als wichtiges Durchgangsland des Weltverkehrs, im Besitz
eines der geographisch am meisten begünstigten Punkte an der
Erdoberfläche, schließUch in dem großen Reichtum an natürUchen,
wenn auch unentwickelten Hilfsquellen, liegen dann noch weitere
— 59 —
Gründe, welche die Aufmerksamkeit der Mächte und die Neigung
zur Einmischung wach erhalten müssen, zunächst die des an-
greifenden Rußland, andrerseits Österreich- Ungarns und Englands,
welche große Interessen zu verteidigen haben. Nur in Zeiten,
wo die Halbinsel Glied eines sich über beide Erdteile erstrecken-
den Weltreichs, Konstantinopel dessen Hauptstadt ist und die
ethnographische Mannigfaltigkeit zurücktritt, sei es weil die natio-
nale Idee überhaupt in der betreffenden Periode wenig Bedeutung
hat, oder das herrschende Volk alle übrigen durch überlegene
Gesittung ihrer Eigenart entkleidet, oder durch alles niedertretende
Gewalt zur völlig recht- und willenlosen Herde herabdrückt —
nur in solchen Zeiten wird es keine orientalische Frage geben.
Sobald die Macht des herrschenden Volks zu schwinden beginnt,
wie die byzantinische im spätem Mittelalter, die türkische seit
dem vorigen Jahrhundert, treten jene geographischen und ethno-
graphischen Faktoren wieder in Wirksamkeit, und entwickelt sich
eine orientalische Frage, die Europa so lange in Atem erhalten
wird, bis die Südosthalbinsel und Kleinasien mit Konstantinopel
wieder in einer starken Hand vereinigt sind. Diese wird dann
aber, wie sich die Verhältnisse in der Neuzeit entwickelt haben,
einen erdrückenden Einfluß auf einen großen Teil der Alten
Welt ausüben.
Daß Rußland den Besitz von Konstantinopel und damit
beider Halbinseln anstrebt, unterliegt keinem Zweifel. Zu ver-
hindern, daß es dieses Ziel erreiche, wäre am besten gelungen
durch möglichste Aufrechterhaltung der Türkei, natürlich unter
allmählicher Überführung derselben in die europäische Staaten-
und Fürstenfamilie. Nur dem flüchtigen Beobachter kann der
Eindruck werden, als sei die deutsche Politik bemüht, eine Wieder-
belebung der Türkei herbeizuführen; denn eine solche ist, so
sehr man sie wünschen mag, nach dem Urteil aller Kenner völlig
ausgeschlossen. So viel rohe Kraft in den unteren Schichten des
osmanischen Volkes, so reiche, unentwickelte Hilfsquellen auch
noch in den türkischen Ländern schlummern: die dumpfe Ver-
zweiflung, das Dahinschwinden der Massen, die Verkommenheit
der oberen Schichten ist zu weit vorgeschritten, um ein wirkliches
Wiederaufleben als denkbar erscheinen zu lassen, um so weniger,
als zu viele Faktoren vorhanden sind , die ein Interesse haben,
dies zu verhindern. Auch der tüchtigste Herrscher wäre dazu
— 6o —
nicht imstande, da es ihm völlig an brauchbaren Werkzeugen zur
Ausführung seiner Pläne und an Verständnis für dieselben im
Volke fehlen, ja die berufenen Werkzeuge ihm vielfach absicht-
lich entgegenarbeiten würden. Immerhin ist die Widerstandskraft
des türkischen Reiches noch eine sehr große, und die Auflösung
desselben wird bei weitem nicht so rasch erfolgen, wie der nach
dem äußeren Schein Urteilende glauben mag. Da zugleich die
nationale Idee, heute fast allein der entscheidende Faktor in der
Politik, wie sich die Dinge gestaltet haben, Rußlands Bestrebungen
hier feindlich sein muß und eine gemeinsame Niederhaltung der
zahlreichen kleinen Störenfriede, die hier die nationale Idee ge-
schaffen hat, seitens der Mächte undenkbar ist, so wird die
Lösung der orientalischen Frage des neunzehnten Jahrhunderts
noch auf lange Zeit die Völker Europas in Atem erhalten; noch
Generationen werden durch die Ausbrüche des orientalischen
Kraters in Mitleidenschaft gezogen werden. Zwischen Rußland
und Konstantinopel liegen heute der erstarkte rumänische und
der sich rasch entwickelnde bulgarische Nationalstaat; ein Weg
dahin ist heute leichter durch Kleinasien. Eine Lösung der
orientalischen Frage, die wohl allen Mächten, außer Rußland und
vielleicht Bulgarien, genehm sein und am weitesten den Forde-
rungen der europäischen Gesittung entsprechen dürfte, scheint
sich jetzt ethnographisch anzubahnen und muß auch als geo-
graphisch begünstigt erscheinen: die Schaffung eines großen Grie-
chenlands, in welchem Konstantinopel eine durch Verträge ge-
sicherte, besondere Stellung einzunehmen hätte. Dasselbe hätte,
außer dem heutigen Königreiche, Epirus, vielleicht unter Anschluß
Albaniens durch Personalunion, die Inseln des Archipels mit Chal-
kidike und den Westrand Kleinasiens nebst dem europäischen
Ufer des Marmarameeres zu umfassen. Dieser durchaus maritime
Staat würde in hohem Grade geeignet sein, als neutrale Schicht
zwischen den sich widerstreitenden Interessen zu dienen. Ethno-
graphisch bahnt sich diese Lösung insofern an, als schon heute
das Fünf-Millionen-Volk der Griechen in dem solchergestalt um-
schriebenen Gebiete bei weitem das Übergewicht hat, Konstanti-
nopel und Smyrna die größten Griechenstädte sind. Jugendfrisch
sich vermehrend, an Besitz und Gesittung wachsend, wird in
fünfzig Jahren das dann zehn Millionen zählende Griechenvolk
ohne Eingriffe von außen jenes Gebiet allein bewohnen. Die
— 6i —
Enkelin des ersten deutschen Kaisers auf dem Throne von By-
zanz ! Freilich für das deutsche Volk würde dieser vom Fluge
der Phantasie getragene Ausblick in die Zukunft kaum irgend-
welche spezielle und praktische Bedeutung haben. Jedenfalls
aber, wie immer sich die Dinge im Orient gestalten werden, das
erkennt man schon heute, daß dort drei Völkern, Griechen, Bul-
garen und Rumänen, eine größere Zukunft blühen wird.
5. Die Dattelpalme im Kultur- und Geistesleben
des Orients. 0
Die Dattelpalme, von welcher zu uns nur die weniger guten
Früchte gelangen, weil die besseren, weicheren Sorten nicht gut
transportabel sind und auch bei uns nur als Naschwerk dienen, spielt
im großen Wüstengebiet der Alten Welt, zwischen dem Indus und
dem Atlantischen Ozean eine so außerordentliche Rolle wie sonst
kein Baum in außertropischen Erdräumen. Sie ist in so hohem
Grade der Charakterbaum dieses ungeheuren Ländergebiets, ja
meist der einzige Baum, daß dasselbe auf den mittelalterlichen
Seekarten der Italiener, auf denen Flaggen, Legenden oder ein-
gezeichnete Bilder unser politisches Kolorit ersetzen, treffend
durch das Bild dieses Baumes bezeichnet zu werden pflegt.
Dort ist derselbe der Ernährer von Millionen Menschen, er allein
hat erst die Wüste bewohnbar gemacht und seine Kultur reicht
so weit zurück als eben noch historische Zeugnisse reichen. Wir
begreifen daher, daß die Dattelpalme im gesamten materiellen
und geistigen Leben der Bewohner jener Länder eine ganz be-
sondere Rolle spielt, daß er denselben, fast möchte ich sagen,
menschlich nahe steht.
In dem alten Kulturlande Ägypten, das noch heute in ein-
zelnen Gegenden einem lichten Palmenwalde gleicht und wo die
Steuerregister jetzt nicht weniger als 6 Millionen Dattelpalmen
zählen (gegenüber nur etwa i^j^ Millionen sonstiger Fruchtbäume),
ist die Dattelpalme als Kulturbaum und als Faktor im Kultur-
leben beim Beginn unserer historischen Kenntnis selbst vorhanden.
Isis, die Göttin der Fruchtbarkeit, erscheint stets mit einem
l) Erschienen in der Deutschen Revue Februar i88r.
— 62 —
Palmenzweige zur Seite und bei ihren Festen treten Palmträger
in der Prozession auf. Aus den Inschriften von Denderah er-
sehen wir, daß die Opferstiere mit Palmbast gereinigt und auf
einer Schlachtbank aus Palmenholz abgetan wurden. Die noch
heute bei den Völkern des Islam herrschende (nicht ganz richtige)
Anschauung, daß die Palme jählich zwölf neue Blätter ansetze,
in jedem Monat eines, war auch den alten Ägyptern geläufig und
sie diente ihnen daher als Symbol zur Bezeichnung des Jahres-
zyklus mit den zwölf Monaten. Unter den Dingbildern der ägyp-
tischen Hieroglyphik ist die Datteltraube oft verwendet und unter
den Lautbildern erscheint ein Mann mit Palmzweigen in jeder
Hand oder einem solchen auf dem Kopfe. Nach den Forschungen
von Joharmes Dümichen ist unter dem in den hieroglyphischen
Texten häufig genannten und stets mit ganz bestimmten charak-
teristischen hieroglyphischen Zeichen wiederkehrenden Baume (am)
nur die Dattelpalme zu verstehen und für den Baum tritt zu-
weilen die Dattel (bäner), ebenfalls mit charakteristischem hiero-
glyphischen Zeichen ein. Dies läßt darauf schließen, daß der
Baum schon in sehr alter Zeit, in einer Zeit, aus welcher uns
direkte historische Überlieferung kaum erhalten ist, tief im 3. Jahr-
tausend vor Christus schon edler Fruchtbaum war. Dement-
sprechend sehen wir auf zahlreichen bildlichen Darstellungen auf
den Denkmälern von Theben, deren Zeit freilich nicht genügend
feststeht, Dattelpalmen mit mächtigen Fruchttrauben beladen von
den Ägyptern gepflegt und bewässert. Wasserbecken und Wein-
gärten sind dargestellt, umgeben von Reihen von Dattel- und
Dumpalmen. Dattelbrote und getrocknete Datteln sind in den
Gräbern von Theben gefunden worden, eines der ersteren wird
im britischen Museum aufbewahrt. Auf dem Pyramidenfelde von
Sakarrah finden wir auf der Wand des wohl mindestens bis zum
Jahre 2000 v. Chr. zurückreichenden Grabtempels eines vornehmen
Ägypters namens Ti, die ihm gehörigen Ortschaften durch Frauen-
gestalten dargestellt, welche die Todtenopfer für Ti an Speisen
und Getränken herbeibringen, der Name jedes Ortes durch Zu-
sammensetzung mit dem des verstorbenen Besitzers gebildet.
Darunter erscheint auch das Palmen-Ti, also wohl der Ort, welcher
Tis Haushalt mit Datteln, vielleicht auch mit Palmenwein zu ver-
sehen hatte. Wir sehen also, daß die Dattelpalme als Volks-
nahrung in Ägypten in sehr alter Zeit schon eine große Rolle
- 63 -
spielte. Doch müssen wir uns hüten, mit dem geistvollen, aber
allzusehr an vorgefaßten Anschauungen festhaltenden Thomas
Buckle diese ihre Bedeutung zu überschätzen und etwa auf diese
massenhafte und billige Nahrung allein die Verdichtung der Be-
völkerung und die ganze eigentümliche Kulturentwicklung der Nil-
oase zurückzuführen. So wichtig im ganzen Wüstengebiet noch
heute die Dattel als Volksnahrung ist, so bildet sie doch nur
ausnahmsweise und höchstens auf Monate die einzige Nahrung,
überall ist daneben Getreidenahrung, Milch, Fleisch oder Fisch,
je nach der Gegend, notwendig, in den Saharaoasen verlangt
auch der Ärmste daneben Getreidenahrung und meist ist diese,
nicht die Dattel die Basis der Ernährung. Genau so war es im
alten, genau so ist es im modernen Ägypten: Weizen, Gerste und
Bohnen, in Oberägypten und Nubien mehr Durrah bildeten die
Hauptnahrung, die Dattel ergänzte dieselbe nur. Dementsprechend
bestanden die Einkünfte, welche Tuthmosis III. um 1600 v. Chr.
dem von ihm erbauten Tempel zu Semneh in der Thebais an-
wies, der Gegend, welche von jeher die vorzüglichsten Datteln
hervorbrachte, in Durrah und Stieren. Der biblische Joseph sam-
melte auch in den sieben fetten Jahren nicht etwa Datteln in den
Vorratshäusern Pharaos, sondern Weizen; auch ließ Jakob seine
Söhne nicht etwa Datteln aus Ägypten holen. Und als beim
Auszug der Kinder Israel aus Ägypten die Plagen über Ägypten
verhängt wurden, zerstörte ein Hagelschlag nicht etwa die Dattel-
haine, sondern die Gerste und den Leinen, verschonte aber die
anderen Saaten, offenbar weil sie in der Entwicklung noch so
weit zurück waren, daß ihnen der Hagelschlag nicht schadete.
Wie noch heute die Dattelpalme im holzarmen Ägypten
mannigfach für Bauzwecke verwendet wird, so war das jedenfalls
auch in den ältesten Zeiten schon der Fall und so mußte die-
selbe einen tiefgreifenden Einfluß auf die Entwicklung der ägyp-
tischen Baukunst ausüben. Es liegt so nahe, daß man zuerst
den Palmenstamm als Stütze des Daches anwendete und dann
bei vervollkommneter Technik an Stelle dieser immerhin gebrech-
lichen Säule eine solche aus Stein setzte, der man aber die For-
men des herrlichen Baumes zu wahren suchte. Ist uns ja von
Mohammed direkt bezeugt, daß er als die ersten Säulen der
Moschee zu Medina Palmstämme in einer Erdmauer aufrichtete,
die erst vom Khalifen Omar durch Erd- (wohl Luftzies-el-) Pfeiler
- 64 -
ersetzt wurden. Vielleicht verlockten auch die herrlichen Kronen
der Palmen, welche sich neben einem Tempel und neben den
doch wohl noch älteren Lotussäulen erhoben, zur Nachbildung
in Stein, Jedenfalls sehen wir den Palraenstamm und das Pal-
menkapitäl schon sehr früh in der ägyptischen Baukunst ver-
wendet, und merkwürdigerweise kommen in der Natur wirklich
so kurzstämmige, dicke Palmstämme vor, wie diejenigen, welche
die ägyptischen Säulen, gewiß nur infolge der schwierigen Be-
handlung des Steinmaterials, darstellen. Fern im Westen, im
algerischen Oasenarchipel des Wed Suf, erlangt der Palmbaum
infolge der höchst eigentümlichen Kultur desselben in bis 8 m
tiefen einem auf die Spitze gestellten Kegel ähnlichen Gruben
nicht die bekannte schlanke Gestalt, sondern setzt auf wenige
Meter hohem, starkem zylindrischen Stamme, der nach unten
konisch verdickt ist, eine gewaltige Blätterkrone an, so daß er
überraschend den ägyptischen Palmensäulen gleicht. Am herr-
lichsten und großartigsten finden wir dieselben angewendet in
dem großen Tempel von Edfu (Apollinopolis magna), wo die
Krone des Baumes als wahrhaft nationales Säulenkapitäl vom
Künstler in wunderbarer Treue bis in die kleinsten Einzelheiten
an Kapitalen dargestellt ist, welche den riesigen Umfang von
öYj m haben. Außerordentlich zierlich sind die Schuppen des
Stammes, die Datteltrauben und die graziöse Krümmung wieder-
gegeben, welche dem Palmenzweige an seinem obersten Ende
eigen ist. Überraschend ist namentlich auch der Eindruck, wel-
chen noch heute die Palmen und Palmengruppen hervorrufen,
welche in und um die Ruinen des Tempels von Qäu (Antaeo-
polis) und oft dicht neben den noch wohl erhaltenen, aufrecht
stehenden Säulen mit Palmenkapitälen stehen. Dort kann man
die Natur und ihre steinere Nachbildung am besten studieren.
Die Palmenkapitäle von Qäu bestehen aus neun langen Palm-
zweigen, welche kühn emporstrebend oben mit graziösen Krüm-
mungen enden. Die Spitzen der Blätter sind durch ein in ihnen
entsprechenden neun Teilen zierlich ausgeschnittenes Massiv ver-
einigt. Ihre Anordnung ist eine verschiedene mit Rücksicht auf
den viereckigen Würfel, welcher das Kapital trägt. Diese an-
scheinende Unregelmäßigkeit wird durch die ungleiche Zahl der
Palmenzweige hervorgerufen, die nur bei den Kapitalen von Qäu
vorkommt. Sie bewirkt, daß die Kapitale von vom immer ein
- 65 -
en face gesehenes Blatt darstellen, von rückwärts vom entgegen-
gesetzten Ende des Durchmessers eine von den Flächen zweier
anderer Blätter gebildete Kante. Der Schnitt der Vorderseiten,
der Kanten und der Krümmungen der Kapitale ist von herrlicher
Durchführung. Auf den trefflichen Tafeln, welche die ägyptischen
Denkmäler nach den Forschungen der Bonaparteschen Expedition
darstellen, finden wir im I. und IV. Bande auch diese Tempel
und ihre prächtigen Säulenkapitäle abgebildet. (Description de
l'Egypte, Antiquit6s sec. ed., Bd. I Planche 5, 6, 8 Fig. 8 u. 18,
55^ 75 Fig. 2 u. 5, 76 Fig. 9, 89 Fig. 5, Band IV Taf. 39, 40,
41 Fig. 4 u. 5 A.) Auch in den berühmten Tempeln von Philae
und anderwärts kehren diese Palmenkapitäle wieder und Herodot
erzählt uns, daß in dem aus Stein erbauten Tempel von Sais die
Säulen der Gestalt des Palmbaums nachgebildet waren.
In ägyptischen Denkmälern finden wir auch die ältesten
chronologisch sicher gestellten Zeugnisse dafür, daß auch bei
Babyloniem und Assyriern die Dattelpalme sehr früh eine Rolle
im Kulturleben spielte. Die Inschriften von Karnak berichten uns
nämlich von den kulturhistorisch so wichtigen ältesten Kämpfen
zwischen Ägyptern und Assyriern seit dem Ende des 17. Jahr-
hunderts V. Chr. unter Tuthraosis III. (XVIII. Dynastie), welche
eine erste Berührung ägyptischer Kultur mit den Kulturvölkern
Asiens herbeiführten, durch welche sich Ägypten um eine Fülle
von Erzeugnissen der Natur und des Gewerbfleißes bereicherte
und unter anderen zuerst Pferde und Kriegswagen kennen lernte.
Unter der Beute und den den Assyriern auferlegten Tributen
befinden sich auch ungeheure Mengen Palmwein. Wie in Ägypten
hat man auch in Mesopotamien und speziell dem alten Chaldaea
Spuren gefunden, daß auch hier die Dattel als Volksnahrung ins
Gewicht fiel. Oberst Taylor hat in den chaldäischen Ruinen
von Mugheir, dem biblischen Ur, einem der ältesten Sitze chal-
däischer Kultur, Reste von Palmenstämmen, welche als Balken
gedient haben mochten, und Reste von Dattelkernen in den Grä-
bern gefunden, so daß man anscheinend auch hier den Toten
noch etwas von ihrer Lieblingsspeise mit in das Grab gab. Diese
Dattelkerne kommen nur mit Stein- und Bronzewerkzeugen zu-
sammen vor, man möchte ihnen daher ein hohes Alter, Anfang
des 2., wenn nicht des 3. Jahrtausend v. Chr., zuschreiben. Aus
beträchtlich späterer Zeit finden wir Datteln pflückende Frauen
Fischer, Mittelmeerbilder. 5
— 66 —
auf babylonischen Denkmälern dargestellt. Zahlreicher, aber aus
noch jüngerer Zeit sind die Darstellungen, welche die Dattel-
palme in der assyrischen Kunst gefunden hat, namentlich in den
in Kujundschik ausgegrabenen Palästen. Dort finden wir Früchte
dargestellt, welche zu einem Gastmahle aufgetragen werden, unter
ihnen auch Büschel reifer Datteln. Ein Basrelief von Kujundschik
stellt dar die Unterwerfung einer an einem Flusse anscheinend
in sumpfiger, wohl von unbotmäßigen arabischen Stämmen be-
wohnter Gegend gelegenen Stadt und Landschaft, die wir nach
der überraschenden Ähnlichkeit, welche die dargestellte Land-
schaft mit der heutigen am unteren Euphrat hat, dort zu suchen
haben. Zahlreiche assyrische Krieger sind eben beschäftigt, die
fruchtbeladenen Dattelpalmen umzuhauen. Da Henry Layard
nachgewiesen hat, daß Sennacherib der Erbauer dieses Palastes
war, so reichen diese Skulpturen nicht weiter als ins Ende des
8. Jahrhunderts v. Chr. zurück. Etwas weiter bis gegen das
Jahr looo mögen andere rohere Darstellungen der Dattelpalme,
von solchen umgebene assyrische Tempel u, dgl. zurückreichen.
König Asshur-bani-pal ist in seinem Palaste zu Kujundschik dar-
gestellt in einem Dattelhaine und auf einer anderen Skulptur er-
heben sich zwei große mit Früchten beladene Dattelpalmen neben
dem Streitwagen des aus der Schlacht heimkehrenden Königs.
Schilderungen aus den letzten Jahrhunderten vor Beginn unserer
Zeitrechnung und den ersten nach derselben lassen uns Meso-
potamien als einen ungeheuren Palmenwald erscheinen. Dennoch
ist uns sicher genug bezeugt, daß auch hier Weizen und Gerste
die Grundlage der Ernährung bildeten. Nicht anders war es
jedenfalls zur Zeit der arabischen Herrschaft, wo hier die Dattel-
kultur so hohe Blüte erlangte, daß die Dattelgärtner aus Basra
im 12. Jahrhundert die Palmen mit Guano, wohl die älteste Ver-
wendung desselben, düngten, den sie um hohen Preis von den
Felseninseln im Persischen Meerbusen bezogen. Auch in Meso-
potamien scheint die Dattelpalme auf die Entwicklung der Archi-
tektur, wenn auch in anderer Weise wie in Ägypten, eingewirkt
zu haben. Man benutzte dort, wo die Häuser aus Luftziegeln
erbaut wurden, die Palmstämme als Balken, wobei sich bald die
Beobachtung aufdrängte, daß sich der belastete Palmstamm nach
oben, der Last entgegen, krümmt. Xenophon vergleicht diese
Krümmung derjenigen eines belasteten Eselrückens. Stellte man
- 67 -
nun zwei gekrümmte Palmstämme gegeneinander, so hatte man
die Rippe des gothischen Spitzbogens, die dann in Luftziegeln
nachgeahmt wurde, wie sich Spuren davon in den antiken baby-
lonischen wie in den modernen Backsteinbauten von Bagdad
finden. Und sogar auf den Schiffsbau ist hier in Mesopotamien
wie am Persischen Meerbusen die Dattelpalme von Einfluß ge-
wesen und Vergleiche von sonst und jetzt zeigen, wie sich darin
seit Jahrtausenden nichts geändert hat. Dieselben Boote von kreis-
runder Form, von beiden Seiten geteert und sich drehend fort-
bewegend, die wir schon auf assyrischen Denkmälern dargestellt
finden, werden noch heute auf dem Tigris verwendet. Es sind
die sogenannten Kuffeh, die nur aus Blättern der Dattelpalme
gemacht werden. An der Mündung des Schat-el-Arab werden
noch heute Schiffe gebaut aus Palmenholz, mit Datteln als Pro-
viant und Kaufmannsgut beladen. Auch in den zahlreichen klei-
nen Küstenfahrern, welche im persischen Bender Abbas gebaut
werden, besteht nur der Hauptbalken, der alles zusammenhalten
muß, aus indischem Teakholz, alles andere ist von der Dattel-
palme genommen.
Weit inniger noch als in Ägypten und Mesopotamien ist die
Dattelpalme mit der Kultur, dem Kultus und dem gesamten
geistigen Leben der Araber verwachsen. Arabien entbehrt so
befruchtender Ströme, wie der Nil, der Euphrat und Tigris sind;
es erzeugt nicht wie jene Länder ungeheure Mengen von Cerea-
lien, die Dattelpalme ist dort in höherem Maße Ernährerin, dort
bricht in der Tat Hungersnot aus, wenn etwa Heuschreckenplage
die Dattelernte fehlschlagen macht. So wurden denn dem Baume
in den verschiedenen Gegenden des Landes göttliche Ehren er-
wiesen. In Nedschran, einer alten Dattellandschaft, die wir neuer-
dings zuerst durch Joseph Hal6\y etwas kennen gelernt haben,
in welcher sich aber schon die römischen Legionen unter Aelius
Gallus (24 V. Chr.) von Datteln nährten, verehrten die Bewohner
einen heiligen Palmbaum, der außerhalb ihrer Stadt stand und
zu dem sie an einem gewissen Tage in Prozession hinauszogen
und ihn mit reich gestickten Teppichen behingen, weil dann aus
diesem Idole ein Dämon zu ihnen sprach, dem sie so ihre Ehr-
furcht bezeugten. Ebenso verehrte der Stamm der Takif, der
bei Taif wohnte, die Göttin Allat in einem großen mit Weihe-
geschenken begabten Baume, welcher unter den Palmen des
— 68 —
Tales von Nachiah hervorragte. Auch in Oman wurden der
Dattelpalme als heiligem Baume alljährlich Feste gefeiert und
Opfer gebracht. Eine besonders heilige Stätte der Palmenkultur
war der Palmenhain im Wadi Firan, auf der Sinaihalbinsel, der
mit seinen reichen Quellen und davon genährter reicher Vege-
tation inmitten öder Felsenwüste von jeher den Menschen an-
gezogen hat und selbst von den Barbaren heilig gehalten wurde.
Ein uralter Altar aus festem Stein war in dem Haine errichtet,
bedeckt mit altertümlichen unbekannten Schriftzügen. Ein Mann
und eine Frau standen als Priester und Priesterin auf Lebenszeit
dem Heiligtume vor und die dort Lebenden wurden zu den
Seligen gerechnet. Alle fünf Jahre wurde in dem Palmenhaine
ein Fest gefeiert, zu welchem von allen Seiten die Umwohner
zusammenströmten, um den Göttern des Heiligtums fette Kamele
zu opfern und heilbringende Wasser aus den dort sprudelnden
Quellen mit nach Hause zu nehmen. Eine andere Quelle be-
richtet ergänzend, daß das priesterliche Paar sich in Felle kleidete
und von den Datteln nährte, der wilden Tiere wegen jedoch die
Nächte in Hütten auf den Wipfeln der Palmen zubrachte. Es
erinnert uns dies Paar an den einsamen unsterblichen Mönch,
welcher jetzt in dem dem Sinaikloster gehörigen Palmenhaine
etwas landeinwärts von Tor im Tale El Wadi wohnt und den
Hain für sein Kloster bewacht. Serb-Baal, der Palmenhain des
Baal, so wurde dieser heilige Hain genannt und nach ihm der
Berg, an dessen Nordseite er liegt. Baal, der von den Stämmen
des nordwestlichen Arabiens besonders verehrt wurde, war der
Gott, welcher Frucht und Wasser in die Wüste spendete, und
so nannte man später alle in Arabien nicht von Menschen ge-
pflanzten und gepflegten, sondern lediglich auf Regen und Boden-
feuchtigkeit angewiesenen Dattelpalmen Allahs Datteln. Allah
selbst hatte wie das Kamel, so auch die Dattelpalme aus einem
Reste desselben Tons, aus dem er den Menschen gebildet hatte,
geschaff"en und dem Menschen aus dem Paradiese ins Leben
mitgegeben. Der Araber betrachtete den edlen Baum daher als
seinen Verwandten und der Prophet soll selbst zur Achtung vor
demselben aufgefordert und gemahnt haben: ,, ehret ihn als eure
Base"! Kamel und Dattelpalme, diese einander so ähnlichen
Vertreter des Tier- und Pflanzenreichs im großen Wüstengebiet,
blieben daher dem Gläubigen auf Erden göttergleich und gehören im
- 69 -
zukünftigen Leben mit zu seinem Paradiese, in welchem der
Prophet ihm noch Datteln verheißt. Unter der Palme, so ver-
heißt der Koran, am klaren Wasser des lebendig dahin murmeln-
den Baches wird der wahre Gläubige im Paradiese Jungfrauen
mit dunkeln keuschen Augen liebkosen, die noch nie weder ein
Mann noch ein Genius berührt hat. Im Koran ermahnt auch
der Prophet die Gläubigen, Gott zu danken für seine Gaben,
für die nährenden Gewächse, die Weintrauben und die Datteln,
weil auch darin für den Nachdenkenden göttliche Offenbarungen
gegeben seien. Diesen Vorstellungen entspricht es, daß der treff-
liche Kosmograph Kazwini die Dattelpalme dem Menschen gegen-
überstellt, dem sie gleiche durch ihre gerade, schlanke, aufrechte
Gestalt und Schönheit, durch ihre Scheidung in zwei Geschlechter,
wie durch ihre Befruchtung. Schlage man dem Palmbaum den
Kopf ab, d. h. die Krone, die Endknospe, so sterbe er; seine
Blüte sei wie ein Embryo in ein Tiermembran in die Spatha eingehüllt
und habe einen spermazetischen Geruch. Wenn das Hirn des Palm-
baums leide, so leide auch der ganze Baum mit; seine Zweige,
wenn einmal abgebrochen, wachsen so wenig wieder wie die Arme
eines Menschen; seine Fasern und Netzgewebe bedecken ihn,
wie der Haarwuchs den Mann, und alle weiblichen Palmen, die
eine männliche umstehen und von ihr Duft erhalten, werden von
ihr befruchtet.
Diesen den Baum gewissermaßen menschlich belebenden
Anschauungen entspricht es, daß der Araber unter den Krank-
heiten desselben auch eine nennt, von der auch die landwirt-
schaftlichen Schriften der Araber zu handeln nicht unterlassen
und welche als Eschq, Liebe, bezeichnet wird. Sie besteht darin,
daß eine weibliche Palme den Blütenstaub der ihr zunächst
stehenden männlichen aus Abneigung nicht aufnimmt, dafür sich
unter den ferner stehenden einen Liebling erwählt, dem sie sich
zuneigt, womit aber ein Verkümmern verbunden sein soll, dem
nur zu steuern ist dadurch, daß man beide durch Stricke aus
Palmfasern verbindet und die weibliche mit dem Blütenstäube
der männlichen befruchtet.
Wie in der christlichen Legende von der Flucht nach Ägyp-
ten durch die Wüste der Palmbaum seine mit Datteln beladenen
Zweige herabneigt, so mußte nach einer Legende im Koran der
dürre Palmstamm, an dessen Wurzel die Wöchnerin Maria das
— 70 —
Christuskind gebar, auf dessen Geheiß seine Früchte in den
Schoß der verschmachtenden Mutter schüttehi, eine Sage, der
wir in überraschender Ähnlichkeit, wohl mit dem Baume aus
dem semitischen Oriente eingeführt, auch bei den Griechen
begegnen: Leto gebiert nach dem Hymnus auf den Delischen
Apollo am Fuße der berühmten Delischen Palme, deren Stamm
mit den Armen umfassend, den Apollo. Es scheint dies darauf
hinzudeuten, daß schon in sehr alter Zeit, wie die Dattel-
palme von allen Völkern als Symbol der Fruchtbarkeit an-
gesehen wurde, so Frauen, welche zu gebären im Begriff waren,
auch bei Griechen und Römern, vermutlich nach aus dem Orient
überkommener Sitte, einen Palmzweig berührten. In Persien
pflegte man der Braut eine goldene Palme darzureichen als Vor-
zeichen einer langen Fruchtbarkeit. Bei vielen Völkern galt der
Genuß von Datteln bis in die neueste Zeit als Gebärenden sehr
förderlich.
Entsprechend der Wichtigkeit und dem Werte des Baumes
galt es zu allen Zeiten und bei allen Völkern für eine Sünde,
denselben umzuhauen in der Absicht, dadurch Feinden zu
schaden. Und selbst Mohammed mußte sich seinen über diese
Sünde empörten Anhängern gegenüber entschuldigen, als er sich
durch seinen Haß gegen die Juden von Cheibar zu dem Befehle
hatte hinreißen lassen, ihre Palmenhaine niederzubrennen und
auszureißen. Der Khalif Abu Bekr nahm infolgedessen unter
seine zehn dem Volke gegebenen Gebote auch den Befehl auf:
zerstöret keine Dattelbäume! Ein Gebot, das bis heute nur selten
und nur in den erbittersten Kämpfen verletzt worden ist. Denn
in der Tat vergehen Jahre, ehe junge Pflanzungen wieder ertrags-
fähig werden, und Jahrzehnte, ehe sie zu voller Ertragsfähigkeit
gelangen. Durch Umhauen der Palmen oder selbst nur der männ-
lichen kann eine ganze Landschaft veröden und die Bewohner
dem Verhungern ausgesetzt werden.
Zahlreiche arabische Dichter besingen die Ernährerin des
Landes und landwirtschaftliche Schriftsteller geben in umfang-
reichen Werken Anleitung über den ihr zusagenden Boden, die
Bewässerung, die Legung des Kerns oder Pflanzung der Schöß-
linge, Düngung usw.; der Einfluß des Mondes auf diese Vor-
gänge wird hervorgehoben und eine Menge abergläubiger Vor-
stellungen knüpfen sich bei den Arabern an den Baum. Das
— 71 —
gesamte Leben des arabischen Volkes ist an das Vorhandensein
der Dattelpalme gekettet; ohne sie würden tatsächlich weite
Striche des Landes gar keine, andere nur wenige Bewohner zu
ernähren imstande sein, das Land hätte nicht jene zahlreichen
streitbaren Scharen nach Osten und nach Westen, nach Norden
und nach Süden aussenden und dem Islam eine Welt erobern
können, wenn die Dattelpalme nicht eine gewisse Verdichtuno-
der Bevölkerung erlaubt hätte. Wir können daher sagen, daß
auch die weltgeschichtliche Rolle, welche das arabische Volk
gespielt hat, in engstem Zusammenhange mit seinem heiligen
Baume steht, wenn wir auch diesen Satz sofort durch einen zweiten
beschränken müssen, den nämlich, daß die Araber aber erst
außerhalb Arabiens auf begünstigterem Boden zu dem Kulturvolke
werden konnten, das einen so nachhaltigen Einfluß auf die Ent-
wicklung der Gesamtkultur ausgeübt hat. Denn wenn die Kultur-
bedeutung der Dattelpalme auch insofern eine sehr hohe ist, als
sie eine in bezug auf den Naturzustand oder selbst das Nomaden-
leben fortgeschrittene Kultur hervorzurufen vermag, so müssen doch
zahlreiche andere gewichtige Faktoren hinzukommen, um einen
weiteren Fortschritt herbeizuführen. Wo diese fehlen, sehen wir
noch heute genau dieselben Zustände in der Region der Dattel-
palme vor uns wie schon vor Jahrtausenden.
Bei den den Arabern in physischer wie geistiger Hinsicht
so nahestehenden Israeliten spielt die Dattelpalme, obwohl sie
nur an einem Punkte von Palästina, im tiefen Spalte des Ghor,
namentlich bei Jericho, ihre Früchte völlig reift, ebenfalls eine
große Rolle: im Kultus, bei Festlichkeiten, in der Poesie usw.
Wie die Araber ihre Hütten aus Palmzweigen unter Palmen auf-
schlugen, so wohnte auch die Richterin Debora auf den Bergen
Ephraim unter Palmbäumen, wenn auch sicher keinen reife
Früchte hervorbringenden. Zum Laubhüttenfeste, das zur Er-
innerung an die Zeit, wo Israel auf dem Zuge durch die Wüste
in Laubhütten (wir dürfen wohl annehmen Hütten aus Palm-
zweigen, von den Arabern mit einem aus Indien überkommenen
Worte Kadaschan genannt) wohnte, gefeiert wurde, wurden diese
Hütten mit Palmzweigen geschmückt, eine Sitte, welche zu Nehe-
mias Zeiten, nachdem sie außer Übung gekommen, wieder ein-
geführt wurde, als unter Esra die erste Rückkehr aus der baby-
lonischen Gefangenschaft mit Jubel und Freude in Jerusalem
- 72 —
gefeiert wurde. Die Palmblätter blieben seitdem ein Symbol des
Jubels und der höchsten Freude, ein Symbol des Sieges fast bei
allen Völkern, wie der Evangelist Johannes dies an dem Tage
des Einzugs des Herrn unter dem Rufe Hosianna verewigt hat.
Wie ein arabisches Sprichwort junge Männer Palmen vergleichbar
nennt, so wird im Hohen Liede die Gestalt des schönen Weibes
der schlanken hohen Palme verglichen: „dein Wuchs gleicht der
Palme und deine Brüste den Datteltrauben." Auch der arabische
Dichter Abd-er-Rahmän Giämi vergleicht die schöne Suleika der
anmutigen Palme, welche ihr Haupt hoch erhebt in den lieb-
lichen Gärten. Tamar, die Palme, war seit den frühesten Zeiten
der Name schöner hebräischer Jungfrauen, wie der Töchter
König Salomos und Absaloms. Die Palme ist in der hebräischen
Poesie „der Baum gepflanzet an den Wasserbächen, der seine
Frucht bringet zu seiner Zeit und seine Blätter verwelken nicht,
und was er macht, das gerät wohl"; der Baum, welchen der
Psalmist dem Manne vergleicht, „der nicht wandelt im Rate der
Gottlosen, sondern hat Lust zum Gesetze des Herrn und redet
von seinem Gesetze Tag und Nacht", also ähnlich wie Moham-
med denselben als eine göttliche Offenbarung erkennt. An einer
anderen Stelle dient das dauernde Grün des Palmbaums dem
Psalmisten als ein Bild des blühenden und dauernden Wohl-
standes der Gerechten und Froramen. David tröstet sich mit
dem Gedanken, daß der Gerechte blühen wird wie die Palme.
Auch bei den Israeliten scheint die Dattelpalme von Einfluß auf
die Architektur gewesen zu sein, wenigstens wird bezeugt, daß
der schöne Schwung des Palmblattes schon beim Salomonischen
Tempelbau zu architektonischem Schmuck, vielleicht selbst zur
Säulenbildung angewendet wurde.
Wir sehen also, daß der herrliche Baum, der den nordischen
Reisenden im äußersten Süden Europas immer und immer wieder
Bewunderung entlockt und den Maler zu bildlicher Darstellung
reizt, obwohl er dort kaum blüht und keine eßbaren Früchte
reift, ja, wenn auch eine Hauptzierde der Landschaft, doch kaum
seine Gestalt zu den majestätischen Formen seiner Heimat ent-
wickelt — daß dieser Baum seit Jahrtausenden bei den Völkern
des Orients als Spender von Speise und Trank, als Schirm
gegen die glühenden Strahlen der Sonne, wegen seiner herrlichen
Gestalt und sonstigen Nutzens in hohen Ehren steht, daß er ihre
— 73 —
gesamte Kulturentwicklung, ihre Kunst, ja auch ihre Poesie be-
einflußt hat, bei Ägyptern und Chaldäera gewiß nicht weniger
als bei Arabern und Israeliten, wenn uns auch nur von letzteren
direkte Zeugnisse davon aufbewahrt sind. Ist auch der materielle
Wert einiger anderer Bäume, aber nur weniger, kaum minder
bedeutend, so ist doch in letzterer Hinsicht gewiß keiner mit
der Dattelpalme zu vergleichen.
IL Palästina.
I. Eine länderkundliche Studie. 0
Die Tatsache, daß Palästina, ein so kleines, unscheinbares
und von der Natur im ganzen ziemlich stiefmütterlich ausgestattetes
Land, der Ausgangspunkt aller monotheistischen Religionen —
denn auch die letzten Wurzeln des Islam laufen dorthin aus — ,
für Christen der verschiedensten Bekenntnisse, für Juden und
Mohammedaner, also für alle höher gesitteten, die etwas größere
Hälfte der weniger gesitteten Erdenbewohner beherrschenden Völ-
ker das Heilige Land ist, muß immer von neuem die Aufmerk-
samkeit des Forschers auf sich lenken und zu Versuchen anreizen,
die Ursache dieser Erscheinung immer tiefer zu erfassen. Eine
zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung Palästinas in der
Weise, wie Karl Ritter eine solche vor einem halben Jahrhundert
gegeben hat, nur dem heutigen Stande der Wissenschaft und der
Kenntnis des Landes entsprechend, wäre ein verlockendes und
durchaus mögliches Unternehmen, denn die wissenschaftliche,
genauer die naturwissenschaftlich-geographische Erforschung des
Landes und seine kartographische Aufzeichnung, die leider da-
mals so außerordentlich viel zu wünschen übrig ließen, sind im
letzten Vierteljahrhundert erstaunlich fortgeschritten. Hier soll
nur eine Skizze entworfen werden.
Palästina, so klein es ist, verdankt seiner Lage in der Nähe
und zwischen den uralten Kulturvölkern Mesopotamiens und
Ägyptens, gewissermaßen auf der beide verbindenden Brücke,
daß es früh, schon etwa um 1600 v. Chr. bekannt geworden ist.
i) Neue Bearbeitung eines Aufsatzes in der Geogr. Zeitschrift hersg.
von A. Hettner 2. Jahrg. 1896.
— 75 —
Um 1400 V. Chr. gewährt uns bereits eine Sammlung von Briefen,
zum größten Teil in assyrischer Sprache und babylonischer Keil-
schrift von kanaanitischen Fürsten, wie z. B. auch von dem von
Urusalim (Jerusalem) an ägyptische Pharaonen geschrieben, einen
Einblick in die Verhältnisse des Landes, die 1887 in Tell-el-
Amama in Unterägypten gefunden worden sind. Durch Alexan-
der den Großen wurde es auch dem Westen bekannt. Aber von
den griechischen Schriftstellern, die von Palästina gehandelt haben,
ist wenig erhalten. Ähnlich von den römischen, die überdies, so-
weit wir urteilen können, über das Land und seine Bewohner
völlig verkehrte Vorstellungen hatten. Von einheimischen Quellen
des Altertums ist die Bibel und Flavius Josephus sehr hoch
zu stellen, der als jüdischer Gelehrter, Feldherr und Statthalter
von Galiläa Juden und Römer einander näher zu bringen gesucht
hat und besonders in seinem Werke über den jüdischen Krieg
die Topographie des Landes gefördert hat. Für die Kenntnis
des Landes hochbedeutungsvoll ist, daß Palästina in den ersten
christlichen Jahrhunderten sich langen Friedens und kräftigen
Schutzes gegen die Wüstenbewohner erfreute, was ein erstaun-
liches Aufblühen des Landes und eine Vermehrung der Bevölke-
rung namentlich durch starke Zuwanderung von Christen im 4.
und 5. Jahrhundert aus den von Barbaren verheerten Ländern
{Italien und Tunesien besonders) zur Folge hatte. Zahllose Li-
schriften aus jener Zeit bilden eine wichtige Quelle unserer Kennt-
nis. Ja, es ist uns sogar eine Karte erhalten, welche in Mosaik
auf dem Fußboden einer griechischen Kirche, die an Stelle einer
alten Basilika steht, in der alten Moabiterstadt Madeba, östlich
vom Toten Meere, im Dezember 1896 wieder aufgefunden wor-
den ist. Sie stammt aus der Zeit etwa um 400 n. Chr. und
stellte in großem Maßstabe Ägypten, Syrien und Kleinasien dar.
Von ursprünglich etwa 280 qm Fläche sind nur etwa 18 erhalten,
welche Bruchstücke von Palästina und Ägypten darstellen. Für
das Mittelalter schöpfen wir besonders aus arabischen Geographen
Ibn Haukai, Abulfeda (c. 1350), selbst ein Syrier, und dem jüdi-
schen Reisenden Benjamin von Tudela (c. 11 70). Das christliche
Abendland, das nach dem Vorgange der byzantinischen Kaiser,
die dem Heiligen Lande ihre Gunst zuwandten, in steigendem
Maße als Ausgangspunkt des Christentums zu verehren beginnt,
bietet im Mittelalter zahlreiche, viel gelesene Aufzeichnungen über
- 76 -
Pilgerreisen, aus denen sich ja die Kreuzzüge entwickelt haben,
die aber nur der Bibelkunde, der Erbauung, allenfalls der histo-
rischen Topographie förderlich sind, bis ins i8. Jahrhundert aber
dem Geographen, der über die Landesnatur etwas erfahren möchte,
einen überaus unerquicklichen Lesestoff bieten.
Um die Mitte des i8. Jahrhunderts beginnt mit Linn6s Schü-
ler Fr. Hasselquist endlich auch in dieser Hinsicht das Licht über
Palästina zu dämmern. Karsten Niebuhr hat das Land als erster
Geograph 1766 bereist. Ihm folgen zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts unter großen Schwierigkeiten und Gefahren Jak. Seetzen
und L. Burckhardt. Der Geolog Jakob Russegger erkennt mit
von Schubert in den 30er Jahren während der geordneten Ver-
waltung der Ägypter unter Ibrahim Pascha die tief eingesenkte
Lage des Ghor und des Toten Meeres. Wesentliches verdanken
wir auch in derselben Zeit dem Amerikaner Robinson. Ein siche-
rer Grund für unsere heutige Kenntnis wird aber erst durch zwei
große Gesellschaften gelegt, welche sich die wissenschaftliche Er-
forschung von Palästina zur Aufgabe gesetzt haben: eine englische
seit 1867 und eine deutsche seit 1878. Erstere hat sich beson-
dere Verdienste durch die topographische Aufnahme des ganzen
Westjordanlandes erworben, bei welcher als junger Offizier der
seitdem so bekannt gewordene Kitchener mitwirkte. Daneben
hat sie auch durch Naturforscher wie HuU, Tristram u. a. unsere
Kenntnis wesentlich vertiefen lassen. Auch französische Forscher,
wie der Geologe Lartet und der Herzog von Luynes, deutsche
wie der Geologe Stübel und der Archäologe Wettstein, sind in
derselben Zeit im Heiligen Lande tätig gewesen. Der deutsche
Verein zur Erforschung von Palästina, der mit geringen Mitteln
außerordentlich viel geleistet hat, hat neben Ausgrabungen sich
vor allem der Erforschung des Ostjordanlandes angenommen,
nachdem ein amerikanischer die Arbeit bald wieder niedergelegt
hatte. Männer wie der Baurat Schick, der Theologe Socin, der
Ingenieur Schuhmacher, der Geologe Blankenhorn u. u. haben
sich hier große Verdienste erworben. Soviel auch im einzelnen
noch zu tun übrig bleibt, in den großen Zügen kann Palästina
heute als erforscht angesehen werden und das ausgezeichnete
Bädekersche Reisehandbuch kommt nicht nur dem praktischen
Bedürfnis, sondern auch dem wissenschaftlichen Verständnis ent-
gegen.
— 77 —
Das heute von uns Palästina genannte Gebiet im äußersten
Südostwinkel der Mittelmeerländer, nach seinen geographischen
Grundzügen und seiner Geschichte ein so scharf ausgeprägtes
Länderindividuum, wie es wenige gibt, ist ein verschwindend
kleiner Teil einer großen Tafelscholle, welche die Außenseite der
Erdrinde in der ungeheuren Ausdehnung vom Atlantischen Ozeane
bis an den Persischen Meerbusen und den Fuß des iranischen
und taurischen Faltenlandes ihr eigenartiges Gepräge verleiht:
der großen Wüstentafel. In diesem weiten Bereiche wird die
Erdrinde, soweit sie unserer Beobachtung zugänglich und wirklich
erforscht ist, von Schichtgesteinen paläozoischen und mesozoischen,
zum Teil, namentlich am Rande Nordostafrikas, auch tertiären
Alters gebildet, welche ihre ursprüngliche Lagerungsform fast
durchaus bewahrt haben und unter welchen nur gegen Süden hin
ältere archäische Felsarten, vorwiegend Granite und Gneise, in
Gebirgsaufragungen hervortreten. Obwohl dieses alte Grund-
gebirge im nahen Sinai noch beträchtliche Höhen bildet, ja an
der Ostseite des syrischen Grabens noch weiter nach Norden
über Petra bis nahe an das Tote Meer nachgewiesen ist, tritt es
im eigentlichen Palästina doch nirgends zutage. Und ebensowenig
der ihm zunächst auflagernde paläozoische Gürtel und der nubische
Sandstein, der nur am Fuße des Steilabsturzes an der Ostseite des
Toten Meeres und noch etwas nördlich davon soeben noch unter
der jüngeren Decke hervortritt. Ganz Syrien gehört nämlich, wenn
wir von den jungeruptiven und den besonders in Nordostsyrien
die Oberfläche bildenden jungtertiären Gesteinen absehen, dem
ungeheuren Gürtel von Gesteinen der Kreideformation an, der,
Hunderte von Kilometern breit, fast die ganze Nordhälfte der
großen Wüstentafel etwa vom Meridian von Algier bis an den
Euphrat bildet. Und zwar herrschen hchtgefärbte, den allerdings
wesentlich älteren der Rauhen Alb ähnliche Kalksteine allent-
halben vor, ja in Palästina allein. Selbst die wenigen in Palästina
teils auf dem Westjordanhochlande, teils in einem schmalen Gür-
tel am Westabfalle desselben erhaltenen Reste einer Decke von
Tertiärgesteinen, Eozänschichten, die auch hier, wie vielfach in
den Mittelmeerländern, schwer von der Kreide zu sondern sind,
bestehen aus Kalksteinen.
Nach dieser petrographischen Eigenart und als Folgeerschei-
nungen derselben wird man sofort eine ganze Reihe geographischer
- 7« —
Tatsachen von großer Wichtigkeit in Palästina erwarten, wie
solche in der Tat das Land kennzeichnen. Es fehlen demselben,
wenn wir zunächst noch von dem Einflüsse auf die Oberflächen-
gestaltung absehen, wie zu vermuten war, Kohlen und Eisen,
ja so gut wie alle Mineralschätze überhaupt, also die Möglichkeit
Bergbau zu treiben und zu großgewerblicher Entwicklung zu ge-
langen. Aber guter Kalkmörtel ist überall vorhanden, gute Bau-
steine, oft marmorartig, es herrscht daher, soweit sich nicht zelt-
bewohnende Nomaden des Landes bemächtigt haben, durchaus
Steinbau mit Bogengewölben und mit flachen Dächern oder
Kuppelgewölben vor. Auch die Anlegung von Zisternen und
Bewässerungsrinnen aus Zement war erleichtert. Das Land muß
femer wasser- und humusarm sein, weil, ganz abgesehen von den
klimatischen Verhältnissen, das poröse, zerklüftete, lichtgrau
gefärbte Kalkgestein die Meteorwasser, soweit sie von dem er-
hitzten Gestein nicht rasch verdunsten oder abrinnen, rasch in die
Tiefe sinken läßt, wo sie wohl unterirdische in starken Quellen zutage
tretende Wasserläufe bilden, und andererseits der Kalkfels, je
reiner er ist, um so vollständiger der chemischen Auflösung durch
die Kohlensäure führenden Meteorwasser verfällt und um so
weniger unlösliche Rückstände läßt, die zur Bildung einer Humus-
decke beitragen könnten. Liefern doch in der Rauhen Alb, trotz
viel günstigerer klimatischer Bedingungen, 6 — 8 cbm ähnlichen
Kalkgesteins bei der Verwitterung nur i cbm lehmigen Rückstand.
In der Tat muß man Palästina ein wasserarmes Land nen-
nen. Um so wichtiger sind die vorhandenen Quellen, die alle
Namen haben, gefaßt und "von Trümmern von Bauwerken um-
geben sind. An sie vorzugsweise oder an Brunnen, die das
Wasser künstlich aus der Tiefe heraufbefördem, sind die Siede-
lungen gebunden und daher ihre Namen häufig mit Ain (Quelle)
oder Bir (Brunnen) gebildet. Man rechnet in ganz Palästina auf
je loo qkm nur 4,5 Quellen, in dem in jeder Hinsicht begünstig-
ten Galiläa 10, in Samaria 5, in Judäa dagegen nur 3. Man
denke sich, es gebe in einem preußischen Kreise von im Mittel
500 qkm nur 15 Quellen und keinen dauernd fließenden Fluß
oder Bach!
Die Humusarmut, die, wie wir sehen werden, durch die
klimatischen Verhältnisse, Wind und Abspülung, erhöht wird,
hat dazu geführt, mit peinlicher Sorgfalt, wenigstens in Zeiten
— 79 —
geordneter Staatsverwaltung, zu sammeln und festzuhalten, was
an fruchtbarem Bodem vorhanden ist: Terrassierungen. Oder
Sammeln der umherliegenden Gesteinsbrocken, um pflügen zu
können, zu Steinwällen, die zugleich Feldergrenzen und zugleich
Schutz gegen Wind und VVeidevieh bilden. Diese erzwungene
Arbeit der Menschen wird also das Landschaftsbild in hohem
Grade beeinflussen. Was von Wind und Regen davon geführt
wird, wird sich in Vertiefungen sammeln bzw. zur Bildung einer
Küstenebene beitragen. Da diese tiefer gelegenen Gebiete natur-
gemäß auch wasserreicher sein werden, so werden sie sich durch
üppige Vegetation oasenartig inmitten der felsigen Umgebung abheben.
Wird, wie in allen Kalkgebieten, die Tätigkeit des rinnen-
den und chemisch auflösenden Wassers vorzugsweise unter die
Landesoberfläche verlegt, so wird sich ein gewisser Höhlen-
reichtum entwickeln. Palästina ist daher ein besonders höhlen-
reiches Land. Überall sind solche vorhanden, oft in großer Aus-
dehnung, in Gruppen vereinigt, durch Kunst erweitert, zugänglich
und wohnlich gemacht, ja selbst durch Zisternen dauernd mit
Wasser versehen, vielfach mit Spuren längerer Benutzung seitens
der Menschen. Höhlen werden in der Geschichte Palästinas als
Zufluchtsstätten Verfolgter und Heimatloser sehr oft erwähnt, sie
dienten als Einsiedeleien, als Gräber, als Wohnstätten, als Festungen;
ganze Höhlendörfer sind nachgewiesen und noch heute dienen
sie vielfach zur Ergänzung der Häuser als Ställe, Vorratsräume,
Werkstätten u. dgl., wie das jedem Pilger bekannte Dorf Siloah,
dicht bei Jerusalem am östlichen Felshange des Kidrontales, ein
halbes Höhlendorf, zeigt. Ähnlich ist es im vulkanischen Hauran, wo
sich auch ganze Höhlendörfer finden. Es dürfte das Vorkommen
dieser trocknen, besonders im regenreichen Winter dem Zelt weit
vorzuziehenden Höhlen die aus den Wüsten- und Steppenland-
schaften ringsum eingewanderten Nomaden zur Seßhaftigkeit ge-
führt haben, so daß die Höhlenwohnungen, die durch eingefügte
Steine, durch Bearbeitung der Felswände wohnlicher zu machen
nahe lag, den Übergang vom Zelt zum Steinbau vermittelten.
Ist schon der häufige Wechsel fester Kalkbänke und weicher
Schichten der Bildung von Höhlen günstig, so leitete derselbe
auch an, künstUch unterirdische zistemenähnliche Vorratsräume,
Silos, wie man sie am häufigsten nennt, zu schaffen, in denen
sich Vorräte von Weizen, Gerste, Öl u. dgl. jahrelang trocken
— öo
aufbewahren ließen, die Öffnungen sorgsam versteckt und ver-
schlossen, so daß nur der Besitzer sie kannte. Wie im Altertum,
so bedient man sich noch heute solcher Silos. Wenn Kriegs-
stürme durch das Land brausten, waren so nicht nur die Vor-
räte vor dem Feinde sicher geborgen, nein, die Bewohner selbst
und ihr Vieh fanden in den weitverzweigten Höhlen sichere Zu-
fluchtsstätten, in die sie zu verfolgen sehr schwer war. Noch die
Kreuzfahrer hatten mit den in solche Höhlen geflüchteten Be-
wohnern schwere Kämpfe zu bestehen, namentlich wenn die Öff"-
nungen derselben an den steilen Wänden der tiefen Erosions-
schluchten lagen. Nur in Holzkästen, die an Ketten an den
Felswänden herabgelassen wurden, konnten die Angreifer den
Höhlenleuten beikommen. Immer ein beträchtlicher Teil der
Landesbewohner konnte so in Kriegsstürmen unter der Erdober-
fläche verschwinden und wieder hervortreten, wenn die Gefahr
vorüber war. Es mag wenigstens die Vermutung ausgesprochen
werden, daß dieser Zug der Landesnatur dazu beigetragen hat,
um die vorisraelitische Urbevölkerung zu erhalten, die nach Cler-
mont-Ganneau noch heute den Grundstock der Landbevölkerung
von Palästina bildet. Eine andere Erklärung, die schon hier
Platz finden möge, geht allerdings dahin, die Israeliten, die ja
als Nomaden in das Land einzogen, hätten die Kanaaniter ge-
schont, schon um die Bebauung des Landes nicht zu unter-
brechen.
In dem ganzen Bereiche der großen Wüstentafel hat die
ganze Reihe der sedimentären Schichten die ursprüngliche Tafel-
lagerung ganz oder nahezu. bewahrt, wie man in Palästina überall
bei den Kreideschichten deutlich erkennen kann, wo dieselben
in Schluchten und an Steilabstürzen, beispielsweise in ungeheurer
Mächtigkeit (300 m) am Djebel Karantal westlich von Jericho,
aufgeschlossen werden. Keine Faltung hat in dem ganzen un-
geheuren Gebiete Gebirge geschaff'en wie etwa der Faltenjura
der Schweiz. Die Schichten sind nur gehoben und Tafelland,
die Form der Hochfläche, ist überall und so auch in Palästina
die bodenplastische Grundform. Eine Gliederung der Tafel im
großen ist nur bei in späterer Zeit eingetretenen Bewegungen
auch dieser Teile der Erdkruste durch Bildung von Brüchen und
auf solchen sich vollziehenden Verschiebungen der so ausgeson-
derten Schollen in der Senkrechten erfolgt. Dadurch ist örtUch
die ungeheure Einförmigkeit der Wüstentafel um so mehr ge-
mildert, als infolge dieser Verschiebungen in der Senkrechten
einzelne Schollen so bedeutende Höhe erlangten, daß sie in hohem
Maße als Verdichter der atmosphärischen Wasserdämpfe wirkten,
so daß diese Teile der großen Wüstentafel niederschlagsreicher
wurden und an ihnen die zerstörenden Kräfte des Luftkreises,
die nagenden Gewässer in ganz anderer Weise in Wirksamkeit
treten konnten. Namentlich sind der großen Tafel sog. Graben-
brüche eigen, wie an solche das Rote Meer und die ostafrika-
nischen Seen gebunden sind, wo also auf Systemen hier vorzugs-
weise in Meridianrichtung verlaufender Bruchspalten Teile der
Erdkruste in langen Streifen in die Tiefe gesunken und langen
Gräben ähnliche Hohlformen entstanden sind, die in jeder Hin-
sicht unserer mittelrheinischen (fälschlich oberrheinisch genannten)
Tiefebene verglichen werden können. Hier kommt nur der sog.
syrische Graben in Betracht, durch dessen Bildung ein Teil der
Kreidetafel zu einem Gebiet mit ausgeprägten Sonderzügen in-
dividualisiert worden ist: Syrien.
Von der Südspitze des Sinai, wo er in den erythräischen ein-
mündet, setzt sich der syrische Graben durch den Golf von Akabah,
bald durchaus in die Kreidetafel eingesenkt, bis an den Südfuß
der ganz andere Oberflächenformen (Klein-Asiens) bedingenden
taurischen Faltenlandes an der Nordgrenze Syriens fort. Somit
ganz Syrien durchsetzend, als Hohlform einheitlich, wenn auch
gewiß nicht in seiner ganzen Ausdehnung einheitlicher und gleich-
zeitiger Entstehung, ist der syrische Graben hydrographisch drei-
geteilt, weil die Streifen der Erdrinde nicht überall zu gleicher
Tiefe absanken und namentlich an der dadurch mit bestimmten
Nordgrenze von Palästina zwischen Libanon und Antilibanon einer
derselben eingeklemmt eine bedeutende Höhe behielt. Dies ist der
Merdsch Ajun, die Wiese der Quellen, eine 600 — 700 m hohe
Hochfläche, welche die Wasserscheide zwischen dem Nähr Kasi-
mijeh, dem Flusse INIittelsyriens imd dem Jordan bildet, nach
Norden in den zwischen Libanon und Antilibanon eingeschalteten,
aber schon mehr zu letzteren gehörigen Djebel ed Dahr über-
geht. In Nordsyrien wird dieser Graben Ghab, in Mittelsyrien
Bika, in Südsyrien Ghor und in dessen Fortsetzung bis zum
Golfe von Akabah ErAraba genannt. Die Tierwelt des Ghor
wenigstens weist noch auf von den heutigen völlig abweichende,
Fischer, Mittelmeerbilder. 6
also aus der geologischen Vorzeit hier erhaltene Beziehungen hin.
Von 14 Arten Fische im See von Galiläa sind die meisten mit
solchen des Nils identisch, die übrigen afrikanischen Charakters.
Schon im Altertume hatte man die Übereinstimmung der Fisch-
fauna des Jordans mit der des Nils erkannt. Auch die Vogel-
fauna des Ghor weist tropische Beziehungen auf, am auffälligsten
in einem dem Kolibri ähnlichen Honigvogel.
Der syrische Graben ist gewissermaßen die negative Achse,
die bodenplastische Charakterform Syriens. Fast will es scheinen,
als hätten sich die Landesbewohner selbst eine der Wahrheit
nähernde Vorstellung von der Entstehung des Ghor gemacht, da
die Gegend des Toten Meeres in älteren Zeiten und im Koran
El Mutafika, der ,, Einsturz", genannt wird. Zu beiden Seiten
des Grabens liegt nun die syrische Kreidetafel in durchaus un-
gestörter oder nur wenig gestörter Lagerung der Schichten. Nur
dadurch werden verschiedene Oberfiächenformen bedingt und
größere Landesteile überhaupt individualisiert, daß an verschie-
denen Punkten der nordsüdlichen Erstreckung die Verschiebungen
der noch durch Querbrüche voneinander gesonderten Schollen-
stücke in der Senkrechten von verschiedenem Betrage waren,
vielleicht in verschiedenem Sinne erfolgten.
Den höchsten Betrag erreichten diese Verschiebungen in
Mittelsyrien, wo dadurch unter Hervortreten selbst der Jura-
schichten und auch sonst besonders petrographisch etwas ab-
weichende Züge ein ganzes Gebirgssystem (die mittelsyrischen
Horste, wenn nicht ein in der Mitte eingebrochenes, an den Flan-
ken verworfenes Gewölbe) entstanden ist, Libanon und Anti-
libanon, und selbst die Sohle des Grabens (Cölesyrien, Bika) in
eine Höhe von 1000 m gerückt ist. Mittelsyrien trägt daher vor-
wiegend den Charakter eines Gebirgslandes, ja im Libanon gerade-
zu einer völkererhaltenden Gebirgsfeste, deren mit staunenswerter
Steilheit über der Küste aufsteigende Höhen die vom warmem
Mittelmeere verdampften Wassermengen verdichten, sie in fester
Form bis gegen Ende des Sommers festhalten und in zahlreichen
daher das ganze Jahr fließenden Bächen und Flüssen in die
darum herrlichen Anbaus fähige Umgebung hinab, zum Teil so-
gar in Längsflüssen weit weg, durch ganz Syrien, bis nahe an
seine Nord- wie an seine Südgrenze senden, eine Umgebung, die,
soweit sie im Regenschatten der hohen Gebirgswälle liegt, ohne
- 83 -
diese Möglichkeit künstlicher Berieselung schon auf 50 km vom
Mittelmeer Wüste ist. Ist doch die von den Wüstenbewoh-
nern so viel gepriesene Berieselungsoase von Damaskus, ein ur-
alter Brennpunkt menschlicher Gesittung mitten in der Wüste,
von Berut jetzt mit der Eisenbahn in neun Stunden erreichbar,
kaum 90 km in Luftlinie, so weit wie Heidelberg von Frankfurt,
vom Mittelmeer entfernt. Der südlichste und höchste Gipfel des
Antilibanon, der Hermon (275g m) an der Nordgrenze Palästinas,
ist daher namentlich während seiner schon seit Salomons Zeiten
bis in den Hochsommer dem Lande Schnee zur Kühlung der
Getränke liefernden Schneebedeckung als Wolkenverdichter auch
für dieses Land von größtem Werte. Er erscheint deshalb in der
Bibel als dem Landmann und dem Hirten teuer (Tau vom Her-
mon), dem Dichter und Propheten liefert er die schönsten Gleich-
nisse und Symbole, an ihm liegen die Quellen des Jordan.
Wie die syrische Grabenversenkung naturgemäß überall die
Gewässer an sich zieht, so besitzt auch Mittelsyrien im Litani
einen etwas größeren Fluß. Derselbe bricht auch, gleich dem
nordsyrischen Orontes, durch die großen Höhenunterschiede in
seiner Erosionskraft bestärkt, zum Meere durch, aber in einer
tiefen, engen, als Verkehrsweg unbrauchbaren Schlucht, die in
dem Kalkgebirge ursprünglich wohl streckenweise eine unter-
irdische Rinne gewesen sein mag, wie eine noch stehengebliebene,
vom Verkehr benutzte mächtige Naturbrücke bezeugt. Mittel-
syrien ist daher von der Natur selbst nicht zum Durchgangslande
des Verkehrs, weder von Ost nach West, noch, von der Ost-
grenze abgesehen, von Nord nach Süd bestimmt. Aber an ein-
zelnen dem Seeverkehr, im Altertum wenigstens, günstigen Küsten-
punkten konnten sich inmitten einer reichen Umgebung große
Mittelpunkte des Seeverkehrs, Tyrus, Sidon, Berut entwickeln,
welche die natürlichen Hindernisse überwindend auch den Ver-
kehr aus dem Innern, namentlich den Brennpunkten des Kara-
wanenverkehrs, den Oasenstädten Damaskus und Palmyra an sich
zogen. Mittelsyrien, ein Gebirgsland mit relativ guten Beziehungen
zum Meere, ist daher als der am reichsten ausgestattete Teil
Syriens, als ein Land der Gegensätze, am frühesten zu hoher
Gesittung emporgestiegen und hat sich auch in der Geschichte
als der noch am ehesten zu politischer Selbständigkeit und zur
Herrschaft in Syrien berufene Teil erwiesen. Es hat sich zu
6*
- 84 -
einem der ältesten Sitze des Handels, zunächst des Seehandels,
und zwar eher zu einem Ausgangs- als zu einem Durchgangs-
punkte desselben entwickelt. Und an den Handel schloß sich
eine auch ursprünglich bodenständige Gewerbetätigkeit an. Seine
Bewohner ließen ihre Blicke, im grellsten Gegensatze zu denen
Palästinas, über die ganze damals bekannte Erde schweifen, den
Holländern der letzten drei Jahrhunderte in mancher Hinsicht
vergleichbar.
Dagegen ist Nordsyrien ein ausgezeichnetes Durchgangsland
in westöstlicher wie in nordsüdlicher Richtung. Hier weist näm-
lich der dem Ostflügel gegenüber wesentlich höhere Westflügel
der syrischen Kreidetafel bei überhaupt geringerer Höhe des
ganzen Landes zwei tiefe Querfurchen auf, durch welche man
bequem aus dem Innern ans Mittelmeer gelangt: die schon im
taurischen Faltensysteme gelegene, sich drüben in der kyprischen
Messaria fortsetzende Mulde, durch welche der Fluß Nordsyriens,
der El Asy, aus dem nordsyrischen Graben zum Mittelmeere ent-
schlüpft, und die sogenannte Senke von Homs, ein mit jungen
vulkanischen Ausbruchsmassen zum Teil ausgefüllter Querbruch,
welcher den Libanon vom nordsyrischen Ansairiergebirge trennt
und der bei weitem wichtigsten Straße dient, welche vom alt-
phönikischen Tripolis und den phönikischen Küstenstädten über-
haupt nach den Euphratländern führt. Dazu kommt, daß die
Tiefe des nordsyrischen Grabens geringer, derselbe also leicht zu
überschreiten ist, und daß die beiden Schenkel des größten Stromes
von Vorderasien, des Euphrat, eines der an Wert für den Men-
schen überhaupt am höchsten stehenden Ströme, hier auf das
Mittelmeer zielen und sich diesem auf 150 km (Leipzig — Gotha)
nähern, da von Nordsyrien aus und durch Nordsyrien, ja fast
nur durch Nordsyrien auch die bequemsten Wege von Arabien,
Mesopotamien, dem Persischen Meerbusen, Indien und Iran nach
Kleinasien führen. Es gehen also durch Nordsyrien die wichtig-
sten Landstraßen des Welthandels, bzw. es münden dieselben
hier an das sie nach Westen als Seestraßen fortsetzende Mittel-
meer, und zwar stets, wenn nicht geschichtliche und politische
Verhältnisse hindernd dazwischentreten, in die phönikischen See-
städte aus, da an der Mündung des Orontes nur Kunst und ein
mächtiges Staatswesen einen Hafen (Seleukia) schaff"en und er-
halten kann, die unsichere Reede von Iskanderun dadurch, daß
- 85 -
dort das Küstengebirge unschwer zu überschreiten ist, immer nur
als Notbehelf eintreten kann. Heute und besonders seit Eröffnung
des Suezkanals haben diese Welthandelsstraßen und die syrischen
Seestädte an Bedeutung verloren, aber sie können jeden Augen-
blick, wie schon die Besetzung des bis 1571 venetianischen Ky-
perns durch die Engländer zeigt, bei Schließung des Kanals oder
neben demselben Nordsyrien zu einem Angelpunkte der Welt-
politik machen. Hier lagen daher in den verschiedensten Zeiten
Groß- bzw. Welthandelsstädte: Palmyra, der Knotenpunkt aller
Karawanenwege vom Euphrat her, die von hier zum svTischen
Gestade ausstrahlten, Antiochien und seine kurzlebige künstliche
Hafenstadt Seleukia, Aleppo, die Nachfolgerin von Palmna.
Das ausgezeichnete Durchgangsland Nordsyrien lenkte also
den Verkehr von Palästina ab, das Gebirgsland Mittelsyrien bildet
auch einerseits eine Schranke des Verkehrs gegen Palästina hin
und bewirkt, daß auch noch die Landstraßen sich sowohl als
solche wie als Wasserstraßen an Palästina vorbei fortsetzen, da
südlich von Tyrus der Libanon so steil zum Meer abstürzt, daß
nur eine schwierige Gebirgsstraße, die Scala Tj-riorum, deren ur-
alt geschichtliche Bedeutung von Felsinschriften bezeugt wird,
längs des Meeres Phönikien mit Palästina verband und man dort
am Ras-en-Nukra auch am besten die Grenze zwischen beiden
ansetzt.
Brandend ergossen sich immer und immer wieder die Völker-
wogen Linerasiens, die den Weg nach Westen südlich vom Kaspischen
Meere genommen hatten, vom Euphratknie her über Nord-, schon
geschwächt wohl auch über Mittelsyrien, dessen reiche Seestädte
freilich als lockende Ziele der Bewegung einen neuen Anstoß
gaben. Nach Südsyrien dagegen gelangte, wie in seitwärts ge-
legene stille Buchten, nur die schwache Dünung der allerheftig-
sten Stürme, Etwas engere Beziehungen unterhielt derselbe aber
andererseits zu Arabien, das aber der Ausgangspunkt nur eines
geschichtlich wichtig gewordenen Völkerstromes gewesen ist, und
zu dem ruhigen, Licht ausstrahlenden Kulturherde Ägypten.
Südsyrien, Palästina, ist somit weder ein Durchgangsland
von der Wüste und ihren Hinterländern zum Meere, noch auch
eigentlich von Norden nach Süden, wenn auch ganz Syrien, dank
den früher angedeuteten Krustenbewegungen zum Kulturlande
geworden, auf den ersten Blick als eine von Kleinasien und
— 86 —
Mesopotamien nach Arabien und Ägypten zwischen Wüste und
Meer geschlagene Brücke des Verkehrs erscheint und es bis zu
einem gewissen Grade auch ist. Der syrische Graben erreicht
im Ghor nicht nur seine größte absolute Tiefe, auf dem Grunde
des Toten Meeres 8oo m unter dem Meeresspiegel, sondern auch
seine größte relative Tiefe, 1200 m und mehr unter den an-
grenzenden Hochflächen. Überdies ist dieser Graben von einem
reißenden Flusse durchströmt und auf reichlich ein Drittel seiner
Erstreckung mit langen schmalen Seen erfüllt, die sich zu allen
Zeiten als noch größere Hemmnisse des Verkehrs erwiesen haben.
Von Osten kommend steigt man steil wie von Brockenhöhe durch
gewundene, enge, kaum gangbare Felsenschluchten in den Graben
hinab, um nach Überschreitung des reißenden Jordan noch steiler
ebensohoch auf das Westjordanland emporzusteigen. Die Ge-
wässer des größten Teils von Palästina sammeln sich in dieser
tiefen Kerbe der Erdrinde, um in dem bittersalzigen und schon
dadurch geringwertigen Toten Meere zu verdunsten: der Fluß
Südsyriens hat keinen Ausweg zum Meere, er öffnet das Land
nicht — sei er auch nur in so geringem Maße schiffbar wie es
der Orontes in der besten Zeit bis Antiochien war — in breitem
Tale zur Wiege aller höheren Gesittung, zum Mittelmeere, oder
zur Welthandelsstraße des Roten Meeres. Dies ist einer der
wichtigsten unter den geographischen Grundzügen Palästinas, die
dem Lande den Charakter der Verschlossenheit aufprägen. Wenn
der Jordan in den Golf von Akabah mündete, würde Palästina
sofort zu einem Durchgangslande wie Ägypten. Mündete er ins
Mittelmeer, so besäße das Land von dort aus einen breiten, be-
quemen Zugang, es stände dazu in den engsten Beziehungen zu
dem mediterranen Kulturkreise, besonders Ägypten, es wäre nicht
bloß ein Land des Ackerbaues, sondern auch ein Sitz des Han-
dels. Von seiner beschaulichen Abgeschlossenheit wäre wenig
übrig.
Auch sonst ist Palästina, wie wir schon angedeutet haben,
aber noch weiter ausführen werden, felsig und tief durchschluchtet,
am meisten Judäa, ein an und für sich, aber namentUch für das
Kamel, noch heute das wichtigste Beförderungsmittel dieser Län-
der, schwer gangbares Land. Alle Flußtäler Palästinas sind ent-
sprechend dem herrschenden Trockenklima mehr oder weniger
kanonartig. Auch die größte vorhandene Ebene, die von Jesreel,
_ 87 -
mit der ihr genetisch entsprechenden einzigen flachen Einbuchtung
der Küste, nach Akka oder Haifa benannt, beide an einen dem
von Homs vergleichbaren Querbruch gebunden, hat für den Ver-
kehr aus dem Innern ans Mittelmeer nur vorübergehende, in der
allerneuesten Zeit und der Senke von Homs weit nachstehend eine
gewisse, stets geringe Bedeutung zu erlangen vermocht, da auch
hier noch, trotzdem die Schwelle von Serin (Jesreel) nur 123 m
hoch hegt, der Jordan 400 m unter derselben fließt. Der Ver-
kehr von Damaskus nach Arabien ging ungefähr auf der Grenze
des Kulturlandes und der Wüste im Verlauf des römischen
Limes, wie noch heute die Straße (Eisenbahn) der Mekkapilger,
auf der Ostgrenze an Palästina vorüber, in einem mittleren Ab-
stände von 50 km vom Ghor, da wo keine tief eingeschnittenen
Flußtäler, die das Ostjordanland kennzeichnen, mehr zu über-
schreiten' sind. Ja selbst ein großer Teil, zeitweilig wohl der
größte Teil des Verkehrs von Damaskus nach Ägypten benutzte
diesen Weg, von dem sich erst weit im Südosten von Palästina,
da wo der° Graben in der 229 m über dem Meeresspiegel ge-
legenen, die Gewässer des Ghor von denen des Golfs von Aka-
bah scheidenden Schwelle leicht zu überschreiten war, eine West-
straße durch die kein Hindernis bietende Wüste Et Tih nach
Ägypten abzweigte. Hier entwickelte sich in spätrömischer Zeit,
dem goldenen Zeitalter Syriens, Petra, das südliche Gegenstück
von Palmyra, zu einem Sitze blühenden Handels. Aber selbst
die geradesten Karawanenwege von Damaskus nach Ägypten, die
überdies niemals, eben weil die phönikischen Seestädte den Ver-
kehr an sich zogen und zur See mit Ägypten vermittelten, große
Bedeutung zu erlangen vermocht haben, gingen des schwierigen
Geländes wegen nicht durch das eigentliche Palästina, nicht über
Jerusalem, das niemals als Sitz des Handels oder der Gewerbe-
tätigkeit eine Rolle gespielt hat. Die Karawanen überschritten,
von Damaskus her in gerader südwestlicher Linie das Ghor
querend, den Jordan entweder unmittelbar südlich vom Hulesee
auf der 'jakobsbrücke oder unterhalb des Tiberiassees und such-
ten durch die Ebene Jesreel und über dem südöstlichsten nied-
rigen Karmel so rasch wie möglich das Meer zu erreichen (Via
M°aris), dem sie auf dem Küstenwege von Phönikien her entweder
unmittelbar oder auf einem dem Fuße des Westjordanhochlandes
näheren Wege über Ludd (Ramie) nach Gaza folgten. Die Küste
von Palästina, eine in wundervoll regelmäßiger Kurve geschwungene
Schwemmlandküste, ist, wie jedes auch nur wenig geographisch
geschulte Auge schon daran erkennen wird, eine wahrhaft eiserne
Küste, rein von Inseln, ohne jede Bucht, ohne Landmarken, ohne
natürlichen Schutz. Eine Meeresströmung und die Luftströmungen
der kühleren Jahreshälfte führen den Verkehr von Ägypten nach
Phönikien, die Luftströmungen der günstigeren Jahreshälfte von
Phönikien nach Ägypten an Palästina vorüber, und wohl mancher
Pilger hat selbst im Zeitalter der Dampfschiffe die Unzugänglich-
keit Palästinas zur See am eigenen Leibe erfahren, wenn der
Kapitän ihn an Jaffa, wo er zu landen gedacht hatte, vorüber
mit nach Berut oder Port Said entführte.
So erscheint Palästina, durch kein Flußtal zum Meere ge-
öffnet, zwischen unwirtlicher Wüste im Osten und im Süden,
einem hafenlosen Meere im Westen, im Norden von hohen Ge-
birgen überragt, als ein völlig abgeschlossenes Land. Und in
sich besaß es auch keine Lockmittel, auch nur wie die phöni-
kischen Seestädte, hinter deren Mauern der Handel Schätze auf-
gehäuft hatte, die große Nachbarvölker hätten veranlassen können
es gewaltsam aus seiner Vereinsamung herauszureißen. Es besaß
keine Edelmetalle, keine kostbaren Gewürze, die zu allen Zeiten
auch kleinen Ländern große Wichtigkeit verliehen haben, ja nicht
einmal so fruchtbaren Boden wie Ägypten und Mesopotamien.
Nach der Gliederung seiner Oberfläche als echtes Gebirgsland
in eine ganze Anzahl kleiner Landschaften zerfallend, entbehrte
es bei ansehnlichen Höhenunterschieden und bei einem gewissen
Seenreichtum der Gegensätze, der Mannigfaltigkeit der Erzeugnisse
und überhaupt der Bedingungen nicht, welche erforderUch waren,
damit die Bewohner eine höhere Stufe der Gesittung erklimmen
konnten, aber die Lockmittel für Eroberer fehlten. Klein und
arm, war Palästina für die Syrer, Assyrer, Perser, Ägypter,
Römer, Byzantiner ein entlegenes Grenzland, das ihren Kultur-
einflüssen sich nicht völlig zu entziehen vermochte, über welches
ihre Heere einem Sturmwinde gleich dahinbrausten, das sie brand-
schatzten, zu Tributzahlungen zwangen, das sich aber völlig ein-
zuverleiben nur den Römern hinreichend lohnend oder notwendig
erschien. Bequemer war es, die Bewohner dieses entlegenen
Grenzlandes in das eigene Land gewaltsam zu übersiedeln. Dies
erklärt auch, daß die Nachrichten, welche wir in den Über-
— 89 -
lieferungen der umwohnenden hochgesitteten Völker des Alter-
tums bis zu den Griechen finden, so überaus dürftige sind.
Erst bei den Römern fließen sie etwas reichlicher (nach Josephus),
am reichlichsten freilich auf den zahlreichen Denkmälern, beson-
ders den Inschriften aus spätrömischer Zeit, die neben den
schlichten wahrhaftigen Schilderungen der Bibel die besten Quellen
zur Landeskunde von Palästina im Altertum sind.
In dieser inselartigen Abgeschlossenheit, in dieser weltent-
rückten Beschaulichkeit eines lediglich Ackerbau und Viehzucht
treibenden Volkes, das sich in seiner Abgeschlossenheit und
Selbstgenügsamkeit, wie vielfach abgeschlossene Völker als das
auserwählte ansah, konnte sich ein Volk mit scharf ausgeprägten,
nie mehr verwischten nationalen Zügen, mit eigenartigem Geistes-
leben entwickeln, als dessen höchstes Erzeugnis wir die jüdische
Religion, das aus derselben hervorgegangene Christentum und
den von beiden in hohem Grade beeinflußten, ebenfalls, ja noch
schärfer monotheistischen Islam ansehen können. Aber die Er-
zeugnisse dieses Geisteslebens konnten sich in einem gegebenen
Augenblicke von diesem Punkte der Erdoberfläche aus rasch
nach allen Himmelsrichtungen hin verbreiten, nachdem eine Art
Weltkultur, die griechisch-römische, seit Alexander dem Großen
sich Bahn zu brechen und die Völker einander zu nähern be-
gonnen hatte, somit auch Palästina von außen her und gewaltsam
aus seiner Vereinsamung gerissen war, auch im Neugriechischen
ein ausgezeichnetes Verständigungsmittel geschaff"en war, das das
Hebräische und Aramäische in den Hintergrund drängte. Durch
die Römer, zuerst und allein in einer mehr als 3000jährigen
Geschichte, war Palästina, durch künstliche Häfen (Cäsarea), durch
mühsam angelegte und sorgsam unterhaltene Straßen, durch An-
legung von Militärkolonien, von einem Gürtel von Kastellen ge-
schützt, dem bewundernswerten Organismus ihres Reiches, wenn
auch erst nach Überwindung eines unerhört zähen Widerstandes,
eingefügt worden. Durch die Römer, wenn auch erst in spät-
römischer Zeit und mehr im Gewände griechischer Gesittung, ist
Palästina zu höchster Blüte emporgestiegen, ganz und voll in die
Bewegung der damaligen Zeit hineingezogen worden: eine für
die Ausbreitung des Christentums und in den Folgewirkungen
für das Land selbst bis auf den heutigen Tag hochbedeutsame
Tatsache. Denn nun, um in Karl Ritters Sprache zu reden, als
— go —
die Zeit vollendet war, als Palästina die Aufgabe gelöst hatte,
die ihm die göttliche Vorsehung von vornherein zugeteilt hatte,
trat ein anderer zu dem der Abgeschlossenheit in wunderlicher
Weise gegensätzlicher Charakterzug Palästinas in Wirksamkeit:
seine Lage mitten zwischen und in größter Nähe der größten
Welthandelsstraßen, welche die Mitternacht- und Abendseite der
Alten Welt mit ihrer Mittag- und Morgenseite verbanden, die durch
Nord Syrien und den Persischen Meerbusen einer-, durch Ägypten
und das Rote Meer andererseits. Den Herren dieser Welthandels-
straßen hielt Palästina keine Lockmittel entgegen, aber die Be-
wohner von Palästina selbst waren imstande, ihre Erzeugnisse,
stoifliche und geistige, in den Weltverkehr zu bringen. Diese Lage
an der Südostecke des eine große Westoststraße bildenden Mittel-
meeres, von welcher die Straßen durch das Rote Meer und von
Nordsyrien durch den Persischen Meerbusen nach Indien, die
Landstraßen durch Iran und Zentralasien nach China ausgingen,
erwies sich zunächst der raschen Ausbreitung der Juden und des
Judentums etwa seit und um Beginn unserer Zeitrechnung förder-
lich: bis nach Abessinien, Südarabien und Indien, andererseits
nach Ägypten, wo sich wohl vorzugsweise in der Welthandelsstadt
Alexandria, wie überhaupt infolge der durch die Römer herbei-
geführten Zersprengung des nationalen Staates und die Zerstreuung
des Volkes über das römische Reich und geflissentliche Ver-
treibung aus Palästina die Umwandlung des ursprünglich der
Natur des Heimatlandes entsprechend Ackerbau und Viehzucht
treibenden Volkes in ein Plandelsvolk vollzogen haben dürfte,
nach Barka, wo sie ja anfangs des 2. Jahrhunderts n. Chr. nahe
daran waren, ein neues Reich zu gründen, und weiter durch
Nordafrika und Südeuropa. Die Vertreibung der Juden aus Pa-
lästina durch die Römer, erst nach der Zerstörung Jerusalems
durch Titus, dann 65 Jahre später nach dem Aufstande des Bar
Kochba (132 — 135 n. Chr.), nach welchem sogar den Juden der
Zutritt nach Jerusalem untersagt wurde, ist im Grunde nur die
letzte, gründlichste, teilweise gewaltsame Verpflanzung oder Massen-
flucht der Bewohner, wie solche ja schon wiederholt stattgefunden
hatten. Ebenso verhielt es sich mit der Ausbreitung des Christen-
tums. Von Alexandrien aus verbreitete sich dasselbe längs der
heute wieder wichtigsten, an den größten Bruchgürtel der Erde
gebundenen Welthandelsstraße durch das Rote Meer nach Abes-
— gi -
sinien und Indien, andererseits durch das ganze Mittelmeergebiet
nach Westen, von Nordsyrien auf den Landstraßen, auf welchen
die Erzeugnisse des fernen unbekannten China dem Westen zu-
geführt wurden, nach Osten hin, durch Vorderasien bis nach
Zentral- und Ostasien, seit dem 7. Jahrhundert, wie noch heute
die sogenannte Nestorianische Tafel von Hsi-ngan-fu und ihre
syrischen Schriftzeichen im fernen China bezeugen. Wenn die
rechtgläubigen Kosmographen des Mittelalters, allerdings wohl
mehr aus religiösen Gründen, Jerusalem für den Mittelpunkt der
Welt hielten und als solchen auf ihren Weltkarten darstellten, so
war dies nicht aller geographischen Begründung bar.
Zu einer mittleren nordsüdlichen Erstreckung von 260 km,
also etwa die Entfernung Frankfurt a. M.— Göttingen, indem wir
die Nordgrenze von Ras-en-Nukra nach Nordosten zum Hermon
laufen lassen, etwa in der mittleren Breite von 33°i5'^^ die
Südgrenze unter 3i*'N ansetzen, können wir die westöstliche Er-
streckung zu 115 km annehmen. Dann mag Palästina an Größe
(30000 qkm) bei der Unsicherheit der zu ziehenden Grenzen
etwa einer der mittleren Provinzen Preußens (Pommern) ungefähr
gleichkommen. In der Tat ist in Palästina alles klein und eng,
die Entfernungen gering, trotz der schlechten Beförderungsmittel.
Der Anlage nach Tafelland ist es heute doch vorwiegend als
Berg- und Hügelland zu bezeichnen, das durch den tiefen Graben
des Ghor in zwei allerdings an Größe und Bedeutung ungleiche
Hälften zerlegt wird: das West- und das Ostjordanland. Die
dem Westjordanland vorgelagerte Küstenebene hinzugerechnet
besteht also Palästina aus vier einander parallelen, eng aufeinander
angewiesenen und einander durch gewisse Sonderzüge wirkungs-
voll ergänzenden Landstreifen. Die Form der Hochebene tritt
nur noch hier und da und stets in geringer Ausdehnung, am
meisten in dem niederschlagsärmeren Ostjordanlande hervor, in
welchem selbst nach Hüll, welcher das Ostjordanland als ein
flaches Gewölbe auffaßt, die wagerechte Lagerung der Schichten
streng gewahrt ist. Denn seit, auch geologisch gesprochen, recht
langen Zeiträumen (Ende der Eozänzeit?) arbeiten die zerstören-
den Kräfte des Luftkreises an der Modellierung des Landes, die
dann durch die Bildung des östlichen Mittelmeeres und der
Grabenversenkung nur noch rascher fortschreiten mußte. Beide
Ereignisse smd verhältnismäßig jugendlichen Alters, sie gehören
— 92 —
nach E. Sueß und nach Blankenhorn wohl erst dem Beginn der
Quartärzeit an. In Staffeln sanken die zerstückten Schollen der
Kreidekalktafel auf den Bruchspalten an der Westseite zu dem
sich ostwärts erweiternden Mittelmeere hinab, so daß man noch
heute vielfach von der Küste aus das Hochland in regelmäßigen
Stufen ansteigen sieht. Ebenso gegen das Ghor hin. Auf dem
Wege von Jerusalem nach Jericho steigt man so über drei Stufen
von der Höhe des Tafellandes, dessen Rand hier in dem Jeru-
salem noch um 67 m überragenden Ölberge noch 812 m er-
reicht, zu der 1189 m tiefer gelegenen Sohle des Grabens hinab.
Schon Bethanien liegt in steilem Abstieg 400 m unter dem Öl-
berge. Von da bewegt man sich über eine sanft nach Osten
geneigte Fläche bis etwa mittewegs Jerusalem — Jericho. Dann
steigt man wieder steil hinab auf eine breite, flachwellige Hoch-
ebene, auf welcher sehr willkommen als Rastort der Chan el Ha-
trura liegt. Von diesem aus erreicht man im dritten steilen Ab-
stiege die wüste Sohle des Ghor und auf derselben das noch
250 m tiefer gelegene Jericho. Weiter nach Süden, auf dem
Wege vom Hebron zum Toten Meere sind vier solcher Stufen zu
überschreiten, schärfer ausgeprägt, steiler, noch wilder durch-
schluchtet. Am steilsten ist der letzte, so den Rand des Gra-
bens bildende Abstieg am sogenannten Djebel Karantal, dem
Quarantania Berge, der nordwestlich über Jericho aufsteigt. Dieser
ist von der zweiten Hochfläche aus bequem zu erreichen, bis auf
acht Minuten kann man zu Pferde herankommen, während er von
Jericho aus als 300 m hohe, fast senkrechte Wand tafellagemder
Schichten erscheint, die von zahlreichen Höhlen durchbrochen
sind, mit den Resten an- und eingebauter Kapellen, Einsiede-
leien, u. dergl., welche, da heute die sie verbindenden Treppen und
Gänge zerstört sind, meist unzugänglich an der Felswand hängen.
Auf nur 21 km Entfernung in Luftlinie steigt man 1200 m hinab.
Eine gewaltige vulkanische Tätigkeit entwickelte sich nament-
lich in Nordpalästina auf den Bruchspalten des Ghor, die, wenn
auch wohl kaum bis in die eigentlich geschichtliche, so doch
gewiß bis in eine dieser naheliegenden Zeit angedauert hat, da
die jüngsten Lavaströme des Dscholan nach Noetling alt-alluviale
Geröllschichten des Jordantales bedecken und ähnlich denen der
Eifel schon vorhandene Täler benutzten, aus denen sie aber seit-
dem zum großen Teil schon wieder ausgewaschen sind. Auch
— 93 —
die häufigen, heftigen Erdbeben, die namentlich dem Ghor folgen
und in dessen Umgebung oft ungeheure Verwüstungen (Zerstörung
von Tiberias und Safed 1837, wo 5000 Menschen umkamen)
anrichten, die zahlreichen heißen Quellen des Ghor, im Flußbette
des linken Jordannebenflusses Jarmuk auf einer Strecke von
2'^!^ Stunden nicht weniger als zehn, sprechen dafür, daß die Bil-
dung dieses Grabens nicht weit zurückreicht und noch immer
Bewegungen dieser noch nicht wieder in sich verfestigten Schollen
der Erdrinde auf den Bruchspalten stattfinden. Der Westflügel
sank zu größerer Tiefe ab als der Ostflügel, es überragt daher
das Ostjordanland noch heute nicht nur im Süden, sondern auch
im Norden das Westjordanland beträchtlich. Eine sehr wichtige
Tatsache. Sowohl im West- wie im Ostjordanlande scheint sich
nämlich die Kreidetafel auf Querverwerfungen (Ebene Jesreel,
daher hier im Norden großartige vulkanische Tätigkeit) gegen die
Südgrenze der mittelsyrischen Horste hinzuneigen, in der Weise,
daß dieselbe im Südosten die größte Höhe hat und dort auch
die älteren, die Kreideschichten unterteufenden Gesteine zutage
treten. Während es aber im Süden zu beiden Seiten des Ghor
nur zu ganz geringfügigen Durchbrüchen jungeruptiver Gesteine
gekommen ist, bedecken solche im Norden die Kreideschichten
in großer Ausdehnung, aber vorwiegend und in bei weitem
größerer Mächtigkeit im Ostjordanlande, so daß dieses auch im
Norden das Westjordanland weit überragt. Diese vulkanische
Tätigkeit hat also auch ihrerseits wenigstens in Galiläa und in
der Nordhälfte des Ostjordanlandes die Oberflächenformen beein-
flußt, teils, wo es sich um Deckenergüsse handelt, wie zunächst
östlich vom Tiberiassee in der Landschaft Dscholan, im Sinne
der Erhaltung des Tafellandcharakters, teils, wie in Galiläa und
im Hauran, durch Bildung von Kuppen und Kuppengebirgen.
Die dem Meere zugekehrte Seite des Westjordanlandes ist
naturgemäß die niederschlagsreichere. Hier mußte die allgemeine
Abtragung rascher vor sich gehen, hier waren Flüsse und Bäche
wegen der größeren Breite der Abdachung, trotz des reichlicheren
Regens weniger erosionskräftig, sie haben ihre Täler weiter aus-
gearbeitet und der Abfall des Hochlandes ist daher hier, auch
unter dem Einflüsse der Staff'elbrüche, ein weit sanfterer als gegen
das Ghor hin. Aber noch immer steigt dem sich Palästina
nähernden Seefahrer, dem ursprünglichen Tafelland entsprechend,
— 94 —
das Hochland als wagerecht verlaufende blaue Profillinie am
Horizonte empor. Schwierig, leicht zu verteidigen sind auch die
Aufstiege von der Küste her, wenn auch nicht so schwierig wie
durch die grausigen Schluchten, in welche der Steilabsturz gegen
das Ghor hin zerrissen ist, da die Gewässer einen Höhenunter-
schied von looo — 1200 m auf eine Entfernung von meist nur
15 km zu überwinden haben, während es sich an der westlichen
Abdachung nur um Höhenunterschiede von 600 — 800 m auf
30 — 50 km handelt. Die Felswüste Juda westlich vom Toten
Meere ist geradezu durch die tiefen Schluchten der zum Toten
Meere eilenden Bäche und Flüsse gebildet, und ebenso liegen
die Bäche und Flüsse des Ostjordanlandes gegen das Ghor hin
in immer engeren und tieferen Schluchten. Für die Tiefenerosion
der Gewässer war auch das allgemeine Trockenklima von Be-
deutung, das an der Ghorseite schon mehr hervortritt wie an der
Mittelmeerseite. Die Wasserscheide lag im Westjordanlande wohl
ursprünglich gleich weit (etwa 15 km) vom West- wie vom Ost-
rande, sie ist aber dadurch, daß die Täler an der Westseite
rascher rückwärts verlängert wurden, mehr gegen das Ghor hin
verschoben worden, also an dieser Seite kurze, tiefe, steile Täler,
an der Westseite längere und flachere. Die Wasserscheide wird
also noch der am wenigsten zergliederte Teil des ursprünglichen
Tafellandes sein, die Linie, auf welcher der meridionale Verkehr
des Westjordanlandes daher am wenigsten Schwierigkeiten zu über-
winden hatte. An ihr werden also auch, wie noch näher aus-
zuführen sein wird, die wichtigsten Siedelungen liegen. Anderer-
seits an der Westseite am Ausgange der Täler in die Küsten-
ebene. Die Zerschnittenheit ' des Geländes durch die fortge-
schrittene Erosion und Denudation hat zahlreiche natürlich feste
Lagen auf Höhen geschaffen, welche die Bevölkerung anzogen,
so daß die meisten Siedelungen Palästinas malerisch auf und an
Höhen liegen.
Die Täler sind überall als Erosionsfurchen im Tafellande
gekennzeichnet auch dadurch, daß sie kaum merkbar auf der
Hochfläche oder in flachen Mulden beginnen und gegen den
überall scharf ausgeprägten und auch vom Volke so bezeichneten
Ausgang hin zu immer engeren und tieferen Schluchten werden.
Allerdings spricht vieles für die besonders von Hüll vertretene
Ansicht, daß die Bildung dieser Täler im wesentlichen in die
— 95 —
Glazialzeit fällt. Die recht kennzeichnend nicht etwa von einem
hohen Kamme gebildete, sondern häufig in flachen Einsenkungen
kaum erkennbare Wasserscheide ist jetzt etwa doppelt so weit
vom INIittelmeere, 30 — 50 km, wie vom Jordan, 15 — 20 km, ins
Innere zurückgeschoben und bildet eine nur mäßig gewundene
Linie.
Die Küstenebene.
Es sind also ungeheuere Massen von Feststoffen, namentlich
fast die ganze vorhanden gewesene Tertiärdecke, vom Hochlande
abgetragen und vorzugsweise an dessen Westfuße, teilweise aber
auch in den kleinen Becken und im Ghor abgelagert worden.
In diesem ist namentlich zur Ablagerung gekommen, was bei Bil-
dung der zahlreichen Schluchten und Täler, die ins Ghor ein-
münden, vom rinnenden Wasser entführt worden ist. Die Sohle
des Grabens muß also sehr viel tiefer gelegen haben wie heute,
selbst wie die größte Tiefe des Toten Meeres. Am Fuße des
Westjordanlandes kamen auch große Mengen von Sinkstoffen
hinzu, welche die Küstenströmung, die auch die Mündungen der
meisten Flüsse nach Norden abgedrängt hat, vom Nil her mit
sich führte und da, wo sie senkrecht auf die Küste stieß, ähnlich
wie in den Landes der Gascogne, zur Ablagerung brachte.
Wesentlich war dabei, daß die kalkhaltigen Gewässer des Hoch-
landes ein Bindemittel herbeiführten, so daß die losen Ablage-
rungen vielfach rasch zu festem Gestein, einem an Muscheln,
besonders Pectunculus glycineris und dessen Trümmern reichen
Kalksandstein verkittet worden sind: eine Erscheinung, welche
sehr häufig ähnliche Bildungen an den Küsten der in großer
Ausdehnung aus Kalkfels aufgebauten Mittelmeerländer kenn-
zeichnet. Doch muß wohl eine auch von den Geologen Lartet
und HuU angenommene Hebung des Landes damit Hand in
Hand gegangen sein, da die Aufschlüsse, welche für den Bau der
1892 eröffneten Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem nötig wur-
den, 2 — 4 km östlich von Ramie, also etwa 17 km vom heutigen
Meeresufer, unter einer wenig mächtigen Humusdecke i — 4 m
mächtige Lager von Flußkies, die Schuttkegel der vom Hochlande
herabkommenden diluvialen Flüsse, und unter diesen altquartären
gelben Meeressand ergaben. So ist dem Hochlande des West-
jordanlandes als ein neues, die Mannigfaltigkeit der geographi-
- 96 -
sehen Bedingungen vermehrendes Glied die Küstenebene vor-
gelagert worden, die im Mittel etwa 20 km breit wie zu erwarten
sich von Norden nach Süden verbreitert und wenigstens im Süden,
wo (von Hüll als eozän bezeichnete) rötliche Kalksandsteine in
vereinzelten bis 100 m und mehr hohen Hügeln, die hier und
da wohl auch fest gewordene Dünen sein dürften, unter den
jüngeren Auflagerungen als Zwischengürtel, dem Hochlande vor-
gelagert, zutage treten. Die Küstenebene macht daher dort, zu-
mal auch die vom Hochlande kommenden Gießbäche das Land
in flache Täler gegliedert haben, durchaus nicht den Eindruck
einer einförmigen Schwemmlandebene. Überall aber besitzt sie
große, geradezu sprichwörtlich gewordene natürliche Fruchtbarkeit,
namentlich in dem Saron genannten Teile nördlich von Jaffa, da
das Hochland ihrem auf weite Strecken tiefgründigen dunkeln
Humusboden seine am Rande des Hochlandes noch einmal von
starken Quellen genährten und daher hier ausdauernden Ge-
wässer zusendet, die somit zu Berieselungszwecken dienen können,
neben denen aber auch das in geringer Tiefe erreichbare Grund-
wasser durch Brunnen emporgehoben in Fülle zur Verfügung steht
und beispielsweise die Schaffung der üppigen Apfelsinenhaine von
Jaffa ermöglicht hat.
Gegen das Meer hin wird die Küstenebene durch einen
häufig recht breiten und bis 40 m Höhe erreichenden Dünen-
gürtel völlig abgeschlossen, hinter welchem sich hier und da
Binnengewässer stauen und Sümpfe bilden. Ja selbst kleine* Seen
kommen vor. An der Außenseite der Düne treten hier und da,
wie bei Jaffa, Cäsarea, 'Atlit, zu festem Gestein verkittete Ab-
lagerungen auf, die die Lage' dieser Küstenplätze bestimmten und
die Schaffung künstlicher Hafenanlagen ermöglichten. An anderen
Stellen, wie bei Askalon, überschütten die nicht verfestigten
Dünen, landeinwärts wandernd, das fruchtbare Land mehr und
mehr. Die Küstenebene macht etwa 1 1 ^/^ der Bodenfläche von
Palästina aus. Ihre größte Ausdehnung und Selbständigkeit er-
langt sie im Südwesten. Doch hat sie in der Geschichte des
Landes als Wohnsitz der Philister (d. h. der Eingewanderten) eine
bedeutungsvolle Rolle gespielt, denn erst nach einhalbtausend-
jährigem wechselvollem Kampfe wurden diese von den das Hoch-
land bewohnenden Israeliten unterworfen. Der Name Palästina
(bei Arabern und Türken Filistin) haftete ursprünglich nur an
— 97 —
diesem südlichen Teile der Küstenebene, wie auch der Name
Kanaan ursprünglich nur der Küstenebene gegolten zu haben
scheint. Auch darin prägt sich eine gewisse Selbständigkeit der-
selben aus, daß die zu allen Zeiten ganz festländischen, meer-
scheuen Israeliten sich erst spät zu Herrn derselben zu machen
vermochten. Erst im 2. Jahrhundert v. Chr. wird Jaffa, bis dahin
als Stützpunkt ihres Handels nach Ägypten und des palästinen-
sischen Außenhandels, den sie bis in römische Zeit völlig be-
herrschten, in den Händen der Phöniker, völlig jüdisch. Es
scheint, daß die Phöniker ähnlich an der Küste von Palästina
saßen und allen Seeverkehr der durchaus binnenländischen Is-
raeUten beherrschten, wie noch heute die Griechen den der Bul-
garen und Türken. Ursprünglich reich gebuchtet und keineswegs
dem Seeverkehr ungünstig gestaltet, ist durch Ausgleichung aller
Buchten und Vorsprünge durch Küstenströmung, Küstenversetzung
und landbildende Tätigkeit der Flüsse die heutige eiserne Küste
entstanden. Nur von außen her konnte an dieser Küste Seever-
kehr heimisch gemacht werden. Jaffa war dafür noch der
günstigste Punkt, da hier vor einer felsigen, natürlich festen An-
höhe (phönik. Jope) eine Reihe flacher Klippen kleinen Schiffen
Schutz gewährte. Freilich ist die nur 8 m breite Einfahrt in die
von den Klippen gebildete Reede schwierig und gefahrlich. Cä-
sarea, weiter nach Norden, in römischer Zeit die bedeutendste
Stadt Palästinas, 'Atlit und 'Akka, Hauptsitze des Verkehrs in
den Kreuzzügen ähnlich an felsige Höhen geknüpft, entbehrten
selbst dieses Schutzes und vermochten daher nur in günstigen
Zeiten ihre Kunsthäfen und damit ihre Bedeutung zu erhalten.
Gaza, die größte Stadt der Küstenebene, obwohl ganz nahe am
Meere gelegen, ist doch ohne alle Beziehungen zu demselben.
Westjordanland.
So von der Küstenebene sanfter, vom Ghor steil aufsteigend
erscheint das Westjordanland als ein von Norden nach Süden
an Breite und Höhe zunehmendes Hochland. Bei einer mittleren
Breite von 50 — 60 km und einer Höhe von 600 — 800 m erheben
sich auch die höchsten, 1000 m nur wenig übersteigenden Punkte
durchaus in sanften Wellenlinien. Die sich rasch mindernde
Höhe, dadurch bedingt auch die Verringerung der Niederschläge,
der Pflanzendecke und der Anbaufähigkeit setzen dem West-
Fischer, Mittelmeerbilder. 7
- 98 -
jordanlande und damit ganz Palästina ungefähr unter den 3 1 . Pa-
rallel, seine Südgrenze auf der Grenze von Kulturland und Wüste
(Et Tih), während seine Nordgrenze jenseits des ;^^. Parallels
durch den rasch zu großer Höhe aufsteigenden Libanon und die
als Grenzgraben davor gelegene tiefe Erosionsschlucht des Nähr
Kasimije, des Flusses von Mittelsyrien gebildet wird.
Trotz der geringen absoluten Höhen macht das waldarme,
ja meist geradezu kahl erscheinende Land einen reich geglieder-
ten Eindruck, häufig, namentlich gegen das Ghor hin ein schwer
zu entwirrendes Chaos von Berg und Tal, dessen Grundform nur
die in den Tälern aufgeschlossenen wagrecht liegenden Schichten
zu erfassen erlauben. Wenn auch dem Kalkfels und dem Klima
entsprechend arm an dauernd rinnenden Gewässern; ja überhaupt
an Wasser, erscheint es doch überall auch wegen der großen
Höhenunterschiede , die den meist plötzlich hereinbrechenden
Wassermassen noch heute große Erosionskraft verleihen, tief durch-
schluchtet und, wie die meisten Kalkgebiete der Mittelmeerländer,
arm an Humus. Es herrscht also in großen Landesteilea die
nackte Felslandschaft vor, nur von oasenartigem Anbau unter-
brochen, ja der südöstliche Teil von Judäa, die hier ziemlich
breite, im Regenschatten gelegene Abdachung zum Toten Meere
hin, östlich der Linie Jerusalem— Hebron wird geradezu zur Fels-
wüste, der Wüste Juda, die, auch wegen der Armut an Quellen
und schwer zu findenden Wasserlöchern, auch im Altertume ohne
seßhafte Bewohner, im Sommer ein Glühofen, mit ihren tiefen,
unzugänglichen Schluchten und Höhlen die Zufluchtsstätte von
Verfolgten und Räubern, wie noch heute die hier ihre Herden
weidenden Beduinen als Raubgesindel gefürchtet sind. In früh-
christlicher Zeit war diese Wüste Juda ein wahres Paradies für
selbstquälerische Einsiedler. Das Kloster Mar Saba, ein fast un-
zugängliches Felsennest, ist die einzige noch erhaltene dieser
einst zahlreichen Siedeleien.
Wie schon erwähnt, entspricht der vorherrschende Steinbau
und Bogenwölbung der Fülle der vorhandenen leicht zu be-
arbeitenden Bausteine und Kalkmörtel, nächstdem dem Mangel an
Bauholz. Die Häuser sind klein, würfelförmig, mit flachem oder
Kuppeldach. Im Haurau, wo ein jungeruptives plattiges Gestein zur
Verfügung steht, baut man sogar völlig unter Ausschluß von Holz.
Selbst die Türen sind aus Stein. Nur wo die tonigen Verwitte-
— 99 —
rungsrückstände des Kalkfels oder andere geeignete Bodenarten
vorhanden sind (in den Ebenen) wird der Steinbau vielfach durch
den noch bequemeren Luftziegelbau ersetzt. Freilich sind letztere
Bauten trotz der Beimischung von Stroh wenig haltbar, die Wände
selbst nicht einbruchsicher, die Dächer im Winter so undicht,
wie jeder Reisende unliebsam feststellen kann, daß sie unab-
lässiger Überwachung bedürfen und schon in der Bibel sprich-
wörtlich gebraucht wurden. Viele der zahllosen sogenannten Teil
sind nichts als Trümmerhügel solcher Luftziegelsiedelungen.
Die Dürftigkeit der Humusdecke ist, wie wir sahen, eine
zunächst petrographisch bedingte Erscheinung, der aber auch die
khmatischen Verhältnisse entsprechen: halbjährige Regenlosigkeit,
während deren die aufgerissene, von Menschen und Tieren noch
weiter gelockerte Humusdecke vom Winde verwehrt wird, wech-
selt mit darauf folgender Regenzeit, deren heftige Güsse den
losen Boden wegspülen. Gewiß ist aber die heutige Humus-
armut etwas im Laufe von Jahrtausenden durch diese Vorgänge,
durch Waldverwüstung, Rückgang des Anbaus, Verfall der Ter-
rassen, durch die man seit uralten Zeiten mit der ersten Verdichtung
der Bevölkerung die fruchtbare Erde zurückzuhalten gelernt hatte,
erst Gewordenes. Indessen, ein Land, wo Milch und Honig fließt,
konnte schon im Altertume Palästina nur in den Augen von
Wüstenbewohnern sein, genau so wie man sich bei den Schilde-
rungen der Oase von Damaskus als irdisches Paradies seitens
der arabischen Dichter gegenwärtig halten muß, daß sie von
Wüstenbewohnern ausgehen. Nachdem einmal geschichtliche Vor-
gänge, der Sieg der Wüstenbewohner über die verweichlichten
Kulturlandbewohner einen jähen Rückgang des im Laufe einer
langen Reihe friedlicher, glücklicher Jahrhunderte von vielen Ge-
schlechtem stetig und sorgsam gesteigerten Anbaues und der
Bewohnerzahl herbeigeführt hatten, mußten sich in wesentlich
kürzerer Zeit den heutigen ähnliche Verhältnisse ausbilden, wo
Ackerbau und Weidewirtschaft einander ungefähr die Wage halten,
jener auf die Täler, die sanften Hänge und die Ebenen, dieser
auf die humusarmen Felslandschaften begründet. Fruchtbare
Ebenen und Becken sind aber auf dem Hochlande nur in ge-
ringer Zahl und Ausdehnung vorhanden. In Judäa fehlen sie so
gut wie ganz; mehrfach, im Winter sich zum Teil in flache Seen
verwandelnd, treten sie in Samaria, namentlich aber in Galiläa
— lOO —
auf, das durch vulkanische Tätigkeit wechselvoller gestaltet ist
und fruchtbareren Boden besitzt, wegen der nördlicheren Lage,
beträchtlicher Höhen an der Nordgrenze — der Djebel Dschermak
ist mit I200 m der höchste Punkt des Westjordanlandes — und
der Nähe des Libanon auch niederschlags- und quellenreicher.
So ist Galiläa durch diese und andere Sonderzüge — Ebene
Jesreel, See von Tiberias — , wie auch in der Geschichte hervor-
tritt, eine zu Judäa in noch höherem Maße, wie das auch schon
reicher ausgestattete Mittelland Samaria eine vielfach gegensätz-
liche Landschaft, freilich nur von etwa 4000 qkm Flächeninhalt.
Ihre Südgrenze bildet das steil über der großen, durch vulkanische
Zersetzungsstoffe und Wasserreichtum fruchtbaren Ebene Jesreel
aufsteigende Bruchgebirge des Karmel. Diese größte, in einem
Engtale vom Kison nach Westen entwässerte Ebene des West-
jordanlandes hat darum und wegen der verhältnismäßig leichten
Beziehungen zum Ghor und zum Ostjordanlande als Durchgangs-
land des Verkehrs die Rolle des großen Schlachtfeldes von Pa-
lästina gespielt, auf welchem von Barak und Debora an bis auf
Bonaparte (1799) so und so oft die Würfel über die Geschicke
des Landes geworfen worden sind. Ihrer leichten Zugänglichkeit
von Osten her verdankte sie es aber auch, daß sie so oft von
den Beduinen geplündert wurde und daher bis vor kurzem ent-
völkert war. Über ihr erhebt sich in Galiläa der auch geschicht-
lich so wichtige, wenn auch nur 562 m hohe vulkanische Kegel
des Tabor.
Aus der reichlichen Durchschluchtung des Landes ergibt
sich eine ganze Reihe wichtiger geographischer Tatsachen. Zu-
nächst seine geringe Wegsamkeit. Bis vor kurzem gab es nur
eine einzige durch Europäer gebaute Straße, die von Jaffa nach
Jerusalem, auf welcher deutsche Unternehmer und Kutscher den
Verkehr vermittelten. Sie ist nach Jericho verlängert und 1892
durch eine Eisenbahn ersetzt worden, zu welcher neuerdings,
namentlich in Verbindung mit der Reise des deutschen Kaisers,
Fahrstraßen von Haifa und Akka nach Nazareth und Tiberias
und die im Bau begriffene und bereits bis zum Ghor vollendete
Eisenbahnlinie von Haifa nach Damaskus hinzugekommen ist.
Damaskus ist auch der Anfangspunkt von zwei das Ostjordan-
land erschließenden Eisenbahnen geworden, einer älteren nach
dem Haurau, die jetzt mit der von Haifa ausgehenden ver-
lOI —
bunden wird, und einer jetzt von der türkischen Regierung nach
Arabien in Angriff genommenen und bereits bis in die Breite
des Nordendes des Toten Meeres in Betrieb befindlichen. Aber
bis vor kurzem war Wagenverkehr in Palästina seit römischer Zeit
unbekannt. Man mußte zu Fuß gehen oder zu Esel, zu Maul-
tier oder zu Pferd reisen. Aber selbst die Reitwege sind hals-
brechend in dem gebirgigen, felsigen Lande. Nur in römischer
Zeit war Palästina mit einem Netz von Straßen überzogen, die
aber nur bei sorgsamer Pflege erhalten werden konnten und von
denen man heute nur noch Spuren erkennt. Der uns schon aus
der Zeit um 1400 v. Chr. auf einem ägyptischen Papyrus recht
drastisch geschilderte Versuch eines hohen Beamten des Pharao,
das Hochland von Palästina, wie er es in Ägypten gewohnt war,
im Wagen zu bereisen, würde auch heute noch mit der baldigen
Zertrümmerung des Wagens ein klägliches Ende finden. Selbst
die Verwendung von Streitwagen war im Altertum nur örtlich
möglich. Doch mag es später teilweise besser geworden sein,
da Wagen in der Bibel erwähnt werden.
Eine zweite Folgewirkung der Durchschluchtung des felsigen
Landes war die Schaffung zahlreicher, natürlich fester, luftiger,
gesunder Lagen, die durch Anlage von Zisternen dauernd be-
wohnbar wurden und an welche fast alle älteren, geschichtlich
wichtigen Siedelungen geknüpft sind. Eine dritte das Vorhanden-
sein einer natürlichen, die verhältnismäßig geringsten Gelände-
schwierigkeiten bietenden Verkehrslinie in nordsüdlicher Richtung
auf der Wasserscheide, eine Verkehrslinie allerdings nur für den
inneren Verkehr, obwohl das als Damaskustor bezeichnete Nord-
und Haupttor von Jerusalem auf weitere Beziehungen hinzuweisen
scheint. Daraus ergibt sich als vierte Folgeerscheinung, daß die
wichtigsten Siedelungen des Westjordanlandes, ja, von den Küsten-
städten Gaza, das tatsächlich eine nur Landhandel treibende
Ackerstadt, der Schlüssel Palästinas von Ägypten her war, Jaffa
und 'Akka, die aber alle in der eigentlich jüdischen Zeit nicht in
jüdischem Besitze waren, abgesehen, überhaupt alle wichtigeren
Orte Palästinas recht im Gegensatze zu Mittelsyrien als Binnen-
orte in einer dem Ghor nahen nordsüdlichen Linie zu allen
Zeiten lagen und noch liegen. Um nur die größten zu nennen:
Safed, Nazareth, Dschenin, Nabulus, Jerusalem, Bethlehem, Hebron.
Nabulus liegt so augenfällig auf der Wasserscheide, daß der Ort
— 102
davon seinen älteren Namen Sichern == Schulter erhalten hatte.
Allen aber ist bedeutende Meereshöhe eigen. Hebron liegt sogar
927 m über dem Meere. Einzelne größere Siedelungen des Ost-
jordanlandes (El Kerak 1026 m), namentlich aber im Hauran (El
Kanawat 1244 m) liegen noch höher. Die kleineren steileren
Höhen dieser Nordsüdlinie, namentlich die gegen das Ghor vor-
springenden, sind ausnahmslos mit den Trümmern von Burgen
aus den verschiedenen Zeiten, besonders aus den Kreuzzügen,
gekrönt. Diese Linie ist somit in jeder Hinsicht die geschichts-
reichste des geschichtsreichen Landes. In besseren Zeiten war
allerdings auch die Reihe der Küstenstädte eine vollständigere.
Und ihr entsprach eine dritte künstlich geschaffene und nur in
der friedlichsten Zeit vorhandene Reihe von Siedelungen in den
Berieselungsoasen an der Westseite des Ghor, eine vierte im Ost-
jordanlande. Eine besonders zähe Lebenskraft besaßen aber nur
die Siedelungen der Wasserscheidereihe. Die Lage an diesem
von den Römern ehemals auch als Heerstraße ausgebauten Ver-
kehrswege, auf und an felsigen Höhen, welche die weißen Stein-
würfel der Häuser zu erklimmen scheinen, eine fruchtbare Um-
gebung, das sind die entscheidenden Umstände für die Entwick-
lung dieser Siedelungen. Als besonders günstig kommt noch die
Kreuzung des Meridionalweges durch einen Querweg hinzu.
Jerusalem.
Daß Jerusalem seit den ältesten Zeiten die bei weitem wichtigste
Stadt Palästinas geworden und geblieben ist, erklärt sich aus der
natürlichen Festigkeit seiner Lage und dem Umstände, daß hier die
nordsüdliche Verkehrslinie von der bequemsten ostwestlichen ge-
kreuzt wird, die, Jerusalem in die engsten Beziehungen zum Ghor und
zum Ostjordanlande setzend, das Ghor und den Jordan unmittel-
bar am Nordende des großen Verkehrshindernisses des Toten
Meeres überschreitet. Die Oase von Jericho und das Engtal des
unteren Wadi Kelt bestimmen ihren Aufstieg aufs Hochland. So
muß auch aller Verkehr nach dem Ostjordanlande von der Küste
her, von Gaza bis Cäsarea, in Jerusalem zusammenlaufen. Jeru-
salem ist eine Bergstadt in gebirgigem Lande, Felsige Kalk-
gebirge ringsum, wie ein Blick vom Ölberge über die Stadt und
das Gewirr kahler Berge und Schluchten, besonders nach Osten
bis zum 1200 m tiefer gelegenen Toten Meere zeigt. Die Wein-
— I03 —
Pflanzungen und Olivengärten, die dem Felsboden abgerungen
sind, sind von Trockenmauern aus den zusammengelesenen Ge-
steinsbrocken umgeben. Felsengräbern begegnet man allenthalben,
ebenso steinreichen Friedhöfen.
Jerusalem ist ursprünglich Festung und hat als solche in
allen Zeiten, immer und immer wieder in wahrhaft bewunderns-
werter Weise hergestellt und verstärkt, eine Rolle gespielt. Noch
heute ist es von gewaltigen 12 m hohen Mauern und von 34 Tür-
men umgeben, die Sultan Soliman 1542 hat errichten lassen.
Sie sind natürlich heute um so wertloser, als die Stadt, die allent-
halben über die Mauern hinausgewachsen ist, von dem um 67 m
höheren Ölberge und anderen Höhen beherrscht wird. Die zahl-
losen Belagerungen, bei denen die Umgebung verwüstet wurde,
haben gewiß sehr viel dazu beigetragen, daß diese selbst für
Judäa recht öde erscheint und namentlich bis vor kurzem er-
schien und so der Pilger, der nicht etwa auch die nördlichen
Landschaften kennen lernt, einen doch gar zu ungünstigen
Eindruck vom Heiligen Lande erhält. Die Lage von Jerusalem
ähnelt in gewissem Grade derjenigen unseres mittelalterlichen
Schmuckkästchens Rothenburg ob der Tauber. Es liegt an der
Nordwestecke 789 m, im Tempelberge 744 m über dem Mittel-
meere, in mehr als Brockenhöhe über dem nur 2 1 km entfernten
Ghor, auf einer an drei Seiten durch steile und noch heute tiefe
Bachtäler (Kidron- und Hinnomtal) aus der wasserscheidenden
Hochfläche herausgeschnittenen, hügeligen Halbinsel, deren ur-
sprüngliche Formen allerdings durch Unterbauten, Einebnungen
und Abtragungen der Felsen, künstliche Bearbeitung der Fels-
wände zu senkrechten Abstürzen u. dgl. , vor allem aber durch
die ungeheure Schuttanhäufung der Zerstörungen vielfach verwischt
sind. Mehrfach erreicht diese überall erkennbare Schuttschicht
eine IMächtigkeit von mehr als 10 m, ja die Täler, besonders das
Tyropöon, das den Osthügel, Moria-Zion, auf dem David eine Burg
hatte, wo der Tempel lag, von dem Westhügel trennte, sind durch
dieselbe um 25 m aufgehöht. Die heutige Via dolorosa liegt
12 — 15 m über der alten Straße. Bei Ausgrabungen und Funda-
mentierungen entdeckt man eine geschichtliche Periode mit ihren
Trümmern unter der anderen, oft Säulentrümmer und Werkstücke
von gewaltigen Ausmessungen: grelle Gegensätze zu der dürftigen
Gegenwart! Die Stadt macht vielfach einen verfallenen Eindruck.
— I04 —
Kuppelgewölbe herrschen vor, doch sind auch Ziegeldächer
häufig. Von den künstlichen, neben den fast unter jedem Hause
angebrachten Zisternen so wichtigen großen offenen Wasser-
behältern ist der am höchsten gelegene Mamilateich vor dem
Jaffatore meist noch mit Wasser gefüllt, aber der Birket Israin
in der Stadt, in dem man früher den Teich Bethesda sah, ist
derartig mit Schlamm und Unrat gefüllt, daß er im Sommer
mehr einem stinkenden Pfuhle gleicht. Auch der sogenannte
Patriarchenteich, der von ersterem gespeist wird, liegt im Sommer
meist trocken.
Gegen den östlichen Steilabsturz zum Ghor vorgeschoben
liegt Jerusalem heute nahe der Grenze des der festen Siede-
lungen entbehrenden Gebietes. Nur nach Norden und Nord-
westen bedurfte die Stadt stärkerer Befestigungen durch starke
und hohe Mauern und Türme und in den Felsen gehauene
Gräben, gegen die aber stets als dennoch schwächsten Punkt die
Belagerer ihre Angriffe zu richten pflegten. Die ehemals starke
Zitadelle am wichtigsten Jaffatore, aus dem zugleich der Verkehr
nach Süden geht, umfaßt wohl noch zwei von den Türmen,
welche den Palast des Herodes umgaben. Der Davidsturm
dürfte der Turm Phasael sein, den Josephus beschreibt. Er läßt
noch seine für jene Zeit erstaunliche Festigkeit erkennen. Die
Zitadelle liegt da, wo das Hinnomtal sich nach Westen wendet
und verflacht, der natürliche Schutz, den es gewährt, also auf-
hört, zugleich aber auch ein Tor für den Verkehr nach Westen
und Süden liegen muß, daher von den Christen Jaffator, von
den Muslim Bab-el-Chalil, Hebrontor, genannt. In der Zeit der
größten Ausdehnung unter Herodes, also zu Christi Zeit, dehnte
sie sich weiter nach Norden aus, die einzige Stelle, an der sie
organisch wachsen konnte, über die heute außerhalb der Soli-
manischen Mauer gelegene, aber jetzt auch wieder bebaute Hoch-
fläche, andererseits aber auch nach Süden, wo sie jetzt nicht
mehr in den Winkel zwischen Kidron- und Hinnomtal hinein-
reicht, wenn auch noch Häuser dort stehen, vor allem aber sich
Begräbnisplätze finden.
Diese Gunst der Lage erklärt, daß sich hier schon in weit
zurückliegender Zeit eine Siedelung entwickelt hat. Schon in
vorisraelitischer Zeit, um 1400 v. Chr. wird eine solche mit dem
gleichen Namen Urusalim, Friedensstadt, auf den in Tell-el-
— I05 —
Amama in Ägypten gefundenen, in babylonischer Keilschrift und
in assyrischer Sprache geschriebenen Tontafeln erwähnt, Briefen,
deren mehrere von dem damaligen Ägypten unterworfenen Herr-
scher von Jerusalem herrühren, die heute zum Teil im Berliner
]\Iuseum aufbewahrt werden. Daher ließ es sich David soviel
Mühe kosten, die Stadt der jebusitischen Urbewohner zu erobern,
die sich, dank ihrer Festigkeit, Jahrhunderte lang nach der Ein-
wanderung der Israeliten unabhängig zu behaupten vermocht
hatte. Mit richtigem Blicke machte er sie zu seiner Hauptstadt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Übergewicht des im
übrigen am dürftigsten ausgestatteten Judäa in erster Linie auf
dem Besitze eines so wichtigen Mittelpunktes beruhte, nächstdem
auf dem langen Kampfe mit den Urbewohnem und den Phi-
listern. Die geschichtliche Bedeutung und die Gunst der Lage
erklären schließlich auch, daß immer wieder ein neues Jerusalem
auf den Trümmern eines zerstörten erstanden ist.
Seit David trat nämlich ein neuer Faktor in Wirksamkeit:
Jerusalem wurde als Hauptstadt zugleich auch Hauptsitz des
jüdischen Monotheismus und somit eine heilige Stadt, zunächst
der Juden, dann aber auch der Christen, der Mohammedaner,
bei denen sie geradezu El Kuds, die Heilige, genannt wird. Als
Herren haben diese die Höhe, welche den Tempel trug, zu einem
heiligen Bezirke mit der berühmten Aksa-Moschee und dem Felsen-
dom, Kubbet-es-(^achra, über dem geheiligten Felsen, von dem aus
Mohammed gen Himmel gefahren sein soll, umgeschaffen, wohin
zu wallfahrten dem frommen Muslim nur die Pilgerfahrt nach
Mekka nachsteht. Die geschichtliche Bedeutung bedingt seitdem in
erster Linie das Wohl und Wehe von Jerusalem und des ganzen
Landes. Auf Schritt und Tritt begegnet man daher in Palästina
geschichtlichen Denkmälern, zahlreicher, verschiedenartiger als in
Griechenland und Italien (Sizilien vielleicht ausgenommen), wenn
auch nicht so großartig und wohlerhalten. Teils absichtlich zer-
stört, teils von späteren Geschlechtern als bequeme Steinbrüche
benutzt, bieten sie freilich, außer im Ostjordanlande, nur dürftiges
Trümmerwerk. Palästina ist geradezu das geschichtsreichste Land
der Erde und es begreift sich, daß ähnlich wie in Griechenland,
aber in noch höherem Maße, bis vor kurzem die geschichtliche
Erforschung desselben bis zum Überdruß die geographisch-natur-
wissenschaftliche völlig überwucherte.
— io6 —
Die geschichtliche Bedeutung, die Eigenschaft Jerusalems als
heilige Stadt für alle christlichen Bekenntnisse, für Juden und
Mohammedaner dürfte aber wohl noch niemals sich in so hohem
Maße aufgedrängt haben wie in der Gegenwart mit ihren er-
leichterten Verkehrsverhältnissen. Unter den 60 000 Bewohnern,
die man in der in der Neuzeit rasch gewachsenen und wachsen-
den Stadt jetzt annimmt, sind die mohammedanischen Herren,
Araber imd wenige Türken, mit etwa 7000 Köpfen schon weit in
der Minderheit, während man die Zahl der Juden, überwiegend
wieder zugewanderte, zu 40 000, die der Christen zu 1 3 000 an-
nimmt. Die Juden verfügen über mehr als 70 Synagogen und
über zahlreiche Hospize; Christen aller Bekenntnisse und der ver-
schiedensten Nationen aus vier Erdteilen haben hier ihre Kirchen,
ihre Klöster, die griechische deren allein 21, ihre Hospitäler,
Waisenhäuser, Schulen u. dgl., oft eigenartige Bauwerke, ganze
Stadtteile, wie das große alte armenische Kloster in der Süd-
westecke der Stadt, das 3000 Pilger aufzunehmen vermag, oder
die von einer hohen Mauer umschlossene russische Ansiedelung
nordwestlich von der Altstadt, die hochgelegen die Stadt wie
eine Festung beherrscht. Auf der Hochfläche im Nordwesten der
Altstadt dehnen sich 2 km weit weitläuftig gebaute, große Höfe
und Gärten umschließende europäische Niederlassungen aus. Ab-
gesehen von den verschiedenen deutschen protestantischen und
katholischen Anstalten innerhalb und außerhalb der Altstadt, das
Johanniterhospiz, das Hospital der Kaiserswerther Diakonissen usw.
haben deutsche Ackerbauer und Handwerker, eine Niederlassung
der Templer, zu 400 Köpfen vor den Südtoren der Stadt ein
geschlossenes Gemeinwesen gebildet, neben welchem sich jetzt
der Bahnhof erhebt. Die deutsche protestantische Gemeinde
zählt 200 Köpfe. Nicht weniger als 24 verschiedene Religions-
gesellschaften, wovon allein 12 christliche, beherbergt die Stadt,
deren eng gebaute, steile, winklige, schmutzige Straßen in ihrem
4 km messenden unregelmäßigen Mauerviereck längst nicht mehr
genügen. Sie zerfällt in vier Viertel nebst dem zu allen Zeiten
für heilig gehaltenen Bezirke des heutigen Haram-esch-Scherif.
Die Straßen sind schmal, winkelig, oft überdacht oder überspannt,
unsauber, mit vielen Sackgassen und wenigen freien Plätzen.
Jerusalem trägt heute mit den unablässig wechselnden Bildern
seines Straßenlebens, da sich auch die Nationen und Religionen,
— I07 —
namentlich die zahlreichen Priester, auch durch ihre Tracht unter-
scheiden, mehr als jemals den Charakter einer ganz eigenartigen
Weltstadt, grundverschieden von denen etwa Westeuropas, nämlich
einer heiligen Stadt, des Sitzes und Ausgangspunktes dreier Welt-
religionen, in welcher sich das ganze Leben um Religion und
Bekenntnis, meist in wenig erfreulicher Weise dreht, deren Be-
wohner geradezu von der Heiligkeit ihrer Stadt leben. Wirklich
erwerbende Bewohner hat Jerusalem nur wenige.
Das Ghor.
Das Ghor, d. h. das Tiefland, wird gekennzeichnet durch
den drei Seen verbindenden Jordan, der in geringer Entfernung
>ron seiner eigentlichen Quelle in dasselbe eintritt und zunächst
«die zum Teil wohl erst durch seine Sinkstoffe gebildete, frucht-
bare, aber zum Teil versumpfte und von Papyrusdickichten be-
deckte, daher ungesunde Ebene am Nordende des Hulesees, ein
Paradies für Büffel, Wildschweine und Wasservögel durchfließt.
Wohl durch vulkanische Massen, die sich in das Ghor ergossen,
aufgestaut, ist der See heute noch 6 km lang und 5 km breit,
seine Tiefe gering. Sein Spiegel liegt nur 2 m über dem Mittel-
meere. Der Tiberiassee, in welchem die Gewässer zum zweiten
Male eine Ruhelage annehmen, liegt bereits 208 m und das an-
nähernd an Fläche einem doppelten Bodensee gleiche Tote Meer,
wo sie dauernd in Ruhelage gelangen, bei mittlerem Wasser-
.stande 394 m unter dem Mittelmeere. Südlich vom Toten Meere
steigt die Sohle des Grabens von rund 800 m unter dem Mittel-
meerspiegel wieder über denselben empor, so daß die wasser-
scheidende Schwelle im Wadi Arabah, etwa zwei Drittel Weges
nach Akabah 1000 m über jenem tiefsten Punkte, nämlich 229 m
über dem Mittelmeere liegt, Jenseits dieser kaum merkbaren
Schwelle bilden sich wenigstens während des Winters noch an
zwei Stellen Seen an der Sohle des Grabens. Das Gefäll des
die Lahn an Lauf länge nur wenig übertreffenden, aber noch
windungsreicheren Jordan muß somit bei einem Höhenunterschiede
zwischen Quelle und Mündung von 914 m und mit Rücksicht
auf die beiden eingeschalteten Seespiegel ein sehr bedeutendes
sein. Reißenden Laufs mit 210 m Gefälle auf 16 km, also
eigentlich in ununterbrochenen Stromschnellen durchfließt er zwi-
schen dem Hule und dem Tiberiassee das hier zum Teil durch
— io8 —
vulkanische Massen ausgefüllte Ghor in tiefer Erosionsschlucht
bis er am Nordwestufer des Tiberiassees in die fruchtbare und
wohlbewässerte, aber heute unbebaute Ebene El Ghuweir (das
kleine Ghor), einst ein großer Garten, eintritt.
Das Tal und der Lauf des Jordan, der treffend benannt
ist, hebräisch Jarden, der Herabeilende, beginnt weit im Nord-
westen des Hennon, im AntiUbanon, im sogenannten Wadi-el-
Tein, der eigentlichen Heimat der Drusen, nahe der Straße und
Eisenbahn von Berut nach Damaskus, in einer Breite, die noch,
acht Bogenminuten nördlich von Damaskus liegt, also in ^^^ 38' N.
Bis zum Hule beträgt seine Lauf länge 73 km, zwischen Hule
und Tiberiassee 16 km, vom Tiberiassee bis zum Toten Meere
144 km, also die ganze Lauf länge 330, die beiden Seen ein-
gerechnet 357 km. Aber das oberste Tal führt nur im Winter
Wasser, so daß man als fernste Quelle die nördlich von der
Hermonstadt Hasbeya hervorbrechende Quelle des Nähr Hasbani
in 520 m Meereshöhe ansieht. Von da an ist ein dauernder
Wasserlauf in enger Erosionsschlucht vorhanden, die sich erst
18 km nördlich vom Hule zu dem breiten Graben des Ghor
ausweitet. Diesem rinnen von Nordosten her zwei noch wasser-
reichere Bäche zu, der Nähr el Leddän und der Nähr Banijas,.
die sich 1 1 km nördlich vom Hule , in seiner heutigen Aus-
dehnung, in bereits nur mehr 43 m Meereshöhe miteinander
und mit dem Nähr Hasbani vereinigen. Diese beiden Quell-
bäche, von denen el Leddän der wasserreichere ist, führen die
Wasservorräte des Hermon herbei, an dessen Fuße sie, eigent-
lich als zutage tretende bisher unterirdische Flüsse aufzufassen^
hervorbrechen, die el Leddän in einem fast kreisförmigen, 50 m
im Durchmesser messenden kristallklaren Becken, die von Banijas;
aus einer Höhle in steiler Felswand: echte Karstbäche. Die
Quelle von el Leddän führt doppelt so viel Wasser, wie die vork
Banijas, dreimal so viel wie die des Nähr Hasbani. Jene liegt
154 m hoch, diese 32g m. In dem Namen der ersteren ist noch
der alte Name Dan erhalten, denn über dem Quellbecken erhebt
sich ein wohl künstlicher Hügel Tell-el-Kadi, auf dem das alte
Dan lag, die nördlichste Grenzstadt von Palästina. Banijas ist
das alte griechische Paneas, weil die Quellgrotte des Jordan dem
Pan geweiht war, später Cäsarea Philippi genannt, wohl der
nördlichste Punkt, welchen Christus besucht hat. Beide sind ge-
— log —
schichtlich wichtige Orte, reich an Altertümern, Inschriften usw.
Über der alten Feste von Banijas erhebt sich noch eine gewaltige
Kreuzfahrerfeste, Kalat es-Subebe, die eine wundervolle Aussicht
auf den Hermon und den Hulesee bietet.
Das Nordende des Ghor, in welchem sich so die drei Quell-
bäche des Jordan vereinigen, wird von einem großen Sumpfe,
dem Ard el Hule eingenommen, der teils von offenen Wasser-
flächen, teils von Rohr- und Papyrusdickichten von größter Üppig-
keit gebildet wird, durch welche sich der Jordan hindurchwindet:
ein Paradies für Büffel und Wasservögel, im Sommer aber ein
Malariaherd. Der Hulesee, der mit dem Merom des Altertums
kaum identisch sein kann, ist ein kleines flaches Becken, höch-
stens 5 m tief. Die Ebene ist durch Anschwemmung auf seine
Kosten gebildet, so daß der ursprünglich ebenfalls dem Ghor
entsprechend lange, schmale See in ein kleines Dreieck ver-
wandelt ist. Wenig unterhalb des Hule ist der zwar reißende,
aber schmale Jordan noch leicht furtbar. Hier überschritt ihn
die uralte Karawanenstraße, die von Damaskus ans Meer und
nach Ägypten führte, der erste, daher auch strategisch wichtige
Übergang über den Graben südlich vom Hermon. Heute steht
hier eine aus Basaltblöcken erbaute Brücke, Djisr Benät Jaküb,
Brücke der Töchter Jakobs genannt, einst befestigt und viel um-
kämpft, dabei ein großer Chan. Die Ufer des Flusses sind von
Dickichten von Oleandern, Tamarisken und Papyrus begleitet.
Der Tiberiassee ist ein hübsch ovales Wasserbecken von
171 qkm Größe, bis 50 m tief, 20.5 km lang und 9.5 km im
Höchstbetrag breit. Sein klares, trinkbares Wasser ist außer-
ordentlich fischreich und wird jetzt auch wieder von einigen
Fischerbarken befahren. Die ihm eigenen plötzlichen Windstöße
sind jedoch nicht ungefährlich. Sein blauer Spiegel ist heute in
einen Rahmen kahler, nur hier und da mit Trümmern übersäter
felsiger Ufer gespannt, dem die wenigen dürftigen Siedelungen
der Gegenwart keineswegs als Schmucksteine eingefügt sind. Im
Sommer ist es furchtbar heiß und schwül am See. An der Ost-
seite findet sich ein schmaler, fruchtbarer Landstreifen, an der
Nordwestseite die schon erwähnte kleine Küstenebene, Geneza-
reth, nach welcher der See in den Zeiten der Makkabäer be-
nannt wurde. Heute gibt es am Tiberiassee nur wenig bewohnte
Orte und auch nur am Westufer. Außer Tiberias ist nur noch
HO
Medschdel (Magdala, Geburtsort der Maria Magdalena) zu nennen.
Teil Hum, nahe der Einmündung des Jordan, ein elender aus
Basalthütten bestehender Ort ist das alte Kapemaum. Tiberias^
auf schmaler Ebene am See war die glänzende Hauptstadt des
Herodes Antipas zu Christi Zeit, ein römisch-heidnischer Ort,
nach dem Kaiser Tiberius benannt. Nach der Zerstörung von
Jerusalem war es ein Hauptsitz der Juden, jüdischer Überliefe-
rung und Gelehrsamkeit. Auch jetzt ist es vorwiegend von Juden
bewohnt, enthält aber auch christliche Klöster. Zwei Kilometer
südwärts liegen die heißen Bäder von Tiberias mit 62^ C, die
wieder mit leidlichen Badeanlagen versehen sind.
Geläutert verläßt der Jordan den See, aber bald trübt sich
sein Wasser wieder durch die von den Ufern losgelösten Sink-
stoffe. Die Sohle des Ghor wird hier nämlich von vorzugsweise
mergeligen Ablagerungen, den sogenannten Lisanmergeln , ge-
bildet, die sich am Grunde des großen Sees niederschlugen, der
in der Glazialzeit das ganze Ghor in einer Länge von etwa
250 km, fast so lang wie die mittelrheinische Tiefebene zwischen
Basel und Mainz, und bis 400 m über dem Spiegel des heutigen
Toten Meeres ja bis 30 m über dem Mittelmeere füllte, aber
nach HuU niemals mit dem Meere in Verbindung gestanden hat.
Da die Schwelle im Wadi Arabah 229 m über dem Meeres-
spiegel liegt, so lag der Spiegel dieses großen diluvialen Ghor-
sees noch immer 235 m tiefer. Die drei heutigen Seen, oder
wenigstens die zwei großen, sind die die tiefsten Stellen der
Hohlform füllenden Reste jenes. Derselbe hat allenthalben Spu-
ren seines Daseins in der Form von Terrassen bildenden Ab-
lagerungen hinterlassen, die einen zeitweilig verschiedenen Stand
andeuten. Bei Jericho lassen sich deren drei unterscheiden.
Eine Niederterrasse bildet die Ebene von Jericho. Sein Spiegel
war in der Pluvialzeit bedeutenden Schwankungen unterworfen.
Die heutige breite Sohle der Lisanmergel bildete sich in der
dritten Pluvialzeit, während deren der Ghorsee wahrscheinlich den
Tiberiassee nicht mehr umfaßte. Dieselbe hat im Mittel eine
Breite von 15 km, verengt sich aber unterhalb der fruchtbaren
Talebene von Besan noch einmal auf 2 km. Sie liegt im all-
gemeinen 1000 m unter der Umgebung. Die seitlich einmünden-
den Flüsse und Bäche haben die ursprünglich ebene Talsohle
reich gegliedert und zerschnitten und der Jordan selbst hat in
— III —
derselben, hin und her pendelnd, Inseln bildend, aber auch an
Stromschnellen reich ein etwa 2 km breites, oft recht steilwandiges,
alluviales Flutbett etwa 15 m tief ausgewaschen. Heute genügt
ihm aber meist innerhalb desselben eine etwa 30 m breite,
3 — 4 m tiefe Rinne. Diese füllt er im Frühling bei der Schnee-
schmelze im Antilibanon bis zum Rande, ja ausnahmsweise über-
spült er wohl örtlich auch einmal das Flußbett. Ein echter
Galeriewald, Ez-Zör genannt, aus Tamarisken, Oleandern usw.
hier und da 300 — 400 m breit begleitet den Fluß. Im Herbste
ist der Fluß unterhalb des Tiberiassees an vielen Stellen leicht
zu überschreiten, bis ihn der Jarmuk wieder wasserreich macht.
Er bildet mehrfach üppig grüne Inseln. Auch erkennt man, daß
er seinen Lauf mehrfach geändert hat. Das entspricht den zahl-
losen, seinen Lauf verlängernden Windungen, da tatsächlich die
Entfernung beider Seen voneinander wenig über 100 km beträgt.
In römischer Zeit wurde er von mehreren Brücken überschritten,
deren Reste noch erhalten sind. Heute sind deren zwei vor-
handen, die eine bei Jericho, die andere unterhalb des Tiberias-
sees, Dschisr el Mudschami, wo ihn auch die Eisenbahn über-
schreiten wird. Kein Boot belebt denselben, und sein Fisch-
reichtum wird fast gar nicht ausgebeutet. Die Befahrung des
Flusses ist der Stromschnellen wegen äußerst gefährlich. Die
ersten Befahrer desselben, Costigan 1837 und Molineux 1847,
die leichte Schiffsboote vom Meere herübergebracht hatten, gingen
an den überstandenen Strapazen zugrunde. Auch von der dritten
Expedition unter Lynch 1848 erlagen mehrere Teilnehmer.
Auch im Altertum waren die Ufer des Jordan wenig belebt,
niemals hat an seinen Ufern ein größerer Ort gelegen. Jetzt
liegen unterhalb des Tiberiassees einige kleine Dörfer an ihm.
Dennoch war er der Stolz der Israeliten und heute ist er für die
ganze Christenheit ein so zu sagen heiliger Fluß. Auch zu künst-
licher Berieselung ist er niemals, eben der reißenden Strömung
und der tiefen Lage des Wasserspiegels wegen verwertet worden.
Jetzt benutzt man ihn unterhalb des Tiberiassees dazu, indem
man niedere, etwas urwüchsige Wehre errichtet, die freilich nach
jedem Hochwasser wieder hergestellt werden müssen. Doch
können so nur kleine Flächen im Sommer und im Herbst berieselt
werden. Aber wenn man dazu schreiten wird, den Stand des
Tiberiassees durch ein Schleußenwerk zu regeln, wie an den
— 112 —
oberitalischen Seen, dann wird man einen großen Teil des Ghor
in einen Garten verwandeln, in welchem man die Früchte der
Tropen ziehen kann. Das gleiche gilt von den Nebenflüssen
des Jordan, die allenthalben aus Engtälern in das Ghor eintreten
und an denen Talsperren leicht zu errichten wären, so daß
Wasser für Berieselungszwecke und für elektrische Anlagen hin-
reichend zur Verfügung steht und man dem Ghor eine Zukunft
in wirtschaftlicher Hinsicht voraussagen kann, welche die größte
Blütezeit des Altertums in Schatten stellen würde. Der Jarmuk,
der größte linke Nebenfluß, der unterhalb des Tiberiassees ein-
mündet, steht an Wasserfülle dem Jordan kaum nach. Ehemals
waren es fast ausschließlich diese Nebenflüsse und Quellen,
welche Berieselungen und die Schaff"ung von Oasen ermöglichten.
Allenthalben sind noch Trümmer dieser Bewässerungsanlagen vor-
handen. Es kennzeichnet das Ghor, daß allenthalben an der
West- wie an der Ostseite am Fuße des Steilabsturzes starke,
meist warme Quellen hervorbrechen. Alle Nebenflüsse sind auch,
soweit sie ausdauernde sind, von solchen gespeist. Der Dscha-
lud z. B., der im Altertume die ganze breite Ausweitung des
Ghor bei Besan (Scythopolis) in einen blühenden Garten ver-
wandelte, entspringt in der gleichnamigen, starken, einen Teich
bildenden Quelle unter der Schwelle von Zerin. Es ist wohl die
Quelle von Jesreel, wo Saul und Jonathan vor ihrer letzten ver-
hängnisvollen Schlacht ihr Lager hatten. Scythopolis war zugleich
dadurch wichtig, daß hier von der Ebene Esdrelon (jetzt Merdsch
ihn 'Amir genarmt) und vom Mittelmeere her ein verhältnismäßig
bequemer Weg über die Schwelle von Zerin (123) ins Ghor und
über Dschisr el Mudschami ins Ostjordanland führte. Reste von
Kanälen und Brücken, Trümmer von Bauwerken aus dem Alter-
tum und Mittelalter weithin verstreut zeugen von der Bedeutung
dieses Punktes. Besan gegenüber, jenseits des Jordan, in der
Schlucht, über welcher die kleine Veste Pella thronte, bricht noch
eine starke Quelle hervor. Von ähnlicher Bedeutung, auch auf
der obersten Talterrasse des Ghor gelegen und von starken
Quellen ins Leben gerufen war auch die Oase von Phasaelis,
südlich von Besan. Dort kreuzt der Weg von Es Salt, dem
Hauptorte des Ostjordanlandes, nach Nabulus das Ghor. Die
größte Berieselungsoase des Ghor war jedoch die von Jericho,
der wichtigste Punkt im ganzen Ghor, der denn auch zuerst
— 113 —
wieder aufzuleben beginnt. Jericho liegt da, wo der das ganze
südliche Ostjordanland jenseits dem Verkehrshindernis des Toten
Meeres mit dem Westjordanlande und Jerusalem am Nordende
des Toten Meeres das Ghor kreuzen muß, zumal die Schlucht
des Wadi el Kelt einen verhältnismäßig bequemen Aufstieg auf
das Hochland gewährt. Der Eingang in die Schlucht war durch
zwei Vesten gesperrt, der Bach selbst, der sein Dasein einer in
der wilden Schlucht hervorbrechenden Quelle, Ain el Kelt, ver-
dankt, wurde zur Berieselung nach Jericho geleitet und über die
oberste Talterrasse des Ghor ausgebreitet. Noch früher aber wird
man zu gleichem Zwecke die starken, hier am Ostrande einer
abgestürzten Scholle von Kreidekalk am Fuße der Felswand des
Dj. Karantal hervorbrechenden Quellen Ain es-Sultan und Ain
Duk verwertet haben. Jericho selbst liegt auf der Scholle. Wasser-
leitungen, zum Teil auf hohen Aquädukten über Wadi el Kelt
geführt, durchfurchen die Ebene in allen Richtungen, zahlreiche
Sammelteiche sind noch erkennbar. Mit Hilfe dieser reichen
Wasservorräte war es möglich, in dieser tiefen Erdsenke, die mit
großer Lufttrockenheit bei milden Wintern ungeheure Sommer-
hitze verbindet, also ein wahres Dattelpalmenklima besitzt, den
denkbar üppigsten Pflanzenwuchs und die höchsten Erträge zu
erzielen. In der Tat müßte hier die Dattelpalme Früchte herv'or-
brüigen, die zu den besten gehören, die man überhaupt kennt.
Während heute nur wenige wieder neu angepflanzte Dattelpalmen
vorhanden sind, lag hier im Altertume und zum Teil noch im
Mittelalter ein großer Palmenhain und blühte namentlich im
Mittelalter hier Zuckerrohrbau. Jericho war die prachtvolle Win-
terresidenz des Herodes. Die Ernte ist dort vier Wochen früher
wie bei Jerusalem.
Weniger begünstigt erscheint die Osthälfte des Ghor, obwohl
dort größere und wasserreichere Nebenflüsse einmünden und es
auch an heißen Quellen nicht fehlt. Auch die Talsohle ist strecken-
weise 4 km breit. Wie die von Jericho und von Tiberias hatten
auch diese heißen Quellen im Altertume zur Entwicklung von
Badeorten den Anstoß gegeben. So die Quellen von El Hammi
in dem Talkessel des unteren Jarmuktales, nahe seinem Ausgange
ins Ghor. Noch sind hier die Trümmer alter Prachtbauten er-
halten. Da auf der Höhe darüber die altberühmte Festung Ga-
dara lag, von der auch noch großartige Trümmer erhalten sind,
Fischer. Mittelmeerbilder. 8
— 114 —
so nannte man sie wohl auch die Bäder von Gadara. Andere
berühmte heiße Quellen waren die 63^ C warme Kallirrhoe im
unteren Tale des Wadi Zerka und die Ain es-Sara unmittelbar
am Ufer des Toten Meeres. Viele dieser Quellen sind schwefel-
und kochsalzhaltig. Solche geben unterhalb Phasaelis einem
Bache Ursprung, der geradezu danach Mellaha, der Salzbach,
genannt wird.
Eine erwähnenswerte Erscheinung ist es, daß alle Neben-
flüsse des Jordan bei ihrem Eintritt ins Ghor einen Winkel tal-
abwärts machen, also ganz wie die Nebenflüsse des Rheins in
der so ähnlichen mittelrheinischen Tiefebene. Natürlich alles im
kleinen. Ja, selbst Gegenstück von 111 und Moder, die dem
Rheine lange parallel fließen, finden sich in dem eben genannten
Wadi Mellaha und im Wadi Fara, der die Mukhraebene ent-
wässert. Er fließt dem Jordan 9 km weit parallel. Neben der
Stoßkraft des Hauptflusses dürften wohl Berieselungskanäle bei
dieser Erscheinung eine Rolle spielen.
Heute Hegt das Ghor, abgesehen von Jericho, noch öde und
unbelebt da. Selbst die arabischen Nomaden, die hier im Winter
ihre schwarzen Zelte aufschlagen und ihre Herden weiden, auch
ein wenig Ackerbau treiben, vertreibt die sengende Glut des
Sommers. Die Trümmer, auf die man auf Schritt und Tritt stößt,
und die zahlreichen Teils, die durch das Ghor verstreut sind,
zeugen aber von der dichten Besiedelung im Altertume und er-
wecken Hoff"nungen für die Zukunft.
Das Tote Meer ist die Verdunstungspfanne für alle Ge-
wässer des ganzen südlichen Drittels des syrischen Grabens und
eines meridionalen Landstreifens, der an der Westseite des Ghor
schmal, an der Ostseite 50, ja im Hauran 100 km und mehr
breit ist und auch den ganzen südlichen Antilibanon umfaßt.
Schon diese Eigenschaft als Verdunstungspfanne vermöchte den
hohen Salzgehalt von 24 — 2 6*yo» wovon 7% Kochsalz, zu er-
klären, nach dem es von den Israeliten das Salzmeer (Bahr Lut
bei den Arabern) genannt wurde. Sehr viel tragen aber auch
die an Kochsalz und Chlorkalzium sehr reichen Thermalquellen
von Tiberias, El Hammi u. a. bei. Von diesen stammen auch
die im Seewasser enthaltenen Brommagnesium und Bromkalium
her. Die Farbe des Sees ist dunkelblau. Die ätzende Salzlauge
macht die Verwendung kleiner Ruderboote unmöglich. Sie greift
— 115 —
Holz wie Metall an. Zwei Metallboote, die 1894 auf den See
gebracht worden waren, wurden bald unbrauchbar. Ein kleiner
Dampfer, der 1897 auf den See gebracht war, namentlich zur
Unterhaltung des Verkehrs mit dem aufblühenden Kerak, ist auch
bald unbrauchbar geworden. Ein kleines Dampfboot des grie-
chischen Klosters bei Jericho fährt ein Stück auf dem Jordan
und dem See. Die Ufer des Sees sind auch meist so steil, daß
das Landen und der Verkehr auf dem See überhaupt schwierig ist.
Auch kentern die Boote, da sie bei dem schweren Wasser nicht
tief einsinken, bei den alle derartigen Seen kennzeichnenden
plötzlichen Windstößen sehr leicht. Wie bei Gewitterschwüle
beängstigend liegt es bei der Hitze und dem hohen Luft-
drucke von 785 — 790 mm auf dem Menschen. An den
Ufern und auch mitten auf dem See kommen Schwefelwasser-
stoffaushauchungen vor. Bei niedrigstem Stande ist der See
rings von einem Salzkrustensaume umgeben, den die Umwohner
ausbeuten. Ja, sie legen kleine Teiche an, in denen sie das
Seewasser verdunsten lassen. Namentlich am Südende dehnt
sich eine Salzebene (Es Sebcha) aus, die nur bei höchstem
Wasserstande überflutet ist. Man erkennt allenthalben, daß der
See vor nicht langer Zeit weiter nach Süden reichte und bei
geringem Steigen seines Spiegels wieder so weit reichen würde.
Dort gibt es gute Winterweide und auch ausgedehnte Bestände
von Tamarisken, Akazien u. dgl. Hier erhebt sich südwestlich
vom See der Dj. Usdum, ein 30 — 45 m hoher Berg, in den un-
teren Schichten aus bläulichem, kristallinischem Salze, darüber
Mergelschichten, die hier und da in eine schützende feste Kalk-
kruste übergehen, noch 18 m über dem Seespiegel, von den
Regenwassern wild zerrissen, reich an Löchern und Höhlen und
zu phantastischen Formen gegliedert. Eine dieser Salzsäulen hat
das Volk mit dem Namen Tochter des Schechs Lot bezeichnet.
Auch an Asphalt ist die Umgebung des Toten Meeres reich.
Die Gesteine erscheinen mit Asphalt durchtränkt, nach heftigen
Erdbeben steigen wohl Asphaltschollen von der Sohle des Sees
auf. Der asphaltdurchtränkte Kalkstein von Nebi Musa (Moses
Grab) bei Mar Saba wird in Bethlehem als Mosesstein zu Schmuck-
steinen verarbeitet. Nach dem Geologen Blankenhorn, wohl dem
besten Kenner des Toten Meeres, würde hier eine bedeutende
Asphaltgewinnung möglich sein. Das Wasser des Toten Meeres,
— ii6 —
das so schwer ist, daß der Mensch darin nicht untersinkt, ist für
alles Tierleben ungeeignet. Die Fische, welche der Jordan hinein-
trägt, sterben sofort. Den jeweiligen Wasserstand des Sees kenn-
zeichnen hier und da vorhandene Lagen von Treibholz. HuU
ist der Meinung, daß sich der Spiegel des Sees noch immer
senkt.
Die Länge des Sees beträgt 76 km, also so viel wie der
Genfer See, seine größte Breite 15.7 km, der Flächeninhalt 915 qkm.
Nach Süden hin verengt er sich, indem von Osten eine flache
Halbinsel, El Lisan, die Zunge genannt, vorspringt, auf 4.5 km.
In der so abgetrennten südlichsten Bucht beträgt die größte Tiefe
nur 3.6 m, ja, bei niedrigstem Wasserstande im Spätsommer kann
man hier zuweilen den See queren. Im Hauptbecken ist eine
größte Tiefe von 399 m bekannt. Im Frühling hebt sich der
Wasserspiegel infolge der dann reichlichen Wasserzufuhr durch
den Jordan um 4 — 6 m über den niedrigsten Stand. Man
schätzt die Wasserzufuhr durch den Jordan auf 6 Mill. Tonnen
im Tagesmittel, so daß also eine Schicht von 13.5 mm täglich
verdunsten muß. Eine dicke Dunstschicht, die sich bisweilen
über den See lagert, macht die Verdunstung förmlich sichtbar.
Der See ist so steil in das Tafelland eingesenkt, daß man an
vielen Stellen fast auf ebenem Wege bis nahe an den See heran-
kommen kann, ohne es zu ahnen, bis man ihn plötzlich
1000 — II 00 m tief unter sich liegen sieht. So liegt El Lisan
gegenüber auf steiler Höhe die alte Veste Masada der Makka-
bäer und des Herodes, die letzte Zufluchtsstätte der jüdischen
Kämpfer nach Jerusalems Zerstörung. Und auf der Ostseite
ähnlich die Veste Machärus. Die Ufer des Sees sind daher
völlig unbelebt. An der Westseite gibt es überhaupt nur eine
einzige Süßwasserquelle, A'in Dschidi (Engedi, Bocksquelle), 120 m
über dem See. Sie hatte im Altertum eine kleine üppige Oase
geschaff"en, und ist noch heute reich an seltenen tropischen Pflan-
zen. Ein schmaler Felspfad führt am Westufer entlang.
Sodom und Gomorrha.
Eine besondere Beachtung verdient das Südende des Sees.
Der Name des Dj. Usdum erinnert an Sodom. An Stelle der
südlichen seichten Bucht und des anschließenden Salzmorasts sei
das Tal Siddim und die Stätte von Sodom, Gomorrha, Adama,
— 117 —
Zebojim und Zoar zu suchen. Hier lag offenbar nach den
Worten der Bibel eine üppige Berieselungsoase. Zoar, die fünfte
nicht untergegangene Stadt, lag im Osten am Rande der Oase
auf festem Felsboden, vielleicht an Stelle des heutigen Chirbet
es Safije, das noch heute in einer kleinen üppigen Berieselungs-
oase liegt, die der vom Hochlande von Moab herabkommende
gleichnamige Fluß am Südostende des Sees schafft. Daß es sich
bei dem Untergange von Sodom und Gomorrha, an deren Stelle
das Salzmeer trat, um ein geschichtliches Ereignis handelt, unter-
liegt keinem Zweifel, ja man glaubt das Ereignis mit Rücksicht
auf die in der Bibel erwähnte Sonnenfinsternis und andere Um-
stände vielleicht auf 1780 v. Chr. festlegen zu können. Die
versunkene und überflutete Fläche mag 50 — 100 qkm betragen
haben. Über die Deutung ist ein wissenschaftlicher, der Sache
jedenfalls förderlicher Streit zwischen den beiden orts- und sach-
kundigen deutschen Geologen Blankenhorn und Nötling ent-
brannt. Nötling bringt das Ereignis mit einem vulkanischen Aus-
bruche in Verbindung, wie solche in geschichtlicher Zeit hier
noch stattgefunden hätten. Ganz in der Nähe in Moab zeigen
sich überall Spuren vulkanischer Tätigkeit. Durch das Erdbeben
sei ein verstopfter Eruptionskanal geöffnet worden, ein Ausbruch
habe Asche und LapiUi ausgeschüttet und habe eine Rauchsäule
aufsteigen machen: die Rauchsäule, die Abraham am Rande
des Hochlandes bei Hebron im Osten aufsteigen sah, „glich
der Rauchsäule aus einem Schmelzofen". Blankenhorn dagegen
bringt das Ereignis in Verbindung mit einer weiteren Entwick-
lung der Grabenversenkung durch Untersinken längs der Spalten.
Er sieht in demselben die Fortsetzung oder das letzte Stadium
der Vorgänge, die die ganze Grabenversenkung gebildet haben.
Den Feuer- und Schwefelregen erklärt er durch hervordringende,
durch Selbstentzündung in Brand geratene Kohlenwasserstoff-
gase und Schwefelwasserstoffgase. Die Bibelworte deuten auf
Niederwerfen und Einsturz der Städte durch Erdbeben. Die
ersten leichten Stöße warnten Lot. Die Städte wurden „um-
gekehrt". Die losen Massen auf der Talsohle setzten sich zu-
sammen, das Grundwasser brach hervor und das Tote Meer
überflutete die Niederung, Erscheinungen, die ähnUch auch in
neuerer Zeit, z. B. 1862 am Südende des Baikalsees beobachtet
worden sind.
— ii8 —
Ostjordanland.
In höherem Maße als das Westjordanland ist das Ostjordan-
land noch als Tafelland und Hochebene erhalten. Nur gegen
das Ghor hin in einem etwa 50 km breiten Gürtel ist es je
näher am Ghor um so mehr zerschnitten. Die tiefen, engen
Flußtäler haben auch hier kleine Sonderlandschaften geschaffen,
die alle ihr Gesicht, so zu sagen, dem Ghor und dem West-
jordanlande zukehren. Der Arnon (Modschib), der wasserreichste
Zufluß des Toten Meeres, kommt Am Dschidi gegenüber aus
einer engen Felsschlucht heraus, die heute die Grenze zwischen
Kerak und Belka, wie im Altertum zwischen Moab und den
Amoritern bildet. Nördlich davon liegt die Landschaft Belka
nordwärts bis zum Jabbok, zwischen diesem und dem Jarmuk
Adschlun. Der Jarmuk, dessen unteres Tal auf einer langen
Strecke ungangbar ist, wird im Sommer von den Quellen von
El Muzerib, den Sümpfen bei Dilly und dem Allan genährt. Im
Winter führt er die Gewässer des Hauran und der ihm vor-
gelagerten Hochebene zu. Nördlich vom Jarmuk bis zum Her-
mon liegt östlich vom Tiberiassee die Landschaft Dcholan. Ost-
lich von dieser liegt En Nukra, die im weiteren Sinne schon zum
Hauran, dem sich östlich davon auftürmenden vulkanischen Ge-
birgslande gerechnet wird.
Die südlichen Landschaften sind einförmige Kreidekalktafel-
länder, deren höchste stets dem Ghor nahegerückte, aber wenig
ausgeprägte Erhebungen 11 00 ja 1200m übersteigen. Sie be-
sitzen zum Teil wie Moab eine fruchtbare Decke von Terra rossa,
dem unlöslichen, tonigen Rückstande des verwitterten Kalkfels,
und haben so ausgezeichneten, von dem Winterregen befruchteten
Weizenboden. Treten auch schon in Moab vielfach und in
größerer Ausdehnung vulkanische Gesteine auf, so verschwinden
jenseits des Jarmuk die Kreidegesteine unter ungeheuren Basalt-
decken, Lavaströmen und den Zersetzungsstoffen jungeruptiver
Gesteine. So steigt auch das Dscholan mit etwa 700 m mittlerer
Höhe, Galiläa um etwa 100 m überhöhend, nach Norden und
Osten bis auf etwa 1000 m an, wo sich einzelne eine ^;^ km
lange südsüdöstliche Reihe bildende Vulkankegel, alle als Teil
bezeichnet, mit wohlerhaltenen Kratern bis nahe an 1300 m,
höchstens 300 m relativ erheben und selbst kleine, dauernd
— 119 —
(Birket Ram) oder nur im Winter gefüllte Maare vorkommen.
Obwohl meist steinig, ist der Boden doch auch hier außerordent-
lich fruchtbar. Noch mehr gilt dies von der sich ostwärts bis
zum Fuße des Haurangebirges von 550 m im Westen sich auf
42 km allmähUch zu 880 m im Osten erhebenden Hochebene
En Nukra. Sie wird so, die Höhlung, genannt wegen ihrer von
Bergen und Hügelzügen umgrenzten fiachkess eiförmigen Ober-
fläche. Es ist die Landschaft Basan, das weiche Land, der
Israeliten, ein Name, den man auch mit dem arabischen batne,
betene, steinloses, daher fruchtbares Land in Beziehungen setzt.
In der Tat herrscht hier rotbrauner, tiefgründiger, lockerer Boden,
die bekannte Hauranerde (ard hamra), vor, ein vulkanischer Zer-
setzungsstoff, der das herrlichste Weizenland liefert. Wird doch
noch heute das nur im Winter Wasser führende Wadi Zedi, die
größte aus dem Hauran zum Jarmuk gehende Wasserrinne, Wadi
ed Deheb, d. h. die Goldaue genannt. Wunderbare Farben-
gegensätze bietet dieses Land im ersten Frühling, wenn sich
unter intensiv blauem Himmelszelt die schwarzen Steinmassen der
Ortschaften inmitten der üppig grünen Weizenfelder ringsum auf-
fällig abheben. Im Sommer herrscht nur eine Farbe: rotbraun.
Diese jetzt wieder besiedelte und fast durchaus angebaute Land-
schaft ist etwa 3000 qkm groß. Um die reichen Weizenernten
derselben zur Ausfuhr zu bringen, wurde von Damaskus her bis
El-Muzerib, dem wasserreichen Rastplatze an der großen Pilger-
straße, ins Herz dieser Weizengefilde die erste Eisenbahn gebaut.
Über En Nukra hat hochgradige vulkanische Tätigkeit auf
etwa 900 m hoher Unterlage das Haurangebirge, nach seinen
jetzigen Bewohnern wohl auch Drusengebirge genannt, aufgetürmt,
teils aus losen Auswurfsmassen, teils aus Laven, ein sich auf
80 km bis 35 km Breite in nordsüdUcher Richtung erstreckendes
Gebirgsland, ein Wechsel mächtiger Kegel oft mit noch wohl-
erhaltenen Kratern und sanft geneigten, steinigen Lavafeldern.
Der höchste dieser Kegel, der Teil ed Dschena erreicht 1839 m
Höhe, die höchste Erhebung von Palästina überhaupt. Das Hau-
rangebirge bewirkt hier die Verbreiterung des Ostjordanlandes
(und Palästinas) von etwa 50 km, Grenze des Kulturlandes und
der Wüste, auf 130 km, indem durch dieses Gebirge als Wolken-
verdichter das Kulturland so weit nach Osten vorgeschoben wird.
Zu Palästina muß dies Gebiet gehören und hat es auch fast stets
— I20
historisch gehört, da es sich nach Westen zum Ghor neigt und
dorthin entwässert wird, das große Lavafeld El Ledscha auch
von Damaskus scheidet. Durch dies Gebirge ist Palästina um
drei kleine Sondergebiete bereichert worden: die bereits ge-
schilderte Landschaft En Nukra, steinloses ebenes Weizenland,
Hauran, durch Aufsammeln der Steinbrocken zum großen Teil
anbaufähiges Gebirgsland und El Ledscha, eine Felslandschaft
mit eingestreuten kleinen anbaufähigen Flecken. Durch die Ar-
beit vieler Geschlechter ist in einem großen Teile des Hauran
die Fülle lose herumliegender Steinbrocken, die den Boden be-
deckten, zu Feld- und Flurgrenzwällen aufgetürmt — die gleiche
Absicht gab in Schleswig-Holstein Anlaß zur Bildung der Knicks — ■
und die War (griech. Trachon) in Kulturland umgewandelt wor-
den. Dieses Gebiet war vor allem in den Jahrhunderten vor
dem Einbruch der nomadischen Träger des Islam aus Arabien
ein dicht bevölkertes Kulturland. Bostra, heute Bosra eski Scham
genannt, war im 4. Jahrhundert n. Chr. nach Ammian ein ingens
oppidum, dessen Umfang auf 6 — 7 km geschätzt werden kann.
Es mag, wenn man die niedrigen Häuser, die großen Teiche
innerhalb der Stadt in Betracht zieht, 80000 Einwohner gehabt
haben. Und andere Siedelungen standen Bostra nur wenig nach.
Eine letzte Sonderlandschaft haben die gewaltigen, von den
Hauranvulkanen nach Nordwesten geflossenen Lavamassen ge-
schaffen, El Ledscha, d. h. die Zuflucht, nämlich der Drusen
gegenüber den räuberischen Beduinen, wohl auch Kalat Allah,
Festung Gottes genannt. Es ist ein ungeheures, sich von goo
auf 600 m nach Nordwesten abdachendes Lavafeld. Mit seiner
scharfkantigen, von Sprüngen durchsetzten Oberfläche, daher in
hellenistischer Zeit Trachon, Trachonitis genannt, gleicht es einem
wild erregten, plötzlich erstarrten Meere und ist es namentlich
für Kamele und Pferde ganz ungangbar, nur schmale Fußpfade
winden sich hindurch. Die Römer freilich hatten von Damaskus
her eine Straße hindurchgelegt. Mit einem etwa 10 m hohen
Steilrande, Lohf genannt, steigt es auf der ebenen Umgebung
auf und ist so, namentlich mit Hilfe schon vorher aufgehäufter
Steine leicht zu verteidigen. Zahlreiche Höhlen und sonstige
Verstecke finden sich, natürliche durch Zisternen ergänzte Wasser-
löcher, die nur dem Einheimischen bekannt sind, kleine, mit
fruchtbaren Zersetzungsstoffen gefüllte und daher fruchtbare Ver-
121 —
tiefungen, die ehemals mit Reben und Fruchtbäumen bepflanzt
waren, sind durch die Felswildnis verstreut, ermöglichen dauernde
Bewohnung. Noch 1838 bestürmte Ibrahim Pascha von Ägypten
mit seinem ganzen Heere den von 5000 Drusen verteidigten Lohf
neun Monate lang mit einem Verluste von 20 000 Mann ver-
gebens. Ähnlich ein türkisches Heer 1850.
Das Klima.
Das Klima von Palästina ist nicht lediglich von der Lage
des Landes im südlichen INIittelmeergebiet und am Mittelmeere
bedingt, auch die wechselnden Oberflächenformen, die Höhe, die
Entfernung vom Ozeane und die Umgebung ausgedehnter Wüsten-
gebiete üben ihren Einfluß aus. Obwohl man es noch als medi-
terran bezeichnen muß, hat es doch bereits nach dem Wärme-
gange in der täglichen und jährlichen Periode, nach dem geringen
Ausmaß der Niederschläge und der das ganze Jahr herrschenden
ziemlich bedeutenden Lufttrockenheit einen ziemlich festländischen
Anstrich. Die mittlere Jahreswärme von Jerusalem beträgt bei
nicht ganz 800 m Meereshöhe 17.1° C und dürfte ungefähr der-
jenigen des ganzen West- und Ostjordanhochlandes entsprechen,
ebenso die des Februar mit 8.8° C, des August mit 24.5** C.
Pie Küstenebene dürfte demnach im Jahresmittel 2 2 '^ C, in den
extremen Monaten 12° C und weniger als 30" C haben, im Ghor
dagegen, etwa Jericho, dürften dieselben Werte 24° C, 13 — 14*^0
und S-^ ^ betragen. Das Ghor wäre also thermisch den aus-
gezeichneten Datteloasen des Wed Rirn und Wed Suf in der
algerischen Sahara zur Seite zu stellen. Wie in Jerusalem in
etwa 4 — 5 Nächten jeden Winter leichter Frcst (absolutes Mini-
mum — 4° C) eintritt und Schneefälle dort mindestens jedes
dritte jähr vorkommen, wenn auch eine andauernde Schneedecke
selten ist, so ähnlich auch sonst auf dem Hochlande. Im Ost-
jordanlande sind freilich Fröste und Schneefälle häufiger und
intensiver. Ganze Karawanen sind dort schon im Schnee zu-
grunde gegangen. Die Küste und das Ghor erfreuen sich sehr
milder Winter und sind als von Frösten und Schnee frei an-
zusehen. Dagegen steigt im Sommer die Wärme außerordentlich,
besonders werm heiße Winde von Süd und Südost her wehen.
Ihretwegen verhüllen sich die Weiber im Hauran bei der Feld-
arbeit das Gesicht völlig bis auf die Augen. Leichte Aufbaue
— 122
aus Matten auf den flachen Dächern, besonders als luftige Schlaf-
gemächer in der heißen Zeit, hier und da wohl auch wegen der
dann das Innere der Häuser unsicher machenden Skorpione, sind
daher sehr beliebt. Doch mildert im Sommer, wenigstens in
freien Lagen des Westjordanlandes, aber auch noch im Hauran,
die am Tage fast immer bewegte Luft, besonders der feuchte,
kühle Seewind die Hitze sehr wesentlich, die daher des Morgens
vor Durchbruch des Seewindes, des Abends nach Abflauen des-
selben am empfindUchsten zu sein pflegt. Das Ausbleiben des
Seewindes wird daher sehr empfunden und das Ghor ist im
Sommer unerträglich heiß, weil es so tief liegt und dem Einfluß
der Seewinde ganz entzogen ist. Die wunderbare Klarheit der
Luft, der hell leuchtende Mond und die funkelnden Sterne
bieten gerade im Sommer einen gewissen Reiz. Der Herbst
zeichnet sich infolge häufiger südöstlicher Winde durch angenehme
Wärme aus.
Wichtiger als das Ausmaß der Wärme, die in dieser Breite
unter allen Umständen genügen muß, ist die Menge und die
jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge. Diese sind, wie
überhaupt in den südlichen Mittelmeerländern, auf die kühlere
Jahreshälfte beschränkt, weil nur in dieser regenbringende ver-
änderliche Winde, vorherrschend Südwest- und Westwinde, also
vom Mittelmeere her wehen, während im Sommer dauernd Winde
nördlicher Richtung, der Passat, wehen, die keinen Regen bringen
können. Die Übergangsjahreszeiten sind sehr kurz, wie man
auch schon in der Bibel meist nur Sommer und Winter unter-
schied.
Die Regenzeit beginnt ini Oktober, nimmt bis Ende Januar,
der in Jerusalem im Mittel zehn Regentage, jeden mit 14 mm
Niederschlag, hat, zu und endigt im Mai. Die mittlere Dauer der
Regenzeit ist im 33jährigen Mittel nach einer Berechnung von
Hilderscheid 192 Tage, so daß also auf die Trockenzeit 173^2 Tage
kommen. Es nehmen die Niederschläge im allgemeinen von
Norden nach Süden, von Westen nach Osten ab und das Ghor
ist der niederschlagsärmste Teil des ganzen Landes. Der Januar
ist fast überall der Hauptregenmonat. Im Küstenlande fallen
allein in den drei Wintermonaten (Dezember-Februar) 65% der
ganzen Niederschlagsmenge, auf dem Hochlande 67 ^q, im Ghor
63"/(,. Die Zahl der Regentage ist an der Küste 58, auf dem
— 123 —
Hochlande 55, im Ghor 49 und auf die drei Wintermonate
kommen in diesen drei Landgürteln ^;^, 31, 11 Regentage. Die
mittleren jährlichen Niederschlagsmengen können nach den bisher
vorliegenden Messungen in den Küstenstationen Gaza zu 447 mm,
Jaf^'a 559, Sarona 517, Haifa 604, Karmel 611 mm angenommen
werden. An den Hochlandstationen Bethlehem zu 593, Jerusa-
lem (im Mittel von drei dort bestehenden Beobachtungsstationen)
zu 596, Nazareth zu 709 mm, während die einzige Beobachtungs-
station im Ghor, Tiberias, nur 433 mm aufweist, aber wegen
der Lage am See gewiß mehr als dem Ghor im allgemeinen
zuteil werden dürfte. Im Ostjordanlande, von wo noch keine
Beobachtungen vorliegen, ist im allgemeinen die winterliche
Niederschlagshöhe, eben weil dasselbe das Westjordanland etwas
überragt und somit nicht in seinem Regenschatten liegt, trotz
der schon größeren Meerferne noch genügend für Getreidebau
ohne künstliche Berieselung, d. h. es muß dieselbe nach Be-
obachtungen, die in Tunesien ungefähr unter gleichen Verhält-
nissen gemacht worden sind, mindestens 400 mm betragen. Das
Haurangebirge bedeckt sich allwinterUch reichlich mit Schnee,
dessen Schmelzen im Frühlinge lange Zeit die Bäche reichlich
speist und so Berieselungen in der vorliegenden Hochebene er-
möglicht.
Tagelang anhaltende Regen sind in Palästina selten, sie
fallen meist in kurzen, heftigen Güssen, nach denen die Sonne
rasch wieder hervortritt und den durchfeuchteten Boden erwärmt.
Auch noch heute legt man, wie in der Bibel, das größte Ge-
wicht auf die Frühregen, im Oktober und November, die den
harten Boden durchfeuchten und ihn zu pflügen und zu bestellen
erlauben, und die Spätregen, im April und Mai, welche dem
Getreide die Körnerentwicklung ermöglichen.
Schon in der Bibel wird der Gegensatz der so gut wie
regenlosen Niloase Ägypten zu dem sich regelmäßiger Regen er-
freuenden Palästina treffend geschildert. Als Moses das Volk
Israel nach dem Gelobten Lande führte, beschrieb er es ihnen
im Unterschiede von Ägypten: denn das Land, da du hinkommst,
ist nicht wie Ägypterland, davon ihr ausgezogen seid, da du
deinen Samen säen und selbst tränken mußtest, wie einen Kohl-
garten, sondern es hat Berge und Auen, die der Regen vom
Himmel tränken muß. Denn der Herr, dein Gott, führet dich
124 —
in ein gut Land, ein Land, da Bäche und Brunnen und Seen
inne sind, die an den Bergen und in den Auen fließen.
Wie überall im südlichen Mittelmeergebiete sind die Nieder-
schlagsmengen von einem Jahre zum andern sehr verschieden
und INIißernten infolge ungenügender Winterregen nicht selten.
In den so fruchtbaren Landschaften Dscholan, En Nukra und
Hauran rechnet man alle vier Jahre auf eine Mißernte, die man
aber bei dem ungeheuren Ertrage der übrigen Jahre leicht ver-
schmerzen kann. Während der langen Trockenzeit ist die Pflan-
zenwelt, wo nicht künstliche Berieselung stattfindet, auf die reich-
lichen Taufälle angewiesen, welche Palästina kennzeichnen. Der
Seewind führt große Mengen Wasserdampf ins Land hinein, die
sich dann bei der bedeutenden nächtlichen Abkühlung, die in-
folge von Wärmestrahlung einzutreten pflegt, derartig verdichten
und sich als Tau niederschlagen, daß ein Übernachten im Freien
unmöglich ist und selbst die Zelttücher meist so naß werden,
daß man sie erst von der hochsteigenden Sonne wieder trocknen
lassen muß, ehe man sie zusammenpacken kann. Daß Gideon
eine Schale Tau aus dem Fell drücken konnte, war keine un-
gewöhnliche Erscheinung. So wertvoll sind diese Taufälle, die
allerdings bei der Beständigkeit des Wetters im Sommer selten
ausbleiben, daß man ihr Ausbleiben als ein Zeichen des gött-
lichen Zornes deutete. Sehr häufig lagern im Sommer am frühen
Morgen über Ebene und Hügeln dichte Nebel, aus denen nur
die höchsten Berge wie Inseln aus wogendem Meere aufragen.
Die steigende Sonne zerteilt sie bald, als flatternde weiße Wolken
steigen sie an den Bergen empor und lösen sich im Blau des
Himmels auf: „die Morgenwolken und der Tau, der frühmorgens
vergeht" (Hos. 6, 4). Dennoch darf man erwarten, daß das Land
bei der langen Regenlosigkeit und hohen Wärme im Sommer
selbst da öder, sonnenverbrannter Steppe gleicht, wo im Winter
und Frühling üppiggrüne Weizen- und Gerstenfelder Tal und
Hügel, selbst den Ölberg bis zum Gipfel bedecken. Wer eine
richtige Vorstellung von Palästina haben will, darf es nicht im
Sommer oder Herbst besuchen, am besten im Frühling, im April
und Mai.
Es leuchtet ein, daß Palästina bei so lange andauernder
Regenlosigkeit überhaupt an Wasser, aber namentlich an dauernd
fließenden Bächen und Flüssen arm sein muß. Demnach wird
— 125 —
es auch an Wasserkräften und an diese geknüpften gewerblichen
Anlagen in der Gegenwart und in der Zukunft arm sein. Immer-
hin kann man hier und da in Galiläa und auch im Ostjordan-
lande kleine Wassermühlen klappern hören, angeblich eine Hinter-
lassenschaft der Kreuzfahrer. Ja, sogar Wasserfälle, Zukunftsmusik
elektrischer Kraftübertragung, kommen vor, wie am Modschib und
Jabbok des Ostjordanlandes. Auch sind dauernd fließende Bäche
und Flüsse, meist als Nähr von Wadi unterschieden, abgesehen
vom seengespeisten Jordan, nicht so selten, als man nach der
zeitweiligen Regenlosigkeit schließen möchte, weil das Kalkgebirge
die Meteorwasser verschluckt, zu unterirdischen Wasserläufen ver-
einigt und an geeigneten Stellen, besonders am Fuße des Hoch-
landes als starke Quelle zutage treten läßt. Dr. Schumacher, der
hochverdiente Erforscher des nördlichen Ostjordanlandes, zählt
im Westhauran nicht weniger als 13 ausdauernde Bäche und
Flüsse. Und die meisten Flüsse, die vom Westjordanhochlande
herabkommen, werden am Fuße desselben von Quellen verstärkt
zu ausdauernden. An starken Quellen, wie sie alle Kalkgebiete
rings um das IMittelmeer kennzeichnen, ist Palästina nicht arm.
Der häufig wiederkehrende Name Ras eKAin deutet auf solche
hin. Er ist gleichbedeutend mit dem italienischen Capo d' acqua,
dem griechischen Kephalarion, dem spanischen Nacimiento. Nicht
selten bilden diese Quellen Quellbecken, die von dem herrlich-
sten, kristallklaren Wasser gefüllt sind, ähnlich der papyrus-
umwachsenen Cyane bei Syrakus. So die Quelle des Jordan bei
Tell-el-Kadi, die des Nähr el-'^Audscha, des wasserreichsten
Mittelmeerflusses von Palästina, der unter Kalat Ras el '^A'in, dem
alten Antipatris, mit solcher Wasserfülle hervorbricht, daß er nicht
durchritten werden kann und im Sommer dem Jordan an seiner
Mündung gleichkommt. Noch größer, 2 km im Umfange, also
ein kleiner See, ist das fischreiche Quellbecken des Jarmuk bei
El Muzerib, das dadurch zum großen Rastplatze der Pilgerkara-
wanen geworden ist.
Eine Quelle ist daher in Palästina ein kostbarer Besitz.
Viele Siedelungen sind an solche, wenige, fast keine, an Flüsse
gebunden, ein grellster Gegensatz zu Mitteleuropa. Doch ge-
nügten der sich mehrenden Bevölkerung bald die Quellen nicht
mehr. Man legte Zisternen an, worauf die natürlichen Wasser-
ansammlungen und Felslöcher hinwiesen. Fast jedes Haus hat
126
seine Zisterne. Viele sind von gewaltiger Größe, die Felsdecke
von Pfeilern gestützt. Dazu kommen ehemals in ungeheurer Zahl,
namentlich im Ostjordanlande, vorhanden gewesene offene Sammel-
teiche, denen in in den Felsen gehauenen und zementierten
Rinnen das winterliche Regenwasser von allen Seiten zugeführt
wurde. Sie unterlagen freilich in hohem Grade der Verdunstung
und mögen wohl alle zu Ende der Trockenzeit leer gelegen
haben. Der höhlenreiche, zugleich guten Zement Hefernde Kalk-
boden, in welchem härtere und weichere Schichten wechseln,
eignete sich besonders für solche Anlagen. Die Frostfreiheit
begünstigte sie. Weit verbreitet ist namentlich eine 1.5 m mäch-
tige, feste, die Oberfläche bildende Kalkschicht, unter welcher
eine zuweilen bis 14 m mächtige weichere Schicht liegt. Man
bohrte daher nur ein enges, einem Flaschenhalse ähnliches Loch
in die erstere und arbeitete die Zisterne darunter aus. Es ist
geradezu staunenswert, was viele Geschlechter an solchen Arbeiten
in Palästina geleistet haben, im Ostjordanlande, wo es noch
nötiger war und ganze fruchtbare Landschaften durch Aufspeiche-
rung und Zusammenleitung von Wasser erst dauernd bewohnbar
gemacht worden sind, noch mehr wie im Westjordanlande. Die
so fruchtbare Landschaft En Nukra wäre ohne solche künstliche
Wasserbeschaffung zum großen Teil im Sommer nicht einmal für
Nomaden, geschweige für eine so dichte, hochgesittete Bevölke-
rung bewohnbar wie in frühchristlicher Zeit. Fast allenthalben
lebt die heutige verkommene Bevölkerung von den mehr oder
weniger gut erhaltenen Resten der Anlagen einer besseren Zeit.
Noch heute werden wie in alter Zeit die im freien Felde oder
an den Wegen gelegenen Zisternen und Brunnen — ■ es ist oft
nicht leicht zu unterscheiden, ob man eine Zisterne oder einen
Brunnen mit dauerndem Zustrom aus dem Grundwasser vor sich
hat — zu jedermanns Benutzung als Zeichen der Kostbarkeit
des Wassers mit einem so schweren Steine verschlossen, daß nur
mehrere Hirten vereinigt denselben wegzuwälzen vermögen, damit
nicht ein einzelner alles Wasser für seine Herde verbrauchen
kann. In Jerusalem hat jedes Haus seine sich flaschenförmig
nach unten erweiternde Zisterne, die gegen Licht, Sonne und
Unrat geschützt kühles, gutes Wasser das ganze Jahr hält. Quellen
besitzt die Stadt nur eine, die schwachsalzige Marien- oder Jung-
frauenquelle, deren Wasser unterirdisch zum Siloahteiche geleitet
— 127 —
und von dort durch einen Tunnel, wohl schon im 8. Jahrhundert
V. Chr. in die Stadtbefestigung einbezogen wurde. Daneben wur-
den aber noch sehr früh die schon erwähnten Sammelteiche an-
gelegt, die auch zum Baden, wie zur Schafwäsche und zum Be-
wässern der Gärten verwendet wurden. Wenn das Wasser eine
gewisse Höhe erreicht hatte, gab es ein Teich an den anderen
ab. Die ganze Fläche des Harem-esch-Scherif ist von Zisternen
unterhöhlt, welche gewaltige Wassermassen zu fassen vermögen,
die von den Salomonsteichen hergeleitet wurden. Diese 1865
wiederhergestellte Wasserleitung dürfte doch vielleicht in den ersten
Anlagen bis auf Salomo zurückführen. Ihr eigentlicher Erbauer
ist aber Herodes der Große. Sie führt Wasser von den so-
genannten Salomonsteichen, drei Stunden südlich von Jerusalem
bei Bethlehem, ja noch weiter aus der Gegend von Hebron herbei.
Jeder einsichtige Herrscher war bemüht, die Wasservorräte zu
vermehren, wie König Mesa von Moab auf seiner erhaltenen be-
rühmten Steininschrift mitteilt, daß er jedem Hauswirte von Kircha
Dibon befohlen habe, in seinem Hause eine Zisterne anzulegen.
So kam es, daß die Belagerer von Jerusalem stets unter Wasser-
mangel sehr zu leiden hatten, während die Belagerten Wasser in
Fülle hatten.
Wasserleitungen, wie diese Jerusalem speisende, scheinen
aber nur ausnahmsweise angelegt worden zu sein. Am reichsten
daran war das nördliche Ostjordanland, wo vom Haurangebirge
her die Wasservorräte, welche die winterlichen Schneemassen
lieferten, weithin geleitet und in großen Sammelteichen auf-
gespeichert wurden. Den Anstoß zur Anlegung solcher gaben
die match genannten natürlichen Vertiefungen im Felsboden, in
denen sich die Winterwasser sammelten und lange hielten. Auch
große unterirdische und so gegen die große Verdunstung ge-
schützte Zisternen legte man an. Einzelne Gemeinden gaben
nach den noch erhaltenen Inschriften große Summen für diese
Anlagen aus. Es war kein Ort ohne ein oder mehrere solcher
Sammelbecken, die in den hellenistischen Zeiten XCiivtj oder Aaxoj
genannt wurden. Die Wasserleitungen machten Gegenden seß-
haft bewohnbar, die im Sommer nicht einmal für Nomaden be-
wohnbar waren. Die eine, der Luwakanal, hatte in der östlichen
Ledscha auf 35 km 20 blühende Ortschaften ins Leben gerufen,
von denen heute nur noch eine einige wenige Einwohner hat.
— 128 —
Die größte war der 80 km lange Kanat Firaun, die auf mäch-
tigen Basaltlagen ganze Täler überschritt und von dem noch
heute vorhandenen reichen Quellbecken El Gab bei Dilli aus,
mitten in En Nukra, nach Derat (Adroa) und von da nach Westen
bis Mukes oder Um Kes (Gadara), 5 km von der Mündung des
Jarmuk führte. Eine andere war von Trajans Feldherrn Corne-
lius Palma erbaut. Auf diesen Anlagen also beruhte die hohe
Kultur dieses Landes in vorarabischer Zeit: in der Tat eine zarte,
stetiger Pflege bedürftige Pflanze!
Pflanzenwelt.
Solche klimatische Verhältnisse müssen ihren Ausdruck auch
im Charakter der Pflanzenwelt finden. Vor allem wird dieselbe
Schutz gegen die lange Trockenheit suchen. Dies geschieht in
derselben Weise, wie sonst in der Mittelmeerflora. Die Holz-
gewächse sind verhältnismäßig zahlreich und tragen immergrüne,
lederartige Blätter meist mit kleiner Blattfläche, so daß sie gegen
Verdunstung geschützt sind. Einjährige Gewächse, denen die
Winterregenzeit genügt, und Zwiebelgewächse spielen eine Rolle.
Die Blattarmut der Holzgewächse steigert sich oft zu einer Be-
domung, wie schon die Bibel immer und immer wieder der Dornen
und Disteln gedenkt. Domige Vertreter der Steppenflora Vorder-
asiens sind bis ins Westjordanland verbreitet. Auch aromatisch
sind sehr viele Pflanzen von Palästina. Dadurch, daß im Ghor
sich noch tropische Formen, wie sie am Südrande der Sahara
vorkommen, zum Teil aber auch solche mit indischen Beziehungen
beimischen, erscheint die Flora des kleinen Landes mit etwa
3000 Arten als sehr reich. Von den der Mittelmeerflora fremd-
artigsten Formen tritt die Papyrusstaude massenhaft in den
Sümpfen nördlich vom Hulesee auf, während Salvadora persica
und Calotropis procera (der Oschurstrauch, der den sogenannten
Sodomsapfel trägt) nur nahe dem Toten Meere vorkommen. Die
merkwürdige sogenannte Jerichorose, Anastatica hierochuntica,
eine Crucifere, kommt auch nur im Ghor und erst im Süden von
Engedi vor. Weiter verbreitet im Ghor ist Acacia seyal, die
ägyptische Sykomore und Melia Azedarach, besonders im Küsten-
gebiet. Die Dattelpalme ist in ganz Palästina keine seltene Er-
scheinung, selbst in Jerusalem kommt sie noch vor, aber nur als
Zierbaum , kaum daß sie in Gaza und einigen noch weiter süd-
129 —
wärts gelegenen Oasen als Fruchtbaum gelten kann, so aus-
gezeichnete Datteln das Ghor im Altertume auch hervorbrachte
und heute hervorzubringen imstande wäre.
Im allgemeinen macht das Pflanzenkleid von Palästina einen
dürftigen Eindruck, den klimatischen Verhältnissen, dem vorherr-
schenden Felsboden und der langen, wechselvollen Geschichte
entsprechend. Kahle Felslandschaften sind nicht selten, namenthch
nach dem Ghor hin. Üppigen Pflanzenwuchs findet man, ab-
gesehen von den heute so seltenen Berieselungsanlagen, heute
nur auf reich bewässertem Boden, namentlich längs des Jordan,
der von einem Saume von Pappeln, Tamarisken, Oleandern,
Keuschbäumen, Elaeagnus usw. begleitet ist, ein schwacher Ab-
glanz der Galeriewälder des tropischen Afrika. Der Keuschbaum,
der Oleander, auch der Ricinus sind die steten Begleiter der
Wasserläufe. Geringer Höhenwuchs kennzeichnet alle Holz-
gewächse des trockenen Landes, das überhaupt, von Frucht-
bäumen abgesehen, als baumarm und namentlich als arm an
Bauholz, wie schon im Altertume, angesehen werden kann. Wo
noch einzelne Bäume oder Gruppen solcher, namentlich immer-
grüne Eichen, vorkommen, da werden sie fast als heilig betrachtet.
Wälder, die man aber besser als lichte Haine bezeichnen sollte,
besonders von immergrünen Eichen (Quercus ilex und Quercus
aegylops), niedrigen, aber stämmigen Wuchses kommen noch heute
in Samaria, im Dscholan, Belka, am Westhange des Hauran, be-
sonders aber in Galiläa vor. In der nördlichen Saronebene gibt
es noch einen Eichenwald von 14 km Umfang. In Galiläa be-
zeichnet man i37o des Bodens als waldbedeckt. Noch heute sind
ausgedehnte Waldungen, vorherrschend Eichen, aber auch andere
Laubbäume und Wachholder eingestreut, in 800 — 1000 m Höhe
in den Tälern um Es Salt, jetzt dem größten Orte des Ostjordan-
landes, vorhanden. Im südlichen Haurangebirge ist der Wallnuß-
baum, auch der wilde Mandelbaum als Waldbaura zu betrachten.
Vereinzelte, an Quellen auftretende mächtige Platanen, auch
Terebinthen, sind nicht selten. Nadelhölzer gibt es, wenn man
von den angepflanzten Pinien und Zypressen absieht, in Palästina
eigentlich nicht. Nur der Wachholder kommt vor. Die Wald-
verwüstung schreitet aber noch immer fort. Meist von Triest
eingeführtes Bauholz ist sehr kostbar und wird daher wenig ver-
wendet.
Fischer, Mittelmeerbilder. q
— ISO —
Größere Flächen sind mit den für die Mittelmeerländer
charakteristischen Gestrüppdickichten, den Machien, bedeckt,
niedrigen, hier stets domenreichen Sträuchem. Der Sidr, Zizy-
phus lotus, aus dessen Domen die Dornenkrone Christi bestanden
haben soll, ist besonders häufig. Daneben Myrthen, Pistacia
Lontiscus, Arbutus, immergrüne Eichen u. dgl. Brennholz und
Holzkohle liefern allein diese Gestrüppe. Getrockneter Dünger
muß es ergänzen. Die offenen Flächen sind, wo sie nicht völlig
kahl sind, mit Halbsträuchern, Stauden, Zwiebelgewächsen und
einjährigen Gräsern bedeckt. Sie vermögen selbst im Frühling
dem Boden nur einen grünen Schimmer zu verleihen, der Nähr-
wert dieser Matten, auf die die Herden allein angewiesen sind,
ist ein geringer. Schon im Mai erliegt dies Grün dem Sonnen-
brande. Von jeher müssen Brände während der langen Sommer-
dürre der Vegetation höchst schädlich gewesen sein. Absicht-
liches Anzünden der Gestrüppe wurde daher schwer bestraft, da,
wie oft in der Bibel erwähnt wird, die reifen Saaten davon er-
griffen wurden. Die Beduinen des Ghor töten heute noch un-
weigerlich jeden, der einen solchen Brand anfacht. Selbst in
der heftigsten Fehde darf keine Partei des Feindes Land in
Brand stecken.
An Kulturgewächsen ist Palästina reich, alle auch sonst in
den Mittelmeerländern vorkommenden sind vorhanden. Der Öl-
baum, der Feigenbaum, die Apfelsine sind die wichtigsten Frucht-
bäume, der Johannisbrotbaum, der Granatbaum, der Maulbeer-
baum, Pfirsiche, Aprikosen sind weniger häufig, die Zucht der
Rebe schreitet vor. Sie wird besonders auf terrassierten Hängea
gezogen, wie um Bethlehem und Hebron, und Wein wird ein
immer wichtigerer Gegenstand der Ausfuhr. Die Trauben er-
reichen oft eine außerordentliche Größe. Alte, in den Felsen,
gehauene Keltern zeugen häufig von nicht mehr bestehenden
Weinbergen. Selbst Ortschaften sind danach benannt, wie Karjet-
el-Eneb, die Traubenstadt, auf dem Wege von Jaffa nach Jeru-
salem. Im Hauran selbst blühte im Altertum der Weinbau, wie
man schon aus den häufig in den Felsskulpturen verwendeten
Reben schließen kann. Ähnlich in dem heute verödeten „Süd-
lande", dem Landstreifen an der Südgrenze von Judäa. Haine
südlicher Fruchtbäume, die der Landschaft etwas Gartenartiges
verleihen, finden sich nicht gar so selten, sei es aus besseren
— 131 —
Zeiten erhaltene, sei es, wie die großen Apfelsinenhaine der
deutschen Ansiedler bei Jaffa, neu angepflanzte. Namentlich
Bet-Lehein, hebräisch Haus des Brotes nach der Fruchtbarkeit
seiner Umgebung, ist von seinen christlichen Bewohnern wieder
weithin von Oliven- und Feigengärten, Weinpflanzungen und
Weizenfeldern umgeben worden. Der Ölbaum ist ein uralter
Besitz des Landes. In den ältesten Zeiten, bis in welche die
biblische Überlieferung zurückreicht, erscheint das Land schon
überreich an Ölbäumen. „Ölbäume, die du nicht gepflanzet hast",
werden den Juden unter den Gütern genannt, die ihnen im Lande
der Verheißung zufallen sollen. Neben Wein und Getreide wird
der Ölbaum als die Quelle des Wohlstandes in der Bibel oft
hervorgehoben. Wie im Altertume, so ist noch heute der Öl-
baum der Charakterbaum des Heiligen Landes und Olivenöl ein
wichtiger Gegenstand der Volksnahrung. Noch heute ist der
Ölberg bei Jerusalem mit einzeln stehenden Ölbäumen übersäet
und von den acht uralten im Garten Gethsemane, von denen der
stärkste in Brusthöhe 2 m im Durchmesser hat, — der Ölbaum
erreicht in der Tat ein sehr hohes Alter und galt schon den
Griechen als unvergänglich — wird behauptet, daß sie aus by-
zantinischer Zeit stammen, ja, daß Christus unter ihnen gewandelt
sei. Von dem einst im Mittelalter im Ghor blühenden Zucker-
rohrbau werden noch heute von den Arabern alte Bauwerke als
Zuckennühlen bezeichnet. Die Opuntie ist nicht so häufig und
wichtig wie sonst in den südlichen Mittelmeerländern. Unter den
Getreidearten steht der Weizen bei weitem obenan, nächstdem
Gerste; weniger wichtig sind Mais, Reis und Hirsearten. Die
verschiedenen Höhenlagen bedingen anselinliche Unterschiede der
Erntezeit. Im Ghor erntet man die Gerste Ende April, den
Weizen Mitte Mai, auf dem Hochlande anfangs und Mitte Juni.
Der Anbau von Bohnen, Kürbisen, Gurken, vor allem auch von
Zwiebeln und Melonen, sowie von Gemüsen ist örtlich sehr
wichtig. Die noch heute in großen Mengen auf der Trümmer-
stätte von Askalon gebauten Zwiebeln, ascaloniae der Kreuzfahrer,
^chalottes, Schalotten haben davon ihren Namen. Von Handels-
gewächsen eignet sich das Land vorzüglich für Baumwolle,
Sesam und Tabak.
Die Tierwelt Palästinas ist im allgemeinen dem Klima und
der Pflanzenwelt angepaßt. Sie ist aber nicht gerade arm zu
— 132 —
nennen und bietet besondere Anziehung dadurch, daß die Fisch-
fauna des Jordan und des Tiberiassees große Übereinstimmung
mit derjenigen Afrikas, besonders des Nils hat. Selbst das auch
im Altertume erwähnte Krokodil kommt noch heute im Nähr ez
Zerka südlich vom Karmel vor, wie die Erlegung eines solchen
von 3 m Länge im Jahre 1877 durch deutsche Kolonisten be-
weist. Von Raubtieren dürfte der Bär am Hermon noch nicht
ganz ausgerottet sein, was vom Löwen seit dem 12. Jahrhundert
gilt. Der Panther ist in den Dickichten am Jordan nicht selten,
der Wolf und der Fuchs finden sich allenthalben, der Schakal
ist überaus häufig, so daß man auch heute ihrer leicht dreihundert
fangen könnte, wie einst Simson. Auch die gestreifte Hyäne ist
nicht selten. Von großen Jagdtieren ist das Wildschwein in den
Jordandickichten häufig, da es nur als Verwüster der Saaten ver-
folgt wird. Der Steinbock bewohnt noch die Felswüste Juda,
Antilopen sind noch durch drei Arten, besonders im Süden und
Osten vertreten, der Rothirsch und der Damhirsch sollen noch
in Galiläa, das Reh am Karmel vorkommen. Der Klippschliefer
(Hyrax syriacus), ein Vielhufer, der in den Felsklüften um das
Tote Meer haust, das Kaninchen der Bibel, gehört zu den äthio-
pischen Beziehungen, die sich auch in der Vogelfauna des Ghor
(Sonnenvögel) ausprägen. Der Grundfarbe dieses Wohnraumes
angepaßt sind alle Tiere hier rotbraun gefärbt: Füchse, Igel,
Rebhühner, Lerchen. Außerordentlich zahlreich, wie schon im
Altertume, kommt die Turteltaube in den Dickichten am Jordan
vor, ebenso die Felstaube, wenn auch nur im Sommer. In den
Felslöchem der Steilwände der Erosionstäler nisten sie massen-
haft. Eines derselben nordwestlich von Tiberias heißt danach
geradezu das Taubental. Sie wird in der Bibel sehr häufig
erwähnt und durfte allein von allen Vögeln auf dem Altare ge-
opfert werden. Als noch wertvolleres Federwild reihen wir das
rotfüßige Rebhuhn an. Geier, Adler, Falken sind außerordent-
lich häufig, ebenso der Storch und die Schwalbe. Wasservögel
beherbergen die Dickichte am Jordan, am Tiberiassee und be-
sonders am Hulesee in Menge. Der Strauß kommt im Ostjordan-
lande noch zuweilen vor, der Wildesel jedoch nur noch in der
nordarabischen Steppe. Den Boden durchwühlende Springmäuse
und andere Nager kennzeichnen die Grenzen gegen die umgeben-
den Wüsten; diese sind auch die Brutstätten der das Land von
— ^33 —
Zeit zu Zeit verwüstenden Heuschrecken. Aber wie in Arabien
werden sie auch hier in Menge gesammelt, auf Platten leicht
geröstet, in der Sonne vollends getrocknet und mit etwas Salz in
Säcken aufbewahrt, um dann zur Stillung des Hungers zu dienen.
Giftige Skorpione sind so häufig, daß sie im Spätsommer zum
Teil die Häuser unbewohnbar machen.
Von Haustieren ist das einhöckrige Kamel erst vom Men-
schen eingeführt und allgemein verbreitet, aber doch mehr in den
Grenzlandschaften. Das Pferd ist nicht häufig, wohl aber der
Esel, der mit Recht hoch geschätzt wird. Dem Rind sagt die
trockene Pflanzennahrung Palästinas nur wenig zu. Es wird zwar
allenthalben gehalten, aber in geringer Zahl, und spielt, klein und
struppig, als Milch- und Fleischtier eine untergeordnete Rolle.
Nur in der südwestlichen Küstenebene kann noch von Rinder-
zucht gesprochen werden. Sehr kleine Ochsen ziehen den Pflug,
nicht selten auch ein Kamel und Esel nebeneinander. Der
Büffel ist im Ghor nicht selten. Das wichtigste Haustier, sozusagen
das Charaktertier Palästinas, ist wie in den ältesten Zeiten, so
noch heute das (Fettschwanz-) Schaf, dem die vorhandene Pflan-
zennahrung am besten zusagt. Es liefert Milch, Käse, Fleisch
und Wolle. Es ist unmöglich, ein Landschaftsbild in Palästina
aufzunehmen, ohne Schafe darauf zu haben. In der Bibel wird
es 500 mal erwähnt, das Rind selten. In den ältesten Zeiten
war die Zahl der Schafe ungeheuer, später mit wachsendem An-
baue immer geringer. Selbst wir sprechen noch mit der Bibel
vom Opferlamm. Nächstdem die Ziege, namentlich die schwarze,
deren Haar die Decken für die Zelte der Beduinen liefert. Auch
sie war im alten Palästina häufig. Der Dichter des Hohen Liedes
vergleicht das reiche, schwarze Haar, das der Geliebten um die
Schulter wallt, einer Herde Ziegen an den lichten Bergen von
Gilead. Das Huhn fehlt im Alten Testament noch als Haustier,
wird aber im Neuen erwähnt und heute in Menge gehalten.
Bevölkerung.
Die Bevölkerung Palästinas ist, wie die Lage des Landes
und die reiche Geschichte erwarten läßt, eine ethnisch außer-
ordentlich gemischte, wenn auch das Arabische, von der tür-
kischen Amtssprache abgesehen, die allein herrschende Sprache
ist. Den ältesten Bestandteil bildet gewiß die Landbevölkerung,
— 134 —
die man auch hier gewönlich als Fellachen bezeichnet und von
denen man die am buntesten gemischte Stadtbevölkerung und
die erst später eingewanderten Beduinen unterscheiden muß. So-
viel die Herren und selbst die Sprache gewechselt hat, so dürfte
die Landbevölkerung im wesentlichen als aus Nachkommen der
vorisraelitschen, ursprünglich hamitischen, aber schon vor der Ein-
wanderung der Israeliten wenigstens sprachlich semitisierten Ur-
bevölkerung, der Kanaaniter, bestehend anzusehen sein. Sie
vermochten sich, von der Landesnatur, wie wir schon sahen, be-
günstigt, zäh am Boden haftend, als Ackerbauer auch den Er-
oberen wertvoll, unter allen Überflutungen zu behaupten, die ja
auch, soweit die Eindringlinge im Lande blieben, meist nicht
kopfreich waren. Auch die Zähigkeit, mit welcher sich die alten
Ortsnamen erhielten, bestätigt das. Die Bibel selbst bezeugt, daß
viele Kanaaniter zwischen den eingewanderten Israeliten sitzen
blieben. Sie waren als altansässig den zu Nomaden gewordenen
Israeliten im Landbau und Gewerbe überlegen. Die Amoniter
im nördlichen Ostjordanlande, die Jebusiter von Jerusalem, das
unter ihnen schon eine wichtige Siedelung war, gehörten zu ihnen.
Die Sprache der Kanaaniter war dem Hebräischen verwandt, wie
das Phönikische von diesem nur mundartlich verschieden war.
Den Israeliten verwandt waren die Edomiter im Gebirge Seir und
im Wadi Arabah, die Moabiter, die Ammoniter nördlich von
ihnen. In den Israeliten gingen schließlich nach jahrhunderte-
langen Kämpfen noch die Philister auf, ursprünglich ihnen ganz
fremd, zunächst auch aus Ägypten, weiterhin vielleicht aus Kreta
eingewandert: Palischtim, die Eingewanderten. Als Cyrus 538 v. Chr.
den Israeliten die Heimkehr aus der babylonischen Gefangen-
schaft gestattete, kehrten fast nur Angehörige des Reiches Juda
heim. Es blieben daher viele Fremde im Lande.
In den Sitten, Gebräuchen und religiösen Vorstellungen der
heutigen Fellachen ist noch viel uralt Heidnisches erhalten.
Fetzenbäume, als welche besonders Eichen dienen, spielen bei
ihnen eine große Rolle. Zum Dank für die Befreiung von Krank-
heit bzw. zur Übertragung aller Krankheit und alles Übels von
sich auf den Baum knüpft man an denselben einen Fetzen seines
Gewandes. Ebenso werden noch heute Felskuppen verehrt, nur
dem Islam angepaßt, indem ihnen kleine, weiße Kuppelbauten
aufgesetzt sind, welche Gräber von Häuptlingen oder Propheten
— 135 —
sein sollen: die Nebi, die alten Ortsgötter. Diese Makamstationen
sind die uralten Makam, gegen welche die Propheten eiferten.
Wie vor 3000 Jahren opfert man noch Lämmer vor diesen Kup-
pehi. Auch von den Dolmen, deren Errichtung man den Kana-
anitem zuschreibt, haben sich im Ostjordanlande, besonders in
Moab noch viele erhalten, die noch heute von den Arabern als
Altäre angesehen werden. Die Nebi gelten für so heilig, daß
selbst die nomadischen Araber im Schutze derselben ihre Vor-
räte niederlegen. Dem Schutze und der Gunst des Orts-Makam
— Makam bedeutet eigentlich Ort, d. h. heiliger Ort — , wird
mehr Wert zugeschrieben wie Allah und Mohammed selbst. Viele
Dörfer haben gar keine Moschee und mancher Fellache betritt
sein Leben lang keine solche. Diese Fellachen sind eine körper-
lich gut beanlagte Rasse. Namentlich sieht man unter den
Fellachenmädchen oft Schönheiten. Freilich haben sie sonst alle
Fehler lange geknechtet gewesener Völker.
Im 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert fand eine große
christliche Einwanderung aus den von den Barbaren venvüsteten
Ländern des römischen Reiches statt, namentlich aus Nordafrika
und Italien, da damals Palästina der friedlichste, gesichertste
Winkel des ganzen Römerreiches war. Diese Einwanderung trug
außerordentlich zum Aufblühen und zur Romanisierung des Lan-
des bei. Geknickt wurde diese Blüte dadurch, daß auch hier
endlich die allgemeine Schwäche des Reiches zutage trat und
der uralte Kampf zwischen der Wüste und dem Kulturlande
wieder einmal zugunsten der ersteren entschieden wurde. Der
Einbruch der eben zum Islam bekehrten Araber hat Palästina
aufs gründlichste und bis auf den heutigen Tag beeinflußt, den
Islam und die arabische Sprache zur Herrschaft und rein semi-
tische Volksteile ins Land gebracht. Denn reine Semiten sind
die zeltbewohnenden, als halbseßhaft zu bezeichnenden, meist
auch etwas Ackerbau treibenden Beduinen, die infolge mangeln-
den Schutzes der Grenzen in neuerer Zeit ähnlich, wenn auch
nicht so zahlreich wie im 7. Jahrhundert, in das Ostjordanland,
ja selbst in das Ghor, von Süden her gegen Judäa und über die
Schwelle von Zerin in das Westjordanland eingedrungen sind.
Das Ghor ist in Galiläa ganz von arabischen Nomaden be-
setzt und im südlichen Galiläa, in der Ebene Jesreel und in
einigen umliegenden Dörfern ist die durchaus mohammedanische
— 136 —
Bevölkerung rein arabisch. Sie wissen, daß sie von jenseits des
Jordan gekommen sind. Auch bei diesen Arabern findet sich
viel uralt Heidnisches, z. B. Mondverehrung. Die 60000 Be-
wohner von Zentralgaliläa gehören vielen Sekten an: Moham-
medaner, Christen, Juden, Drusen und einige Metawilegeraeinden.
Solche gibt es auch auf dem Karmel. Die jüdische Bevölkerung
ist erst seit dem Mittelalter dort wieder eingewandert. Außer
den Juden sind aber alle Bewohner reine Fellachen, die vom
Landbau leben und die Fellachenmundart sprechen.
Aus den allerverschiedensten Bestandteilen ist aber die Be-
völkerung der Städte zusammengesetzt. In ihr findet die wechsel-
volle Geschichte des Landes ihren Ausdruck. Es möge nur an
die griechischen und römischen Militärkolonien erinnert werden,
die ja auch aus den verschiedensten ethnischen Elementen be-
standen. Durch sie vor allem wurde die griechische Sprache,
wenigstens bei den Gebildeten, die herrschende, wie das Neue
Testament zeigt. Das Volk sprach Aramäisch. Dann kam die
arabische Überflutung, die Kreuzzüge, die eine außerordentliche
Blutmischung und Zufuhr neuer ethnischer Bestandteile bedingt
haben, die türkische Eroberung. Noch bunter gestaltet sich das
Bild in allerneuester Zeit infolge des erleichterten Verkehrs und
der geringeren Widerstandsfähigkeit der Türkei. Und bereits
sind es nicht bloß die Städte, wenn auch sie vorzugsweise, welche
aus religiösen Gründen zuwandernde Angehörige des jüdischen
und der allerverschiedensten christlichen Völker aufnehmen, von
den Abessiniern bis zu den Nordamerikanern, nein, es haben
sich jüdische und deutsche Acker- und Weinbauer im Lande
niedergelassen, letztere meist Angehörige der sich vorzugsweise
aus Schwaben ergänzenden christlich-protestantischen Sekte der
Templer, biedere, frommgläubige, fleißige und betriebsame Leute.
Ihre erste Niederlassung wurde 1869 bei Haifa begründet, heute
die größte und stattlichste von allen mit 600 Einwohnern. Andere
folgten dieser, so eine auch 1869 in Jaffa, 1872 die große
Ackerbau- und Weinbaukolonie Sarona bei Jaffa, dann 1883 die
Niederlassung Rephaim bei Jerusalem. Dazu ist ganz neuerdings
die Niederlassung Wilhelma in der Ebene östlich von Jaffa ge-
kommen. Doch besteht in allen ein Teil der Bevölkerung aus
sonstigen deutschen Protestanten, zusammen etwa 1500 Köpfe.
Dieselben haben einen sehr wohltätigen Einfluß auf die Ein-
— 137 —
geborenen ausgeübt, namentlich in wirtschaftlicher Hinsicht. Daß
heute in Palästina Wagen verwendet werden, wo sie zu brauchen
sind, ist ihr Verdienst. Freilich haben sie in der Landesnatur
und in der türkischen Verwaltung begründete große Schwierig-
keiten zu überwinden gehabt. Aber Handel und Verkehr ist
zum großen Teil in deutschen Händen. Deutsche Gasthäuser
und Kaufläden mehren sich und das Deutsche beginnt mit dem
Französischen immer erfolgreicher in Wettbewerb zu treten.
Frankreich hat nur Kirchen und Ordensniederlassungen geboten,
aber sein altgeschichtlicher Einfluß ist, wie in ganz Syrien, noch
sehr groß. Auch erzielt die deutsche protestantische Mission
immer größere Erfolge unter den Eingeborenen. In den beiden
Waisenhäusern werden loo — 200 Knaben und Mädchen deutsch-
protestantisch erzogen. Neuerdings haben sich auch große Ge-
sellschaften zur Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern
gebildet, jüdische Ackerbauschulen und jüdische landwirtschaft-
liche Niederlassungen sind an verschiedenen Punkten gegründet
worden. Erfolge sind freilich bisher noch nicht zu verzeichnen,
gewiß zum Teil weil die Zeit noch zu kurz ist. Die jüdischen
Einwanderer lassen sich auch hier am liebsten in den Städten
nieder, vor allem in Jerusalem, und leben fast auschließlich von
den Unterstützungen, die sie von ihren Volksgenossen in Europa
erhalten. Bekannt sind die sogenannten zionistischen Bestre-
bungen, welche Massenrückkehr der Juden nach Palästina be-
zwecken. Ältere jüdische Gemeinden bestehen, außer in Jeru-
salem, namentlich in Tiberias, das nach Jerusalems Zerstörung
Hauptsitz der Juden in Palästina war, und in Safed, das seit
dem 16. Jahrhundert an Stelle von Tiberias ein Hauptsitz jüdischer
Gelehrsamkeit war. Viele Juden wandern auch im Alter nach
Palästina ein, um im Heiligen Lande zu sterben. Die Zahl der
Juden in Palästina wird jetzt auf 65 000 geschätzt. Abgesehen
von den russischen Juden sendet Rußland zwar keine Ansiedler
ins Land, wohl aber jährlich 30 000 Pilger.
Dazu kommen nun schon seit längerer Zeit aus dem Liba-
non eingewanderte Drusen im Hauran, im nordöstlichen Dscholan
gegen den Hermon hin und in zwei Dörfern des Karmel, die
sich allein von einer großen Zahl solcher zu erhalten vermocht
haben, die hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden. Ferner
sind in Belka, Adschlun und Dscholan Tscherkessen angesiedelt
— 138 -
worden, die ihre neuen Wohnsitze in Bulgarien nach der Abglie-
derung Bulgariens von der Türkei wieder hatten räumen müssen,
Sie haben eine ganze Anzahl Niederlassungen gegründet, die im
Aufblühen begriffen erscheinen, namentlich den Hauptort El Ku-
netra und zwölf Dörfer in der Umgebung, Sie sind die rechten
Leute, um die räuberischen Beduinen im Schach zu halten.
Selbst ein kleiner Turkmenenstamra wohnt im Dcholan. Bei
Banijas gibt es auch drei Dörfer der syrischen Sekte der Ansai-
rier, in Galiläa, wie schon erwähnt, Metawile. Die Zahl der
Türken, fast auschließlich Beamte und Soldaten, ist gering.
Vorherrschend ist natürlich durchaus der Islam, aber es
haben sich viele alte christliche Dörfer und Gruppen solcher,
meist am besseren Aussehen und besserem Anbau des Landes
kenntlich, erhalten. Die Sekte der Samaritaner ist durch Inzucht
im Aussterben und zählt nur wenig über loo Köpfe.
Wirtschaftliche Verhältnisse,
Die Bevölkerung von Palästina ist in erster Linie eine land-
bauende. Daneben treibt sie Viehzucht, wenige diese allein.
Beide aber in urtümlicher, wenig lohnender Weise, Dresch-
schlitten, von Ochsen gezogen, unten mit harten Basaltsteinen als
Zähnen, sind noch meist in Gebrauch. Sie zerschneiden das
Stroh zu Häcksel. Nur in flachen Mulden und an sanften Hängen
kann gepflügt werden, sonst wird der Boden mit der Hacke be-
arbeitet. Die bekannte Art der türkischen Verwaltung und Be-
steuerung, der Mangel an Schutz für Person und Eigentum, wie
an Verkehrswegen sind natürlich einem Aufschwünge ungünstig.
Wenn der arme Bauer von einem Ölbaume mehr Steuern zahlen
muß, als er einbringt, haut er ihn lieber um. Bei aller Willkür
und allem Steuerdruck geschieht nichts, um den Absatz der Er-
zeugnisse zu erleichtern und damit den Anbau zu heben. Doch
sieht man allenthalben, namentlich in der Umgebung der Städte,
den Anbau des Bodens fortschreiten. Baumzucht, wenn wir die
Rebe einschließen, steht obenan. Jaff'a ist auf mehrere Kilometer
im Umkreise von wohlgepflegten Apfelsinenhainen umgeben, die
die sogenannten Jerusalemapfelsinen, eine dickschalige, große, an
Gestalt mehr der Limone ähnelnde Art liefern. In Jerusalem
selbst kommt die Apfelsine nur unter winterlichem Schutze fort,
Wassermangel schlösse ihren Anbau auch aus. Olivenhaine kom-
— 139 —
men an allen Punkten des Landes, selbst im Ostjordanlande vor,
die größten im Südwesten in der Gegend von Gaza. Ägypten
ist seit den ältesten Zeiten das nächste und wichtigste Absatz-
gebiet für Öl und Wein aus Palästina gewesen. Auch Feigen-
zucht ist nicht unbedeutend. Mehr und mehr dehnt sich auch
der Weinbau wieder aus, für welchen sich das Land ausgezeichnet
eignet. Schon im Altertume spielte neben dem Öl- und Feigen-
baume die Rebe die erste Stelle, ihrem Anbau galten in erster
Linie die heute meist nur noch in Spuren erhaltenen Terrassie-
rungen, die in ihrer ungeheuren Ausdehnung eine großartige
Kultur- und Arbeitsleistung darstellen. Um die friedliche Wohl-
fahrt des Volkes zu veranschaulichen, braucht die Bibel mehrfach
die Wendung: ein jeder werde unter seinem Weinstocke und
Feigenbaume wohnen. Um Haifa, Jaffa, Jerusalem, Es Salt und
an anderen Punkten wird jetzt Weinbau im großen getrieben,
am meisten und von altersher am Hebron. Stundenweit ist diese
Stadt hügelauf, hügelab von meist ummauerten Weinpflanzungen
mit Wachttürmen darin umgeben, sorgsam sind die Terrassen
erhalten und die Steine zu Einfriedigungen gesammelt. Die meist
riesigen Trauben werden sowohl frisch genossen, wie zu Sirup
und Wein verarbeitet, namentlich aber auch getrocknet. Der
Karmel ist von den deutschen Ansiedlern in Haifa in großer
Ausdehnung terrassiert und mit Reben bepflanzt worden. Wie
wichtig die Baumzucht ist, zeigt schon der Umstand, daß sie
allein zwei Drittel der Ausfuhr liefert, trotzdem die ihr gewidmete
Fläche klein ist. Die Baumpflanzungen gleichen mehr Oasen
und sind in Galiläa und Samaria am häufigsten. Doch hat der
Fleiß der christlichen Bewohner auch in dem felsigen Judäa
die Umgebung von Bethlehem wie von Hebron in blühende
Gärten venvandelt. So mag einst das ganze Land ausgesehen
haben.
Der Getreidebau, obwohl auch er mehr als den Bedarf
der Bewohner hervorbringt, tritt neben Baumzucht etwas zurück,
ebenso der Anbau von Sesam, Tabak und Baumwolle. Der
Weizen von Palästina, namentlich die harte, glasig durchsichtige
Art, die der vulkanische Boden des Hauran ohne jede Düngung
hervorbringt, wird hoch geschätzt. Der Ertrag der Felder ist bei
der Art der Behandlung trotz noch immer vorhandener natür-
licher Fruchtbarkeit ein geringer, im Mittel etwa das 1 6 fache.
— 140 —
im Hauran, abgesehen von Mißernten, das 60 — 100 fache. Auch
die dem Ackerbau überhaupt gewidmete Fläche ist nur ein Bruch-
teil des anbaufähigen Landes. Derselbe wird im ganzen Lande
durchaus ohne künstliche Berieselung bloß mit Hilfe der Winter-
regen betrieben, doch hat man vielfach, besonders in dem regen-
armen Judäa, die Seiten der Täler mit Querdämmen versehen,
hinter denen die gute Erde aufgefangen und eine gründliche
Durchfeuchtung des mit Getreide zu bestellenden Bodens er-
zielt wird.
Die Viehzucht wird ohne Ställe und Stallfütterung, ohne
künstliche Wiesen lediglich mit Hilfe des natürlichen Weidelandes
betrieben.
Zur Entwicklung der Gewerbetätigkeit fehlen, wie wir
sahen, im Lande selbst die Bedingungen fast durchaus. Immer-
hin sind auch heute noch kleine Ansätze zu einer gewissen,
selbstverständhch bodenständigen Gewerbetätigkeit vorhanden. So
wird an mehreren Orten, welche bedeutende Olivenzucht besitzen,
wie in Nabulus, Gaza, Jaffa das Olivenöl zu Seife verarbeitet.
Die Salzpflanzen der Steppe des Ostjordanlandes liefern von
altersher dazu die Soda. Der Müllerei gedachten wir schon.
Doch herrschen durchaus Handmühlen für jeden Haushalt vor.
Hebron verfertigt eigenartige Glaszierate, besonders Glasringe als
Armbänder und Lampen, irdenes Geschirr, Lederschläuche, auch
noch grobe Wollstoffe. Teppichweberei kommt noch vielfach
vor. In Bethlehem nährt sich ein bedeutender Teil der Bevölke-
rung von der Anfertigung von Andenken aus dem Heiligen Lande
aus Olivenholz, Perlmutterschalen u. dgl. Rascheja am Hermon
ist durch seine Töpfereien berühmt, deren Erzeugnisse trotz der
felsigen Wege auf Eseln und Maultieren durch ganz Syrien ver-
trieben werden.
Daß ein großer Teil der Bevölkerung des Landes selbst
nichts hervorbringt, sondern von dem Gelde lebt, welches Christen
und Juden aus der ganzen Welt zu ihrem Unterhalte beisteuern,
wurde schon angedeutet. Eine immer reicher fließende, überaus
bequeme Erwerbsquelle bilden auch die Pilger. Bei dem Dar-
niederliegen aller Erwerbszweige der überaus dünn gesäeten Be-
völkerung kann naturgemäß die Hervorbringung von Waren (Roh-
stoffen) zur Ausfuhr, wie die Kaufkraft für die Erzeugnisse
europäischen Gewerbefleißes, demnach auch der Handel nur
— 141 —
gering sein. Die Summe, um welche es sich bei der Aus- und
Einfuhr handelt, ist sehr gering, doch ist ein stetiger, wenn auch
langsamer Fortschritt bemerkbar, der selbstverständlich von außen
her bewirkt ist. Die Einfuhr findet vorzugsweise über Jaffa, die
Ausfuhr über Jaffa, Haifa und 'Akka statt. Der Mangel an
Wegen und Häfen war bisher und ist noch heute der Entwick-
lung des Landes nachteilig. Hafenbauten sind wenigstens in
Jaffa und Haifa unerläßlich^ wie die Römer Kunsthäfen in Cäsa-
rea, die Kreuzfahrer in 'Akka und Atlit hergestellt hatten. Bei
den zu überwindenden Schwierigkeiten würden freilich die Kosten
so hohe sein, daß auf lange eine Verzinsung der angelegten
Summen nicht zu hoffen wäre. Fahrstraßen verbinden heute
Jaffa mit Jerusalem und durch die Ebene mit Haifa. Jerusalem
ist auch mit Hebron durch Fahrstraße verbunden, Haifa und
'Akka mit Nazareth. Der 1892 fertiggestellten Eisenbahn Jaffa-
Jerusalem folgte 1895 die Linie Damaskus-El Muzerib, Seitdem
ist die von Haifa ausgehende Linie nach Damaskus bis zum
Jordan, die türkische nach Arabien bis östlich vom Toten Meere
vollendet worden.
Der ganze heutige Zustand des Landes findet einen scharfen
Ausdruck in der Volksdichte desselben. Wie groß dieselbe
ist, kann nur geschätzt werden. Jedenfalls ist sie sehr gering, da
recht gut bewohnbare Gebiete, wie z. B. der Karmel, heute fast
menschenleer sind. Doch ist durch die starke Zuwanderung die
Bevölkerungszahl beträchtlich gestiegen. Einen guten Anhalt für
eine Schätzung hat uns die Feststellung einer Volksdichte von
21 — 22 Köpfen auf i qkm für die Landschaft Dscholan gegeben.
Für Galiläa, dessen Volksdichte aber kaum größer sein dürfte
als die von Judäa, wegen Jerusalem, Hebron, Gaza, hat neuer-
dings Schwöbel auf Grund einer sorgsamen Untersuchung eine
Volksdichte von 28 Köpfen angenommen. Ich glaube daher für
das ganze Land eine mittlere Volksdichte von 25 Köpfen auf
I qkm annehmen zu sollen, was bei rund 30000 qkm eine Ge-
samtbevölkerung von 750000 Köpfen geben würde. Im all-
gemeinen ist die Volksdichte an der Regenseite, der Westseite
des West- wie des Ostjordanlandes am größten und nimmt sie
mit der Höhe zu. Namentlich der tiefstgelegene Landstreifen
des Ghor zeigt auch die größte Auflockerung der Bevölkerung.
Es verteilt sich die Bevölkerung Palästinas entsprechend dem
— 142 —
überwiegen der ländlichen Bevölkerung über meist kleine Siede-
lungen^ Dörfer, höchstens Landstädtchen in unserem Sinne. Klein-
siedelungen herrschen durchaus vor, wenn auch heute schon
weniger wie vor kurzem. In Galiläa wohnten in den siebziger
Jahren nur 30 Prozent der Bevölkerung in Städten von mehr
als 2000 Einwohnern. Großstädte sind naturgemäß nicht vor-
handen, selbst Jerusalem mit seinen etwa 60000 Einwohnern
kann erst seit kurzem als eine Mittelstadt bezeichnet werden.
Bei allen anderen Städten überwiegt die ländliche Bevölkerung.
Es fehlt überhaupt eine Individualisierung der Siedelungen etwa
als Sitze des Handels, der Gewerbetätigkeit, als Badeorte u. dgl.
fast ganz. Bei einzelnen tritt ihre geschichtliche Bedeutung auch
in der Gegenwart schärfer hervor, indem diese sie, wie wir das
ganz besonders bei Jerusalem sehen, zum Ziele von Pilgerfahrten
machte, und Anlagen zur Aufnahme von Pilgern ihnen ein be-
sonderes Gepräge verleihen. Das Fremdengewerbe beginnt bei
ihnen ähnlich, wenn auch in bescheidenerem Maße und in
anderen Formen wie etwa in der Schweiz eine Rolle zu spielen.
Die Bedingtheit der wichtigsten Siedelungen kennzeichneten wir
bereits. Die meisten sind an Quellen, deren Vielheit in Galiläa
auch Vielheit der Siedelungen bedingt, im Wüstenlande an
Brunnen gebunden, wenige an rinnendes Wasser, schon weil dies,
wo vorhanden, meist in engen Schluchten fließt. Nicht wenige
aber auch lediglich an Zisternen, welche Seßhaftigkeit zur Aus-
beutung des fruchtbaren Landes oft allein, namentlich bei Höhen-
lage, ermöglichten. Selbst in dem quellenreichen Galiläa sind
noch 22^ Iq der Siedelungen an Zisternen gebunden. Besondere
Hervorhebung verdient, daß die Seen im grellsten Gegensatze
etwa zu mitteleuropäischen Verhältnissen in keiner Periode der
Geschichte eine Verdichtung der Bevölkerung, keine Entwick-
lung größerer Siedelungen herbeigeführt haben. Tiberias ist
die einzige Ausnahme von dieser Regel. Hohe freie Lage,
sei es auf vereinzelten Höhen, auf Bergspornen zwischen Fluß-
tälern, wohl auch an freien Hängen, luftig, gesund und zugleich
natürlich geschützt, kennzeichnet sehr viele Siedelungen Palästinas.
Allenthalben strebt hier die Bevölkerung den Höhen zu, die Siede-
lungsdichte nimmt allgemein mit der Höhe zu. In Galiläa wohnt
die Hälfte der Bevölkerung auf 36°/^ der Fläche oberhalb der
Isohypse von 300 m. Mit den meist kleinen weißgetünchten
— 143 —
Steinwürfeln der Häuser mit ihren flachen oder Kuppeldächern,
eines über das andere getürmt, gleichsam die Höhe erklimmend,
die ein alter Turm, das Haus des Schechs oder eine Moschee
mit hohem Minareh krönt, mit hier und da zwischen den Häu-
sern stolz aufragenden Dattelpalmen oder über die Mauern hängen-
den Fruchtbäumen ist der Anblick dieser Ortschaften meist ein
sehr malerischer. Im Inneren freilich wird dieser Eindruck durch
die engen, von Schmutz und Unrat gefüllten Gassen rasch ver-
wischt, die oft teilweise überwölbt oder mit mehr oder weniger
schadhaften Matten überspannt sind und auf die sich die nach
außen, meist fensterlosen Häuser nur mit dunklen höhlenähnlichen
Hauseingängen öffnen. Die Höhle scheint auch vielfach das
Vorbild dieser Häuser gewesen zu sein. Selten sind dieselben
in tadellosem baulichen Zustande, halb oder ganz in Trümmern
liegende findet man überall. Manche Dörfer, die mit ihren
niedrigen Häusern an die Felswände geklebt sind, denen der
Baustein entnommen ist, sind von fem kaum zu erkennen. Tal-
und Kesselsiedelungen sind aus gesundheitlichen, wie aus Sicher-
heitsgründen nicht häufig. Nur im nördlichen Ostjordanlande,
besonders in En Nukra finden sich Siedelungen häufig in freier
Ebene. Diese dürften aber wohl meist erst in der Zeit der höch-
sten Sicherheit, die das römische Reich bot, entstanden sein, wie
sie dann auch zuerst dem Ansturm der Wüste erlagen. Manche
Siedelungen Hegen oder lagen auch auf sogenannten Teils, nied-
rigen, vereinzelt aus der Ebene aufsteigenden Hügeln, die zuweilen
natürlichen, häufiger aber künstlichen Ursprungs, namentlich durch
übereinander gehäufte Schuttmassen von Lehmhäusern sind.
Wie fast überall im Orient zerfällt jede etwas größere Siedelung
in ganz gesonderte Viertel, wenn dieselben auch selten, wie in
Marokko allgemein, durch Mauern und Tore voneinander ge-
sondert sind. Jedes Viertel ist von Angehörigen einer anderen
Religion oder Konfession bewohnt, die sich gegeneinander ab-, um
so enger aber zu gegenseitigem Schutze zusammenschließen. Auch
heute noch ist dieser unerläßlich, da ja jeden Augenblick reli-
giöser Fanatismus und Unkultur zu blutigen Metzeleien, mit Vor-
liebe der Christen untereinander führt. Auch die deutschen
Templer bilden geschlossene Ansiedelungen für sich abseits der-
jenigen der Eingeborenen. Einige wenige Chans und Mühlen an
dauernd rinnende Bäche meist in engen Schluchten gebunden,
— 144 —
aber auch nur in Galiläa und im Ostjordanlande machen eine
Ausnahme von der Regel des geschlossenen Wohnens. Die meisten
etwas ansehnlicheren Siedelungen Palästinas dürften uralt sein.
Zahllose Ruinenstätten, deren Schwöbel allein in Galiläa 460 zählt,
neben 32g vorhandenen Siedelungen, zeugen davon, daß in der
Blütezeit des Landes dasselbe viel dichter mit Siedelungen be-
deckt war, von denen sich im allgemeinen wohl nur die lebens-
kräftigsten erhalten haben und nur durch wenige Neugründungen
ergänzt worden sind. Die Siedelungsdichte ist heute eine weit
geringere als in der Blütezeit, jedenfalls auch die Größe der
Siedelungen.
In Judäa lassen sich nach Volksdichte und Siedelungen drei
parallele Landstreifen unterscheiden, die ähnlich noch im Mittel-
lande Samaria vorhanden sind. Im Osten die sich von Norden
nach Süden von 15 auf 25 km verbreiternde Felswüste Juda,
die, abgesehen von dem Kloster Mar Saba, heute völlig menschen-
leer ist, und nur im Winter von Beduinen besucht wird. In der
Mitte das sich ebenfalls von Norden nach Süden von 30 auf
35 km verbreiternde Hochland, ihm gegen das Meer hin vor-
gelagert das Küstenland, Hügelland und Ebene 20 — 40 km breit.
Die südliche Erstreckung Judäas und damit Palästinas überhaupt
rechnet man gewöhnlich bis Beerseba, 40 km SSW von Hebron.
Die Grenze seßhaften Wohnens war aber in der besten Zeit noch
viel weiter nach Süden gerückt, während sie heute schon 15 km
südlich von Hebron liegt. In der Niederung reicht sie, abgesehen
von einem ganz schmalen, wasserreichen Streifen hinter den
Küstendünen, der erst 25 km südlich von Gaza endigt, nicht ein-
mal so weit. Die in der Bibel so viel erwähnten Brunnen von
Beerseba, um die sich der Ort gruppierte, liegen im Bette des
Wadi Gaza, der seinen Ursprung auf dem Hochlande bei Hebron
hat, nach dem er dort auch genannt wird. Wenn wir von Gaza
(c. 35000 E.) und Jaffa (c. 45000 E.) und den weniger be-
deutenden Randstädten am Fuße des Hochlandes Er Ramie und
Ludd absehen, liegen alle wichtigen Siedelungen, die wichtigsten
in der ganzen Geschichte Palästinas, auf diesem schmalen, im
Mittel etwa 800 m hohen Hochlandstreifen von Judäa. So das
bereits geschilderte Jerusalem, ferner Hebron (arabisch El Chalil,
d. h. die Stadt Abrahams, des Freundes Gottes), heute auch als
nahe der Grenze des seßhaft bewohnten Landes wichtig, an den
— 145 —
Hängen eines Tales, das zwei große Sammelteiche enthält, eine
heilige Stadt des Islam, welche die Gräber Abrahams, Isaaks
und Jakobs enthält, wo infolgedessen die Bevölkerung besonders
fanatisch und nur einer beschränkten Zahl von Juden der Aufent-
halt gestattet ist. Es mag i8 — i g ooo Einwohner haben. Die
Lage von Bethlehem, Christi und König Davids Geburtsort, ähnelt
der von Jerusalem. Es hat heute etwa 8000 meist christliche
Einwohner. Die Geburtskirche Christi ist ihr größtes Heiligtum.
In Samaria liegen die Verhältnisse im allgemeinen ähnlich
wie in Judäa. Auch dort ist der dem Ghor benachbarte Land-
gürtel der ungünstigste, auf dem Hochlande selbst aber begünstigt
größerer Quellenreichtum und das Vorkommen von kleinen,
fruchtbaren Becken Anbau und Volksverdichtung. Das wichtigste
derselben ist die INIachnaebene, an deren Nordwestende, in einem
sich nach Norwesten öffnenden Tale, 570 m hoch das alte Sichem
liegt, in hellenistischer Zeit Neapolis genannt, davon heute Na-
bulus. In quellen- und baumreicher Umgebung, reich an mur-
melnden Wasserrinnen, die Hänge ringsum bis Ebal im Norden,
bis Garizim im Süden terrassiert und bepflanzt, macht Nabulus
einen außerordentlich lieblichen Eindruck, wenn es auch fast
ganz von fanatischen Mohammedanern (25 000) bewohnt ist. An
der Nordgrenze von Samaria liegt Dschenin ähnlich über dem
südöstlichen Zipfel des Merdsch el 'Amir, daher nur 158 m über
dem Meere, inmitten palmenreicher Gärten. Zwischen beiden,
näher an Nabulus, ist das alte Samaria, das zur Zeit der Makka-
bäer dieser mittleren Landschaft des Westjordanlandes seinen
Namen gab, als Sebastije (nach Augustus Sebaste genannt) heute
ein kleines, einen aus der Hochebene aufragenden terrassierten
Hügel krönendes Dorf. Die Sekte der Samaritaner hat aber
ihren Sitz in Nabulus.
In dem etwa 4000 qkm großen Galiläa nimmt die am Ras
en Nakura am Südende der Scala Tyriorum anhebende Küsten-
ebene um die Bucht von Haifa nur 7 Prozent der Landschaft ein.
Historisch weit wichtiger als das es heute überflügelnde Haifa
ist 'Akka, das im Altertum auch vielfach zu Phönikien gerechnet
wurde und erst später eine jüdische Niederlassung erhielt. Seine
größte Bedeutung erlangte es während der Kreuzzüge als Seetor
von Palästina in der Hand der Christen. Nur durch eine Tal-
enge geschieden schließt sich die Binnenebene Jesreel an die
Fischer, Mittelmeerbilder. 10
- — 146 — -
Küstenebene an. Da die östliche Abdachung sehr schmal, aber
auch nur dünn bevölkert ist, so gehört fast Dreiviertel von Gali-
läa dem Hochlande an, welches aber einerseits in ein südwest-
liches Nieder- und ein nordöstliches Obergaliläa geschieden wer-
den kann. Aber auch ersteres erhebt sich ziemlich steil aus der
Querverwerfung von Jesreel und weitet sich nach Norden zu dem
flachen Becken El Battof aus. Obergaliläa, etwa 44% ^^^^ Land-
schaft, erscheint als eine etwa 600 m hohe von Tälern durch-
schnittene Tafel mit Erhebungen bis zu 1200 m. Sie ist deshalb
der niederschlags- und noch waldreichste Teil von Palästina und
war wohl auch immer einer der dichtestbesiedelten. Hier liegt
auch heute der größte Ort Safed, 838 m, mit 30000 Einwohnern,
in für Obergaliläa besonders charakteristischer Lage auf und um
einen vulkanischen Kegel. Dieser natürlichen Festigkeit und
seiner Eigenschaft als heilige Stadt verdankt Safed seine Be-
deutung und sein Wachstum in neuester Zeit, keineswegs etwa
einer günstigen Verkehrslage. Es ist aber auch die einzige
Siedelung Obergaliläas von über 2000 Einwohner. Nicht so
groß, aber auch rasch gewachsen, wohl wesentlich wegen seiner
größeren geschichtlichen Bedeutung als heiliger Ort, die zahlreiche
christliche Gründungen veranlaßt hat, ist der Hauptort von Nieder-
galiläa Nazareth, 349 m, mit 10 000 Einwohnern, in wasserreicher
Umgebung, aber abgeschlossener, verborgener Lage. Die kleinen
Becken und Ebenen sind auch hier teils wegen der Versumpfung,
teils wegen des mangelnden natürlichen Schutzes keineswegs heute
die dichtestbevölkerten Gebiete. Doch wird sich das wohl wieder
rasch ändern. Im allgemeinen nimmt die Volksdichte mit der
Höhe zu und ist namentlich in der Gegenwart durch Zuwande-
rung auch hier vorzugsweise in die größeren Siedelungen im
Wachsen. Sie erreicht heute bereits an der Nordgrenze, wo
kleine Siedelungen am dichtesten gesäet sind und schon die
günstigeren Verhältnisse des Libanon einwirken, bis 50 Köpfe auf
I qkm, in Niedergaliläa etwa 30.
Im Ostjordanlande, dessen Volksdichte durchweg eine ge-
ringere ist, wo alle Kultur wegen der Nähe der Wüste dauernd
kräftigen Schutzes bedarf, hat selbst die meridionale Verkehrs-
linie, so wichtig sie ist, keine größeren Siedelungen in der Gegen-
wart hervorzubringen vermocht, weil sie aus bodenplastischen
Gründen sich, außer an der Westseite des Haurangebirges, auf
— 147 —
der Grenze von Wüste und Kulturland hält. In der vorarabischen
Blütezeit hatte hier allerdings der Verkehr mit reich lohnendem
Anbau des Bodens im Bunde an der Westseite des Hauran-
gebirges selbst Großstädte geschaffen. Alle etwas bedeutenderen
Siedelungen liegen heute westlich der großen Pilgerstraße nahe
dem Ghor in einem noch verhältnismäßig niederschlagsreichen
Gürtel in bedeutender Meereshöhe, mehr durch Anbau des Bodens
als durch Verkehr bedingt. So im Süden jenseits des Toten
Meeres, aber nur 12 km von und 1400 m über demselben El
Kerak (Kir Moab der Bibel), auf einer Anhöhe der Hochfläche,
hoch über dem tief eingeschnittenen Tale des zum Toten Meere
eilenden gleichnamigen Flusses, natürlich fest und einen der
Karawanenwege nach Arabien und Ägypten beherrschend, daher
eine zu allen Zeiten wichtige Festung, heute wieder mit etwa 20
bis 22000 Einwohnern. Es ist Sitz der türkischen Verwaltung für
den Südosten und einer starken türkischen Besatzung. Gegen
die meist niedrigen Häuser und Hütten der vorzugsweise von
Ackerbau und Viehzucht lebenden Bewohner sticht die gewaltige
Mauer und das noch massigere Kastell auf der Höhe, von dem
der Blick bis zum Ölberge schweift, das im wesentlichen als ein
Werk der Kreuzfahrer angesehen werden kann, merkwürdig ab.
Große Zisternen überall in der Stadt suchen dieselbe von den
Quellen im Tale unabhängig zu machen. Es-Salt, der Hauptort
von El Belka, liegt ebenfalls 835 m hoch am Hange eines von
einem alten Kastell gekrönten Berges, auch über einem wasserreichen,
sich zum Ghor öffnenden Tale und nur 10 km von diesem. Es
ist ebenfalls vorwiegend Ackerstadt. Stammt Es-Salt wohl erst
aus christlicher Zeit, so liegt weiter nach Norden, schon in Ad-
schlun, das heute kleine und unbedeutende Dscherasch (5 1 6 m),
erst durch Tscherkessen wieder besiedelt, inmitten des weiten,
noch von mächtigen Mauern umschlossenen Trümmerfeldes von
Gerasa, das in den ersten christlichen Jahrhunderten eine Großstadt
war. Etwas größer (4000 Einwohner) ist Derät, das sehr alt ist und
als Knotenpunkt der Hedschaseisenbahn wohl einer neuen Blüte ent-
gegengeht. An seinen antiken Ringmauern trägt noch jeder Stein
einen vier Zoll hohen griechischen Buchstaben, das Steinmetzeichen.
Verwaltungseinteilung.
Die im allgemeinen noch traurige Gegenwart Palästinas be-
10*
— 148 —
ruht im wesentlichen auf seiner Zugehörigkeit zum türkischen
Reiche. Den wichtigsten Teil des Landes bildet das selbständige
Liwa El-Kuds (Jerusalem), das also unmittelbar unter der Regie-
rung in Konstantinopel steht. Das Ostjordanland, in die Liwas
des Hauran und Maän (El Kerak) eingeteilt, gehört zu dem
Vilajet Sürtja (Syrien), dessen Hauptstadt Damaskus ist. Samaria
und Galiläa gehören als Sandschaks Nabulus und 'Akka zu dem
Vilajet Berut.
Zukunft des Landes.
Werfen wir zum Schluß einen Blick auf die Zukunft von
Palästina, so können wir die früher viel erörterte Frage, ob die
Länder des Orients nicht infolge einer Klimaänderung für alle
Zeiten zu der Verwahrlosung verurteilt seien, in welcher sie heute
zum großen Teile daliegen, als dahin entschieden ansehen, daß
die Landesnatur wohl durch die alte Kultur, eine lange Ge-
schichte und den Unverstand der Menschen beeinflußt worden
ist, daß aber von einer Klimaänderung hier keine Rede sein
kann und daß diese Länder vollends mit den technischen Hilfs-
mitteln der Gegenwart unter einer guten Verwaltung wieder zu
einer Blüte gebracht werden können, die der glänzendsten Zeit
des Altertums gleichkommen könnte. In Palästina läßt sich
schon heute der türkischen Verwaltung zum Trotz unter dem
sich immer gewaltiger aufdrängenden Kultureinflusse Europas
überall eine aufsteigende Bewegung erkennen. Am auffälligsten
tritt dieselbe naturgemäß in den Städten, allen voran in Jeru-
salem, entgegen. Aber sie macht sich auch in den kleinen Land-
städten, auf dem Lande und selbst im Ostjordanlande geltend.
Es sind gewaltige Summen, welche die christlichen Bekenntnisse
durch die Pilger, durch dauernde Niederlassungen der ver-
schiedensten Art, durch die Eisenbahnbauten usw. jahraus jahrein
dem Heiligen Lande zuwenden und mit denen sie dessen Wirt-
schaftsleben befruchten. Von Tag zu Tag zieht das Land mehr
Vorteil von seiner Eigenschaft als heiliges. So besitzt beispiels-
weise das kleine Nazareth allein drei Hospitäler, sieben Klöster,
zwölf Schulen europäischer Völker, einzelne auch zur Ausbildung
von Handwerkern in arabischer Sprache.
Besonders anziehend zu beobachten ist, wie heute selbst
das am meisten verödete Ostjordanland wieder aufzuleben be-
— 149 —
ginnt. Der englische Reisende Cyrill Graham besuchte 1857 im
südwestKchen Hauran Um-ed-Dschimal (Mutter der Kamele), eine
Gründung der christlichen Ghassaniden und eine der am besten
erhaltenen unter den zahlreichen Ruinenstädten des Landes. Mit
ihren zahlreichen unversehrten, ganz aus Stein erbauten Häusern,
mit ihren gepflasterten Straßen und viereckigen Plätzen, das
Ganze noch von starken Ringmauern umschlossen, machte es,
völlig menschenleer, den Eindruck einer verzauberten Stadt. Der
englische Reisende R. Lees fand sie 1893 wieder bewohnt und
voller Leben! Ähnliches gilt von Es-Suweda (1078 m, an der
Westseite des Hauran, Maximianopolis?), das 1860 noch menschen-
leer war, aber 1893 nicht ein unbewohntes Haus mehr hatte,
heute der bedeutendste Ort des Hauran ist und dessen Straßen
ein echt orientalisch belebtes Bild bieten. Und so zahlreiche
alte Ortschaften dieser Gegend. Die ersten neuen Zuwanderer
besetzen die besten noch völlig bewohnbaren Häuser, spätere
bessern die beschädigten aus, so daß eine Umwandlung wie
bei den genannten und vielen anderen sich so rasch voll-
ziehen kann.
Was Palästina in der besten Zeit, dem 3. — 6. Jahrhundert
n. Chr., gewesen ist, das zeigen am besten die über das ganze-
Land verstreuten Ruinen, vor allem aber die so gut erhaltenen
Ruinenstädte im ganzen Ostjordanlande, besonders im Hauran
und Dscholan, ebenso aber in dem sogenannten Negeb oder dem
Südlande der Bibel, an der Südgrenze von Judäa, kurz ringsum
in den Grenzlandschaften gegen die Wüste, die heute menschen-
leer daliegen oder höchstens von wenigen schweifenden Noraaden
bewohnt sind. Südlich vom heutigen Kulturlande von Judäa
findet man weithin bis in die heutige Wüste hinein Dämme in
den Wadis, terrassierte Hänge, Spuren ehemaligen Weinbaues
und Weinpressen, die sich ja in dem trockenen Klima lange
erhalten, Trümmer von Siedelungen, namentlich in den Wadis
Hanein und El Aujeh, die zum Wadi El Arisch gehören.
Arabische Überlieferung nennt Wadi Hanein ein Gartental. El
Aujeh und Sebaita müssen, nach den Trümmern zu schließen,
bedeutende Städte gewesen sein. In letzterer fand der englische
Forscher E. H. Palmer die großartigen Ruinen von drei Kirchen,
wohl aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Jedes Haus besaß eine
jetzt trockenliegende Zisterne, aber in weitem Umkreise ist keine
- I50 —
lebende Quelle zu finden. Auf engem Räume konnten die
Trümmer von einem halben Dutzend Städten nachgewiesen wer-
den. Ähnlich wie hier und im Ostjordanlande heute Steppe und
Wüste herrscht, ist Mitteltunesien heute fast baumlose, aber mit
zahllosen Trümmern großer und kleiner Siedelungen übersäete
Steppe. In spätrömischer Zeit war es durch Aufspeicherung allen
Wassers und durch Baumzucht, namentlich Ölbäume, reiches,
dicht besiedeltes Kulturland. Diese Landschaften lehren, mit
welchen Mitteln eine solche Blüte möglich war und die Unter-
suchung der Landesnatur, wie sie heute ist, läßt keinen Zweifel
aufkommen, daß mit denselben Mitteln ein gleiches Wieder
aufblühen möglich ist. Der Vorgang des Verfalls und des
Wiederauflebens mag sich in diesen Grenzlandschaften mehrfach
wiederholt haben. Das letztere fand immer statt, wenn dieselben
einem großen, starken, wohlgeordneten Staatswesen angehörten,
das dem Kulturlande den nötigen Schutz gegen die Wüste zu
gewähren und auch die günstige Handelslage zur Geltung zu
bringen vermochte. Seit dem ig, Jahrhundert hat wenigstens im
Ostjordanlande eine Neubesiedelung der alten Ruinenstädte be-
gonnen, aber selbst in Galiläa hegen nach Schwöbel von je etwa
fünf Siedelungen der Blütezeit noch drei in Trümmern.
Mag auch in Palästina die Decke fruchtbarer Ackererde im
Laufe der Jahrtausende und durch mangelnden Schutz dünner
und lückenhafter geworden sein, mögen die Niederschläge wenig-
stens unregelmäßiger, wenn auch nicht geringer geworden sein,
es sind noch in vollem Maße die Bedingungen gegeben, um von
innen heraus das Land einer neuen Blüte zuzuführen. Zieht
man in Betracht, daß die Bedürfnislosigkeit der Bevölkerung süd-
licherer Länder auch bei gleich hoher Gesittung stets größer, das
Nahrungsbedürfnis geringer ist, so leuchtet ein, daß die Volks-
dichte eines wärmeren Landes bei gleicher Fruchtbarkeit des
Bodens größer sein kann wie die eines kälteren. Schwöbel
nimmt für Galiläa in der besten Zeit eine Volksdichte von
I20 Köpfen auf i qkm an, Socin für ganz Palästina 96 — 115.
Jedenfalls erscheint uns eine Vervierfachung der heutigen Volks-
dichte von 25 Köpfen, also 100 Köpfe auf i qkm und somit
3 Millionen für das ganze Land durchaus möghch, lediglich durch
Entwicklung des Anbaus des Bodens, ohne Hinzutreten etwa von
Handel und Gewerbetätigkeit, für welche in der Gegenwart die
Bedingungen nicht gegeben sind. Freilich, eine Volksdichte, wie
sie Sizilien besitzt, das man zum Vergleiche heranziehen könnte,
141 Köpfe auf I qkm, scheint mir für Palästina unmöglich, da
dort auch Bergbau und Handel, schon wegen der günstigen
Lage, der Länge und Beschaffenheit der Küsten, auch Gewerbe-
tätigkeit ins Gewicht fallen, welch letzterer billige Zufuhr von
Rohstoffen und niedrige Löhne günstig sind. Es scheint uns
ausgeschlossen, daß Palästina jemals, wie auch behauptet worden
ist, 5 Millionen Einwohner gehabt habe.
Wenn wir die einzelnen Landschaften auf ihre Entwicklungs-
möglichkeit untersuchen, so ist zunächst die ganze Küstenebene
bei ihrem fruchtbaren Boden und den ungemessenen Wasser-
vorräten, welche das Grundwasser, Bäche und Quellen darbieten,
dichtester Besiedelung auf Grund von Apfelsinen-, Baumwollen-,
Tabak- und Zuckerrohrbau zugänglich. Auch auf dem West-
jordanhochlande bedarf es nur der Verwertung der vorhandenen
und der Aufspeicherung der winterlichen Wassermengen, um
neben Getreidebau Baumzucht (Ölbäume, Feigenbäume, Granat-
bäume, Johannisbrot- und Mandelbäume usw.) und Weinbau in
großer Ausdehnung zu betreiben, wie sie heute nur in der Um-
gebung einiger Städte getrieben wird. Ebenso Tabakbau und
Seidenraupenzucht. Beide spielen ja in Syrien eine große Rolle
und ein großer Teil von Palästina eignet sich für Maulbeer-
pflanzungen. Syrien ist ja die Heimat des edeln Ölbaumes. Die
Opuntie, die beispielsweise in Tunesien ohne Pflege eine Fülle
billiger Volksnahrung liefert, würde dies auch hier vermögen. Das
Ghor ist in seiner ganzen Ausdehnung in einen tropischen Garten
zu verwandeln. Hier könnten Wintergemüse der verschiedensten
Art, Bananen, Apfelsinen, Zuckerrohr, Baumwolle, Datteln gezogen
werden, die bei der hier herrschenden Lufttrockenheit, Wärme
und möglichen reichen Bewässerung zu den besten der W^elt
gehören würden. An Absatzmärkten würde es nicht fehlen, denn
über Saloniki würde Berlin in fünf Tagen zu erreichen sein.
Jericho, heute auf einem Morgenspaziergange von Jerusalem zu
erreichen, aber 1050 m tiefer und im Januar um 2^ C wärmer
als Kairo, kann wieder werden, was es zur Zeit des Herodes
war, eine prachtvolle Winterresidenz, deren Wert noch durch die
dicht dabei sprudelnden Thermen von Teil el Hammam (Ain es
Sultan), durch das Tote Meer mit seinen großartigen Szenerien
— 152 —
und seinen Thermalquellen, wie ^Ain Dschidi, Hammam ez Zerka
(Kallirrhoe), schon im Altertum ein Luxusbad, 'Ain es Sara u. a. m.
durch eine Fülle anziehender Altertümer ringsum, durch den
fischreichen Jordan usw. erhöht wird. Es kann hier eine Be-
rieselungsoase von etwa 55 qkm Flächeninhalt geschaffen werden.
Wenn ich i8g6, wo die Stätte von Jericho noch wüst lag, schrieb,
es könne der Geograph ähnlich wie es dem weisen Thaies von
Milet nachgesagt wird — er habe einem Spötter den Beweis
geliefert, daß seine Philosophie auch großen praktischen Wert
haben könne, indem er, eine reiche Olivenernte als Naturkundiger
voraussehend, alle Ölpressen in lonien pachtete und dann, als
dieselbe wirklich eintraf, mit großem Gewinne wieder ver-
pachtete — den Rat zu lohnender Geldanlage in Jericho geben,
so ist diese Voraussage sehr rasch eingetroffen: schon heute be-
stehen neben dem russischen Hospiz vier Gasthäuser mit üppigen
Gärten, die Anfänge einer neuen Entwicklung.
Das Ostjordanland eignet sich nur örtlich beschränkt für
Baumzucht, Baumwollen- und Tabakbau, da nicht genügend
Wasser zu ausgedehnten Berieselungen vorhanden ist. Wohl
aber ist es in großer Ausdehnung, vor allem in En Nukra, dem
Hauran, aber auch noch in Moab, eines der reichsten Weizen-
länder der Welt. Hier würden die fruchtbarsten Gebiete, die
im Frühling unabsehbar wogenden Weizengefilden gleichen, im
Sommer von den Bewohnern verlassen werden müssen, wenn
nicht durch Aufspeicherung der Winterregen in Zisternen und
Sammelteichen, durch Wasserleitungen wirklich seßhafte Bewoh-
nung durch gesittete INIenschen ermöglicht wird. Das war in
reichem Maße in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ge-
schehen. Durch künstliche Berieselung war damals jedenfalls
auch die unheilvolle Wirkung der bei ungenügenden Winterregen
eintretenden Mißernten beschränkt.
Wie das schon heute erkennbare Wiederaufblühen dieser
Landschaften zu ermöglichen ist, das lehren uns die Römer,
diese ausgezeichneten Verwalter und Organisatoren, die hier das
Kulturland allenthalben so weit gegen die Wüste vorgeschoben
hatten, wie es nur irgend möglich war. Der Gegensatz zwischen
Kulturland und Wüste war damals hier ein weit grellerer wie
heute. Fünf römische Legionen deckten die inneren Grenzen
von Syrien, römische Kastelle umsäumten das Kulturland, römische
— 153 —
Straßen verbanden diese Grenzlandschaften mit dem inneren
Kulturlande und dem Meere. Aber noch mehr, die Römer ver-
folgten die Nomaden, die Hunger und Durst immer wieder zu
Angriffen auf das Kulturland zwang, in die Wüste selbst bis in
ihre anscheinend unangreifbaren Schlupfwinkel. Den nächsten
hier in Frage kommenden bildet ein heute als Buchbe bezeich-
netes, auf fruchtbarsten vulkanischen Zersetzungsstoffen im Winter
reiche Weizenemten hervorbringendes Becken mitten in der un-
gangbaren Lavawüste der Harra östlich vom Hauran. Hier
wohnt jetzt der Araberstamm der Riath, der aber im Sommer,
wo alles Wasser verschwindet und nur die einzige in der ganzen
Harra vorhandene Quelle von Nemara solches in ungenügender
Menge bietet, mit seinen Herden, nachdem die Getreidevorräte
verborgen oder im sicheren Schutze eines Heiligen untergebracht
sind, davonziehen muß. Unter unsäglicher Mühe wurde eine
Straße durch die Steinwüste gebaut. Kastelle schützten die
Quelle von Nemara und die Buchbe, ja selbst Ansiedler drängten
nach und sicherten die Seßhaftigkeit durch Aufspeicherung der
Winterregen. Mit dem Niedergange des oströmischen Reiches
erlagen die schützenden Bollwerke dem gewaltigen Vorstoße der
durch eine neue Idee begeisterten und zusammengeballten Söhne
der Wüste im Jahre 635 n, Chr. Arabische Nomaden schlugen
nun im Kulturlande ihre Zelte auf. So wurden die steinernen
Städte fast unversehrt bis auf unsere Tage erhalten.
Heute hält die Türkei wieder Besatzungen im Hauran, neue
Einwanderer, Tscherkessen, selbst jüdische Ackerbauer nehmen
Besitz von den toten Städten, die Eisenbahn, die die Weizen-
emten an Stelle der teuren Kamelfrachten billig ans Meer liefert,
macht die angebauten Flächen von Jahr zu Jahr wachsen. So
scheint trotz des allgemeinen Niederganges des türkischen Reiches
doch Palästina dadurch, daß hier im Heiligen Lande europäische
Einflüsse sich unwiderstehlich geltend machen, wieder aufzublühen,
und man kann es schon heute aussprechen: Palästina hat nicht
nur eine große, geschichtsreiche Vergangenheit, nein! es hat auch
eine hoffnungsreiche Zukunft!
III. Italien.
I. Italien. Eine länderkundliche Skizze.^)
Unter den Reisezielen der Deutschen steht seit langem schon
Italien mit obenan, und die Zahl derjenigen Deutschen, welche
wenigstens einen Teil dieses Landes aus eigener Anschauung
kennen j ist sehr beträchtlich. Dennoch fehlt es auch bei uns
noch vielfach an einer besseren Kenntnis das Landes und an
richtigem Verständnis des uns fremdartigen Volkstums. In der
sehr reichen Reiseliteratur begegnet man immer wieder schiefen
oder ungerechten Urteilen, wie sie flüchtig Reisende, der Landes-
natur und Landessprache wenig Kundige nur zu leicht fällen.
Werke wie Viktor Hehns „Italien; Ansichten und Streiflichter"
oder Gregorovius' „Wanderjahre , in Italien" bilden Ausnahmen.
Zu dieser Erscheinung trägt allerdings die auch heute noch un-
vollkommene wissenschaftliche Erforschung des Landes bei. Die
Grundlagen jeder Landeskunde, eine gute topographische Karte
und die geologische Durchforschung, konnten erst nach Schaifung
der politischen Einheit in Angriff genommen werden und harren,
namentlich letztere, auch heute noch der Vollendung. Aber sehr
viel und sehr Tüchtiges ist in der kurzen Spanne Zeit trotz der
Knappheit der Mittel geleistet worden und noch mehr wird in
der nächsten Zukunft geleistet werden, denn ähnlich wie der
deutsche Geographentag hat gleich der erste italienische Geo-
graphentag, welcher bei Gelegenheit der Kolumbusfeier in Genua
1892 versammelt war, die sofortige Inangriffnahme landeskund-
l) Erschienen 1893 ^Is Heft 171 der von R. Virchow und W. Watten-
bach herausgegebenen Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher
Vorträge.
— 155 —
lieber Forschungen beschlossen. Indessen sind schon so wertvolle
Bausteine aufgehäuft, daß ich es wagen darf, gestützt auf zahl-
reiche Reisen und lange Aufenthalte in. Italien, eine Skizze dieses
Landes zu entwerfen.^)
Die Lage und Weltstellung Italiens ist eine sehr günstige,
schon als die mittlere der drei südeuropäischen Halbinseln er-
scheint sie den beiden anderen gegenüber bevorzugt. ^Mitten im
Mittelmeere gelegen, das Nordwestbecken desselben vom Südost-
becken trennend, beherrscht es zugleich die eine der Verbin-
dungslinien beider und nimmt teil an der Beherrschung der großen
Welthandelsstraße, welche der großen Achse des Mittelmeeres
folgt. Eine lange schmale Landbrücke vom Rumpfe Europas
hinüber zur Festlandsmasse von Afrika erscheint Italien als das
Herzland des ganzen MittelmeergebieLes und zur Beherrschung
desselben bestimmt. Italien schaut nach Westen, ist aber im-
stande, von den vortreffhchen Häfen von Venedig, Brindisi, Ta-
rent und Syrakus, welche mit dem nahen Gegengestade die Un-
gunst der adriatischen Küste auszugleichen streben, auch zum
Osten in Beziehungen zu treten. Mit einer Landgrenze von nur
1900 km Länge verbindet Italien eine Küstenlänge von 6785 km
und ist so ein durchaus maritimes Land, denn selbst seine meer-
fernsten Großstädte Turin und ^^Jailand haben nur eine Meer-
ferne von 105 bzw. 120 km, d, h. gleich Hamburg, und 80 ^/^
der Landfläche hat weniger als 100 km ^Meerferne, die also in
zwei Stunden zu überwinden wären.
Die Küstengliederung Italiens ist namentlich im Westen eine
reiche; küstennahe Inselgruppen, wie die toskanischen und kam-
panischen, erhöhen den Wert derselben; die großen, nach der
Gesamtheit ihrer Verhältnisse italienischen Inseln Sizilien, Sar-
dinien und Korsika, teils küstennah, teils in Sehweite gelegen,
bilden als Inselitalien eine wesentliche Ergänzung des eigentlichen
Halbinsellandes, beide zusammen eine solche des mehr fest-
i) Der Verf. hat seitdem eine umfassendere Darstellung von Italien in
Bd. 3 der von A. Kirchhoff herausgegebenen Landeskunde von Europa,
Leipzig 1893, und eine neue, wesentlich erweiterte und vertiefte in italieni-
scher Sprache La Penisola Italiana, Torino 1902, erscheinen lassen. Auch ist
diese Skizze in italienischer Übersetzung von R. Lovera mit einem Vorworte
von General G. Riva Palazzi 1895 unter dem Titel Schizzo descrittivo
d' Italia in Salö erschienen.
— 156 —
ländischen Charakter tragenden Polandes. Der Reichtum Italiens
an natürlichen Häfen ist ein verhältnismäßig großer; wo dieselben
den Anforderungen der Neuzeit nicht mehr genügten, wie in
Genua, Neapel, Palermo, konnten sie durch Kunst verbessert
werden; wo sie ganz fehlten, waren sie unschwer zu schaffen,
wie bei Livorno, oder man vermißte sie weniger als in irgend
einem der Mittelmeerländer, weil Italien wohl im wesentlichen
dank seiner Oberflächengestalt, weit seltener von Stürmen heim-
gesucht ist als Griechenland, Südfrankreich, Spanien oder gar
Algerien. Ein sehr großer Teil auch des inneren Verkehrs voll-
zieht sich so stets zur See, und selbst mit den Nachbargebieten
verkehren Küstenfahrer, da die Meerenge von Otranto nur 72.8,
die von Pantellaria nur 150 km breit ist, so daß man bei hellem
Wetter von Sizilien aus wohl das hohe Kap Bon drüben in
Tunesien erblicken kann. Zu allen Zeiten, von den Tyrrhenern
an, hat daher Italien tüchtige Seeleute hervorgebracht, und mit
richtigem Blick haben die Staatsmänner des neuen Italien er-
kannt, daß die Gegenwart und Zukunft des Landes in der Be-
herrschung des Meeres liegt. Italien hat sich daher eine Kriegs-
flotte geschaff"en, welche an Größe der Schlachtschiffe wohl einzig
dasteht.
Es erscheint so dieses Land wie zum Ausgangs- und Brenn-
punkte des Seeverkehrs im ganzen Mittelmeere geschaffen, wie
es nahezu zwei Jahrtausende in der engeren Welt des Altertums
und Mittelalters der Hauptsitz des Verkehrs gewesen ist. Und
gleiche Bedeutung vermöchte es wohl wieder zu erlangen, wenn
sich seine Gegengestade im Osten und im Süden einmal wieder
beleben werden. Der Straße von Gibraltar und dem Suezkanal
gleich nahe , vermag es auch am Weltverkehr der Neuzeit mit
Erfolg teilzunehmen. Aber noch mehr, auch von wichtigen fest-
ländischen Straßen wird Italien gekreuzt; in meridionaler Rich-
tung von denen, die in Genua, Venedig, Neapel und Brindisi
endigen, in äquatorialer von denen, welche über Mailand und
Turin gehen. Mailand ist der eigentliche Kreuzungspunkt dieser
Straßen, der Mittelpunkt aller Alpenstraßen, die dort vom Sim-
pelnpasse im Westen bis zum Stilfser Joch im Osten radienförmig
zusammenlaufen. Infolgedessen ist es heute auch einer der wichtig-
sten Sitze des festländischen Handels von Europa. Und nicht, wie
Spanien, nur zu einem ^'olke und Lande, zu einem Staate, nein,
— 157 —
zu deren einer ganzen Reihe, zu Frankreich, der Schweiz, dem
Deutschen Reiche, Österreich und Ungarn, unterhält Italien un-
mittelbare Beziehungen zu Lande. Vielseitigkeit der Be-
ziehungen zur See wie zu Lande ist demnach der hervor-
stechendste Charakterzug Italiens. Und wenn die Handelssprache
fast aller Völker Europas noch heute die Spuren der beherrschen-
den Stellung erkennen läßt, welche Italien bis ins i6. Jahrhundert
im Welthandel hatte, so sind die Bedingungen, daß dies Land
in Zukunft wieder einmal diese Stellung zurückerobert, zwar nicht
mehr gleich günstig, aber immerhin keine durchaus ungünstigen.
Entwicklungsgeschichte.
Der Satz, daß man einen Gegenstand erst völlig kennt,
wenn man weiß, wie er entstanden ist, findet vor allem in der
wissenschaftlichen Geographie Anwendung. Wenn wir daher,
nachdem wir uns in großen Zügen mit dem zu betrachtenden
Lande vertraut gemacht haben, in die Geschichte desselben ein-
zudringen suchen, so möchte ich zunächst die Tatsache feststellen,
daß Italien, wie es politisch ein Neubau ist, auch erdgeschicht-
lich ein sehr junges Land, in seiner Gesamtheit wohl das jüngste
Europas ist. Man kann gewissermaßen sein Alter noch aus
seinen Zügen herauslesen. Wohl nirgends vollziehen sich die
Veränderungen des wagrechten Umrisses und des senkrechten
Aufrisses so rasch wie hier. Nirgends kann man wie hier so-
zusagen mit Augen sehen und mit Händen greifen, wie an der
einen Stelle ein Berg aufgetürmt, an einer anderen ein Gebirge
abgetragen und eingeebnet wird. In Italien sind in der Tat,
um uns einer Wendung unseres unvergeßlichen Meisters Oskar
Peschel zu bedienen, unsere besten Karten Bilder von vergäng-
licher Wahrheit. Von jeher hat daher Italien die besondere
Aufmerksamkeit der Geologen wachgerufen^ von denen wohl jeder
einmal den Drang gefühlt hat, in diesem Lande sein Wissen zu
bereichem. Unsere namhaftesten Geologen gehören daher auch
zu den verdientesten wissenschafthchen Erforschem Italiens. Und
ähnhch in England und Frankreich.
Nur geringe Trümmer eines älteren Stückes der aufgetauchten
festen Erdkruste sind in den Neubau ItaUen verarbeitet, und die
Inschriften dieser alten Werkstücke sind so verwischt, daß wir
nur mühsam zu entziffern vermögen, wie der alte Bau ausgesehen
- 158 -
haben mag, dessen Reststücke sie sind. Derselbe dehnte sich
von Korsika-Sardinien, vielleicht vom äußersten Südwestende un-
serer heutigen Alpen bis nach Kalabrien und Sizilien, nach Osten
bis aufs Festland des heutigen Toskana aus. Längst bis auf
jene stehengebliebenen Trümmer, auf deren Zusammengehörigkeit
geologische und biologische Gründe zu schließen zwingen, in den
tiefen Einbruchskessel des tyrrhenischen Meeres versenkt, be-
zeichnen wir dieses demnach etwas westlicher gelegene Uritalien
mit dem Namen Tyrrhenis. Nur im Bereich der alten Tyrrhenis
kommen in Italien, von den Alpen abgesehen, überhaupt alte
Gesteine vor, Gneise, kristallinische Schiefer, alte Granite, in
noch geringerer Ausdehnung ihnen mantelförmig angelagert auch
paläozoische Schichtgesteine. Auf sie fast allein ist, wenn wir
von der Schwefelgewinnung Siziliens absehen, in Italien Bergbau
beschränkt. Mit dem fast völligen Fehlen der Steinkohlenfonnation
hängt der völlige Mangel an Steinkohlen zusammen, welcher die
neuzeitlich großgewerbliche Entwicklung Italiens, die sich jetzt
mehr und mehr auf Wasserkräfte und elektrische Kraftübertragung
stützt, so außerordentlich erschwert hat. Gegen Ende des meso-
zoischen Zeitalters begann der Niederbruch und die Zertrümme-
rung der alten Tyrrhenis und entstand in einer langen wechsel-
vollen Bauperiode, wo zeitweilig der Bau unterbrochen, ja wieder
niedergerissen wurde, der Neubau Italien, der, seiner Gesamt-
anlage nach erst mit dem Ende der Tertiärzeit vollendet, noch
in der Quartärzeit wesentlich Zu- und Umbauten erfahren hat.
In der zweiten Hälfte der Tertiärzeit wurde am energischten
durch seitlichen, von Südwesten von der Tyrrhenis her kommen-
den Druck das Appenninengebirge zusammengefaltet, zum Teil
aber auch bald wieder durch auf peripherischen Bruchspalten
erfolgende Vertikalverschiebungen zertrümmert, so daß nur noch,
ähnlich wie beim größeren Teil der Karpathen, der äußere ge-
schichtete Mantel erhalten ist. Kesseiförmig griffen diese Ein-
brüche an der Westseite ein, und auf ihnen entwickelte sich
gegen das Ende der Tertiärzeit jene großartige, noch heute nicht
erloschene vulkanische Tätigkeit, die von dem Inselchen Capraja
im Norden, am Eingang in das ligurische Meer, bis zum Etna
ganze Reihen und Gruppen vulkanischer Kegel aufgetürmt hat.
Ganze Meerbusen, wie in Latium und in Kampanien, wurden
von den vulkanischen Auswurfstoffen ausgefüllt, ganze Gebirge,
— 159 —
wie das Albaner, und so gewaltige Kegel, wie der Etna, auf-
getürmt. Besteht doch in der Umgebung von Rom ein Gebiet
von 6000 qkm, gleich mehr als einem Drittel des Königreiches
Sachsen, nur aus vulkanischen Ablagerungen. Und noch sind die
Grundlagen des Neubaues nicht in sich verfestigt, noch unter-
liegen die Schollen der festen Erdkruste auf den sie zerstücken-
den Spalten Bewegungen, welche Italien zu einem der erdbeben-
reichsten Länder der Erde machen. Gibt es hier doch Gegenden,
in welchen im Durchschnitt einmal im Jahrhundert alle Siedelungen
von Grund aus, dazwischen noch oftmals teilweise zerstört werden.
Vulkanische Ausbrüche vernichten so periodisch Leben und Eigen-
tum örtlich, Erdbeben in großer Ausdehnung, beide hemmen den
Unternehmungsgeist, verlangsamen die Volksvermehrung und die
Anhäufung von Wohlstand, sie gehören so zu den Landplagen
Italiens, haben aber auch Italien zur hohen Schule für das Stu-
dium dieser beiden so furchtbaren Naturerscheinungen gemacht.
Zu beiden in engen Beziehungen steht auch der Reichtum Italiens
an Thermen und Mineralquellen, Schätze, die man noch kaum
auszubeuten begonnen hat.
Die faltenden Bewegungen, welche dem Appenninengebirge
den Ursprung gaben, scheinen nach Süden an Intensität ab-
genommen zu haben, während die Bildung von Bruchlinien und
darauf erfolgende Vertikalbewegungen dort unter den gebirgs-
bildenden Vorgängen mehr in den Vordergrund treten. Jeden-
falls scheint schon im Abruzzenappennin nur mehr leichte Fälte-
lung vorzuliegen, welche Hochflächen schuf, ähnlich der des
Limhochlandes drüben im illyrischen Faltensystem der südost-
europäischen Halbinsel. Wir denken hier namentlich an die
bedeutendste Massenanschwellung der ganzen Halbinsel, die den
eigentlichen Abruzzen in SSW vorgelagert ist und die wir
Abruzzenhochland nennen möchten. Brüche und Vertikalbewegungen
treten hier neben der Faltung bereits bedeutungsvoll hervor, sie
gaben der Kalkmasse der Abruzzen die bedeutende Höhe von
noch heute 3000 m und scheinen im neapolitanischen Appennin
geradezu zu übenviegen. Eine Hebung des ganzen Appenninen-
gebirges zu Anfang der Quartärzeit, welche bis heute ungefaltet
gebliebene, erst zu Ende der Tertiärzeit auf dem Meeresgrunde
gebildete Schichten auf dem Festlande wie in Sizilien zu so be-
deutenden Höhen erhob, daß sie noch heute 1000 ra und mehr
— i6o —
erreichen, trotz seitdem erfolgter Abtragung, hat hier im Süden
erst wieder ein orographisch einheitliches Gebirge geschaffen,
indem dadurch erst wieder die Trümmer der alten Tyrrhenis
und die Schollen und Klötze jurassischer und kretazeischer
Appenninengesteine miteinander verbunden wurden. Erst jetzt
verwuchsen der Monte Gargano und die apulische Kreidetafel
durch Schließung pliozäner Meerengen wieder mit dem Apen-
ninenlande und kam so durch Anschweißung von Sporn und Ab-
satz die bekannte Stiefelgestalt zur Ausbildung. Diese Hebung
schuf zwar auch die kalabrische Meerenge zu einer niederen
Landenge um, die auf einer tiefgreifenden Bruchspalte liegende
Meerenge von Messina vermochte sie aber nur schmäler und
seichter zu machen. Sizilien blieb dauernd vom Festlande ge-
trennt und verlor auch in der Diluvialzeit seine Verbindung mit
Tunesien, indem sich auch dort schon seit der Tertiärzeit ein
Bruchgürtel auszubilden begonnen hatte, der am Nordrande Klein-
afrikas nach O und SO verläuft, und auf welchem sich ebenfalls
noch heute nicht erloschene vulkanische Tätigkeit zu regen be-
gann. Die durch Bruchlinien und Grabenversenkungen zerstückte
Maltagruppe und Lampedusa, flache tertiäre Tafeln, sind Reste
des hier zertrümmerten Festlandes, für dessen bis in die geo-
logische Gegenwart fortgesetztes Untertauchen die sorgsamen
hydrographischen Forschungen der Franzosen in der kleinen Syrte
so wunderbare Belege geliefert haben.
Dagegen begann im Norden gegen Ende der Tertiärzeit
durch Hebung und Zuschüttung die Verlandung des großen
Senkungsfeldes an der Innenseite der Alpen, das im Laufe der
Quartärzeit zur großen, noch immer auf Kosten der Adria wachsen-
den Poebene ausgestaltet wurde. Ebenso sind an der Westseite
der Halbinsel erst seit der Quartär-, ja zum Teil in geschicht-
licher Zeit der Meerbusen, in welchen der Arno mündete, und
einige kleinere verlandet. Italien ist so, bis auf jene wenig aus-
gedehnten Trümmer der Tyrrhenis, ein junges Land, die Appen-
ninen von allen größeren Gebirgen Europas das jüngste, denn
erst in quartärer Zeit ist ihr Bau vollendet worden. Gesteine
jugendlichen Alters bilden also vorwiegend den Boden Italiens,
selbst von mesozoischen tritt nur die Kreide in etwas größerer
Ausdehnung auf, das Tertiär ist die Charakterformation Italiens,
nächstdem das Quartär. Mindestens zwei Drittel Italiens, von
— i6i —
Sizilien sogar vier Fünftel besteht aus Gesteinen, welche sich erst
im Laufe der Tertiärzeit auf dem Grunde des Meeres oder noch
später durch Anlagerung gebildet haben. Und unter diesen Ge-
steinen überwiegen tonige und mergelige, also leicht zerstörbare
Felsarten. So auffällig auch orographisch die kretazeischen und
jurassischen Kalkgesteine in den Appenninen hervortreten, so ist
es heute doch nicht mehr erlaubt, die letzteren danach ein Kalk-
gebirge zu nennen, wir müssen es vielmehr ein Tongebirge
nennen, denn was ihm seinen ganz eigenartigen Charakter auf-
prägt, das sind die vorherrschenden tonigen Felsarten. Die
wichtigsten Erscheinungen, welche man sich stets bei dem Begriff
Kalkgebirge zu vergegenwärtigen pflegt und die im illyrisch-
griechischen Faltensystem in seiner ganzen Ausdehnung so auf-
fällig zutage treten, treten in den Appenninen, eben der geringen
Verbreitung der Kalksteine wegen, nur in untergeordnetem Maße
auf. Selbst in den älteren Formationen, im Archäischen und
Paläozoischen Siziliens und Kalabriens, herrschen leicht zerstör-
bare Gneise und Schiefer vor.
Auf der weiten Verbreitung leicht zerstörbarer Felsarten im
Bunde mit den klimatischen Verhältnissen und der weit fort-
geschrittenen Entwaldung des alten Kulturlandes beruhen die er-
staunlich rasch vor sich gehenden Veränderungen der Oberflächen-
gestalt und der Küstenlinien ganzer Landschaften. Ganze Gebirge,
wie das peloritanische Gneisgebirge bei Messina, sind in sicht-
barer Abtragung begriff'en, immer tiefer greifen die Täler und
Regenschluchten in das Gebirge ein, immer größere Geröllmassen
schieben sich in den für gewöhnlich fast trocken liegenden Fiu-
maren ins Meer. In dem Mergellande von Toskana werden
durch erhalten gebliebenen Baumwuchs verfestigte Stellen in wenigen
Jahren zu inselartigen Hügeln herauspräpariert, alle lO — 20 Jahre
muß man die Grenzsteine neu setzen, da sich die ganze Ober-
fläche unter den Winterregen in eine gleitende Breimasse ver-
wandelt und die Flüsse zu Schlammströmen werden, welche
Meerbusen füllen und die Küste vorrücken. Neuerdings ver-
wertet man in Italien vielfach diese Schlammströme, welche dem
Lande große Mengen kostbarer Düngstoff"e entführen — hat man
doch in Frankreich den Wert der alljährlich dem Lande in den
Sedimenten der Flüsse entzogenen Feststoffe auf 30 Mill. Eres,
geschätzt — , zu künstlicher Auffüllung von Fieberdünste aus-
Fischer, Mittelmeerbilder. II
— 102 —
sendenden Sümpfen und bekämpft damit die Malaria am wirkungs-
vollsten. Das berüchtigte Chianatal zwischen Florenz und Rom
ist dadurch fieberfrei geworden, daß man durch solche künstliche
Ablagerung eine Fläche von 200 qkm um 2 — 5 m erhöht und
damit den Gewässern Gefäll verschafft hat.
Bergschlipfe, welche nicht selten große Flächen angebauter
Felder, ganze Ortschaften und Menschenleben vernichten, sind in
diesen tonigen Gebieten Italiens außerordentlich häufig, nament-
lich in dem Gürtel der sogenannten Scherben- oder Schuppen-
tone (argille scagliose) der Appenninen, deren Entstehungsweise
so umstritten ist. Im Juni 1881 geriet, um nur einen Fall unter
vielen hervorzuheben, ein Teil des zwischen zwei Flußtälern ge-
legenen, 5000 Einwohner zählenden Städtchens Castelfrentano
(bei Chieti) ins Gleiten und sank in Trümmer, der Rest war
schwer bedroht. Selbst die Lage der Siedelungen wird von diesen
Felsarten bedingt. Die Siedelungen schließen sich nicht, wie in
Mitteleuropa, den Flüssen und Tälern an, denn diese sind von
Gerollen und Schlammassen erfüllt, versumpft und fieberschwanger,
auch nicht den Talgehängen, denn diese sind beweglich; hoch
oben auf den meist von festen wagerechten Kalktafen gebildeten
Bergrücken, Adlernestern gleich, thronen fast im ganzen Appen-
ninenlande die Heimstätten der Menschen. Daß sich die Ma-
laria in solchen Tongebieten ganz besonders entwickeln kann,
liegt klar zutage. Auch den Verkehrswegen bieten sie besondere
Schwierigkeiten, besonders den Eisenbahnbauten. Diese sind in
denselben stets überaus kostspielig, da sie unablässig Ausbesse-
rungen, Verlegungen u. dgl. erfordern und dennoch der Verkehr
oft unterbrochen ist. In der winterlichen Regenzeit fließen die
Dämme auseinander, die Einschnitte zusammen, an den Hängen
kommen die Linien ins Gleiten. Nachdem man, namentlich in
Sizilien, wo nicht weniger als 40 ^/^ der Oberfläche aus diesen
gleitenden und nur So'^/q aus mäßig festen Bodenarten bestehen,
die schlimmsten Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht hat, hat
heute bei Feststellung der Linien in solchen Gebieten der Geo-
loge das entscheidende Wort zu sagen, man umgeht dieselben
soviel wie möglich. In solchen Gegenden kostet nicht selten ein
Kilometer 500 — 600000 Lire, und bei Tunnelbauten, oft die
letzte Zuflucht, der laufende Meter 4 — 5000 Lire! Auch die
weit verbreiteten Tongesteine, namentlich da sie häufig auch noch
— 103 —
salzig und unfruchtbar sind, gehören so zu den Landplagen des
Gartens der Hesperiden.
Bodenplastik.
Das so jugendliche Faltengebirge der Appenninen beherrscht
die Oberflächengestalt in solchem Maße, daß man oftmals geradezu
von der Appenninenhalbinsel spricht. In der Tat ist Italien
überwiegend Appenninenland. Doch sind die Höhen, da eben
nur der äußere geschichtete Mantel des Faltengebirges erhalten
Ist, überall nur mäßige. Die höchste Erhebung, der Gran Sasso
d' Italia, erreicht noch nicht voll 3000 m und steht somit dem
Kegel des Etna mit 3274 m noch beträchtlich nach, aber zahl-
reiche Gipfel, selbst bis nach Sizilien, erreichen oder übersteigen
2000 m. Die Paßhöhe ist überall gering, sie beträgt im ]\Iitte
der 1 7 von Fahrstraßen benutzten Pässe nur goo m. Die Eisen-
bahnen durchfahren die Kämme meist in noch geringerer Höhe
in Tunnels. Es bieten so die Appenninen, besonders wenn man
auch ihre geringe Breite und die südliche Lage in Betracht zieht,
dem Verkehr nur geringe Schwierigkeiten. Als Klima- und
Wetterscheide wird man ihre Bedeutung aber nicht leicht über-
schätzen. Der Charakter des Berg- und Hügellandes wird daher
in Italien überwiegen, nur 38,5 ^/q der Oberfläche ist als Ebene
anzusehen.
Die kennzeichnenden Züge des Faltenlandes sind im Appen-
ninenlande vielfach verwischt und überhaupt nur in der Nord-
hälfte schärfer ausgeprägt. Schon im Abruzzenappennin schaff't
leichte Fältelung weite Hochländer, wie das von uns so genannte
schon erwähnte Abruzzenhochland, westlich von den eigentlichen
Abruzzen, südwärts bis zum Sangro und Volturno, die größte
Massenanschwellung der Halbinsel. Parallelismus der Ketten
kennzeichnet nur den Nord- und zum großen Teil noch den
Mittelappennin. Dabei ist die Länge der einzelnen, meist den
Faltenzügen genau entsprechenden Ketten stets eine geringe,
immer nimmt eine innere südostwärts streichende an Höhe ab
und verschwindet schließlich unter dem tyrrhenischen Senkungs-
felde, das bei Florenz am tiefsten in das Gebirge eingreift. Die
Wasserscheide springt nach Osten auf die nächste Parallelkette
über, die dann dasselbe Schicksal erleidet. Die Gewässer folgen
den Faltentälem und brechen so schließlich, sich zu größeren
— 164 —
Rinnen vereinigend, zu dem breiten Vorlande, dem sich noch über
den Meeresspiegel erhebenden Rande des Senkungsfeldes, durch,
um das tyrrhenische Tief becken zu erreichen. Alle Flüsse haben
daher hier den gleichen Bau: ein langer, dem Gebirgsstreichen
folgender, und ein kurzer, dazu senkrechter Schenkel. Nur dieser
kulissenartige Bau der Appenninen bewirkt das südöstliche Streichen
des Gebirges zwischen Genua und Ancona.
Ganz anderen Bau besitzt der neapolitanische Appennin. Hier
fehlen parallele Ketten fast ganz; wir haben ein unregelmäßiges
Berg- und Hügelland von geringer Höhe vor uns, in welchem
die Wasserscheide sich bald mehr dem Adriatischen, bald mehr
dem Tyrrhenischen Meere nähert und über vielen, meist pliozänen
Hochflächen (von Ariano, Campobasso usw.), welche nur das
rinnende Wasser gegliedert hat, nur mächtige Jura- oder Kreide-
kalkschollen und -Klötze (der Matese z. B.), die lebhaft an die
ähnlichen, nur großartigeren Gebilde der Ostalpen, Dachstein,
Totes Gebirge usw., erinnern, sich mit prallen, weißlich schim-
mernden Wänden erheben. Nur das ungefaltete, gehobene Plio-
zän verbindet hier diese älteren Kalkschollen. Hier in dem
Berglande der alten Samniten handelt es sich nicht um eine
Übersteigung des Gebirges, um aus der kampanischen in die
apulische Ebene zu gelangen, sondern mehr um eine Durch-
querung; nur die engen Eingänge in das Gebirgsland, wie die
Furculae caudinae und das Cervarotal, bieten Schwierigkeiten.
Wiederum verschieden ist der Bau des kalabrischen Appennin.
Er besteht lediglich aus zwei großen Trümmerstücken der alten
Tyrrhenis, den Gneismassivs der Sila und des Aspromonte, die
lediglich von gehobenen und. erodierten Pliozänschichten umhüllt
und miteinander verbunden sind. Der kalabrische Appennin bietet
daher in seinen Oberflächenformen auffallende Gegensätze zum
neapolitanischen, die man in dem Bruchgürtel des Cratitales,
etwa auf der geröllüberschütteten Stätte des alten Sybaris stehend,
mit einem Blick überschauen kann. Gen Norden steigt der
Monte PoUino (2271 m) mit kahlen Steilgehängen zu seinen
kühnen, bald weißlich schimmernden, bald intensiv gefärbten
Kalkzinnen von doppelter Brockenhöhe empor, gefurcht von
engen, kanonartigen Schluchten, in welchen geröllarme, aber aus-
dauernde, weil von starken Capi d' Acqua des Kalkgebirges ge-
nährte Flüsse zum Crati eilen. Im Süden dagegen erhebt sich
- i65 -
die unserem Harz ähnliche Gneismasse der Sila, die mit sanfter,
von üppiger, aber keineswegs südlichen Charakter tragender Vege-
tation bedeckter Böschung zu gerundeten Hochgipfeln von nicht
ganz doppelter Brockenhöhe ansteigt. Wasserarme, aber geröll-
reiche Flüsse durchirren die breiten, flachen Täler.
Der sizilische Appennin verbindet mit wesentlich appenninischen
Zügen, dem tyrrhenischen Steilabbruche und der sanften, Afrika
zugekehrten Abdachung, auch eigenartige. Namentlich treten auch
hier mesozoische Stöcke, bis zur Trias, und jungeruptive Durch-
brüche in beträchtlicher Zahl auf.
Wenn wir so das Appenninengebirge auch als ein einheit-
liches auffassen, so bildet dasselbe doch mehr das Rückgrat der
Halbinsel, es füllt dieselbe nicht ganz aus. Zu beiden Seiten
lagern sich auf weite Strecken noch Landschaften an, welche
nur in loseren Beziehungen zu den Appenninen stehen und in
Italien meist als subappenninische bezeichnet werden. Sie sind
dem Appenninenlande erst zu Ende der Tertiärzeit und noch
später angegliedert, bzw. angelagert worden. Wir sprechen so
von einem tyrrhenischen und einem adriatischen Appenninen-
vorlande. Letzteres umfaßt die auf weite Strecken von Terra
rossa, hier Bolo genannt, bedeckte und daher sehr fruchtbare
apulische Kreidetafel und die mit ihr durch die apulische Ebene
verbundene Scholle des Gargano. Beide sind nach ihrem inneren
Baue und ihren genetischen Verhältnissen nicht voneinander zu
trennen, dürften aber auch in immer engere Beziehungen zu den
Kalkschollen des letzteren gesetzt werden. Die Gründe, nach
welchen man den Gargano für ein dem Appenninenland an-
gegliedertes Stück des illyrisch-griechischen Faltensystems hat
erklären wollen, erscheinen uns schon heute nicht mehr stich-
haltig. Das tyrrhenische Gegenstück der apuhschen Kreidetafel
sind die lepinischen und cepreischen Berge, nur daß hier, der
t)-rrhenischen Abbruchseite entsprechend, Störungen mehr hervor-
treten. Die kampanische und die latinische Ebene sind aus-
gefüllte Einbruchskessel, während das Hochland von Toskana
und vielleicht auch die apuanischen Alpen im wesentlichen als
Teile der alten Tyrrhenis aufzufassen sind. Die große Aus-
dehnung, welche das tyrrhenische Appenninenvorland vom Horst
von Sorrent bis zum Golf von Spezia durch Ausfüllung der Ein-
bruchskessel, durch Bildung jungeruptiver Berge und Berggruppen
— i66 —
und durch Angliederung von Trümmern der Tyrrhenis erlangt
hat, hat hier weite, offene, dichter Besiedelung zugängliche Land-
schaften und namentlich größere hydrographische Becken ge-
schaffen, wie das des Tiber, des Arno, Garigliano u. a., welche
teils dem appenninischen Faltenlande, teils dem Vorlande angehören,
in diesem aber erst ihre volle Entwicklung und Bedeutung er-
langen. Hier liegen daher die größten und geschichtlich wichtig-
sten Siedelungen der Halbinsel, Neapel, Capua, Rom, Florenz,
Siena, Pisa, Livorno u. a. nahe beieinander.
Die Trümmer der Tyrrhenis bilden überwiegend Inselitalien,
das Appenninenland entspricht Halbinselitalien. Zu diesem, wenn
auch berg- und hügelerfüllten, doch vorzugsweise maritimen
Italien steht in vielfachem Gegensatze die Poebene, Festlands-
italien. Dieselbe läßt sich einem zwischen Alpen und Appenninen
eingesenkten, namentlich an der Westseite von den Alpen noch
umwallten, sich nach Osten sanft neigenden und verbreiternden
Troge vergleichen. Doch weist auch die Sohle des Troges nur
selten jene Einförmigkeit auf, welche sonst Ebenen zu kenn-
zeichnen pflegt. Zunächst erheben sich kleine vulkanische Hügel-
gruppen, wie die Euganeen, oder abgeschnittene äußerste Rand-
stücke der Appenninen, wie der Hügel von St. Colombano, mitten
aus dem Schwemmlande, ja das ganze ausgedehnte Hügelland
von Monferrat, auch ein Teil der Appenninen, ist als ein durch
das breite Tanarotal abgegliederter Einschluß der Ebene auf-
zufassen. Aber auch sonst läßt der Baumreichtum und die ganze
Art der Bodenverwertung nirgends den Eindruck des Einförmigen
aufkommen, und fast überall bieten die hohen, zackigen, weiß
leuchtenden Kämme und Hochgipfel der Alpen, im Westen zu-
gleich auch die Rücken der Appenninen dem Auge willkommene
Rastpunkte. Ein großes Senkungsfeld, in welchem die Gletscher
der Eiszeit und die Flüsse der Alpen und Appenninen, nament-
lich in diluvialer Zeit, ungeheure Geröllmassen abgelagert haben,
deren Mächtigkeit im Innern noch nirgends durch Bohrungen hat
festgestellt werden können, zerfällt die Poebene nach den Ober-
flächenformen, welche diese Ablagerungen hervorrufen, den Boden-
arten und der Art der Bebauung in mehrere parallele Gürtel.
Ein Gürtel hügeliger, an kleinen Seen, Mooren und auch wirt-
schaftlich ins Gewicht fallenden Torfstichen reicher Moränen-
ablagerungen bildet den Übergang vom Alpenland zur Ebene.
- i67 -
An ihn schließt sich der Gürtel der groben diluvialen Flußgerölle
und des umgelagerten Moränenschuttes an, unter welchem all-
mählich die feinen, vorwiegend tonigen, undurchlässigen Schwemm-
gebilde der inneren Ebene hervortreten, auf ihnen die in den
Gürteln der gröberen Ablagerungen in die Tiefe gesunkenen
Meteorwasser. So bildet sich hier ein besonders wasserreicher
Gürtel, der sogenannte Gürtel der FontaniU, in welchem teils von
selbst, teils künstlich gesammelt große Wassermengen, Quellen und
Flüssen Ursprung gebend oder die Flüsse zum Teil bis zur Schiff-
barkeit verstärkend zutage treten und, zu künstlicher Berieselung
verwertet, den Ertrag des Bodens außerordentlich steigern. Hier
liegen die Reisfelder und jene üppigen, bis achtmal im Jahr zu
mähenden Rieselwiesen, auf welchen die bedeutende Viehzucht
der Lombardei beruht, die so große Mengen Butter und Käse in
den Handel liefert. Bei der Fruchtbarkeit des Bodens drängte
sich wohl sehr früh das Bedürfnis auf, die meist den Charakter
von Wildwasser tragenden Flüsse zu bändigen oder durch künst-
liche, die dann wirklich dem Verkehr, zugleich aber auch der
Bewässerung des Landes dienten, zu ersetzen. Diese Wildwasser,
die noch heute mit ihren breiten, geröllreichen, veränderlichen
Betten wichtige strategische Linien bilden, scheuchen den Men-
schen von ihren Ufern, während die künstlichen Wasseradern ihn
anziehen. So ist Mailand heute, ähnlich Berlin, der Mittelpunkt
eines bewundernswerten Kanalnetzes. Ein großer Teil der in
Berieselungen über die Ebene ausgebreiteten Wassermassen geht
am unteren Ende der Ebene unterirdisch dem Po wieder zu,
der so auf der 80 km langen Strecke von Valenza-Olonetta bei
niedrigstem Wasserstande ca. 300 cbm Wasser in der Sekunde
von unterirdischen Zuflüssen erhält, d. h. fast so viel, wie der
Tessin bei seinem Austritt aus dem Langensee führt.
Klima und Pflanzenwelt. Bevölkerung.
Zu den am meisten anziehenden Eigenschaften und zu den
Schätzen Italiens gehört sein orographisch auffällig bedingtes
Klima. Doch sind gerade über dieses unter den Nordländern
sehr irrige Vorstellungen verbreitet, die bei praktischer Erprobung
zu bitteren Enttäuschungen und falschen Urteilen über das Land
führen. Italien ist durch seine Lage sozusagen im Mittelmeer,
durch den Schutz, welchen Alpen- und Appenninenwall, einem
— i68 —
großen Teile des Landes sonnige Südlage verleihend, bieten,
auch durch die Einflüsse, welche das heiße Afrika ausübt,
klimatisch in hohem Grade bevorzugt und besitzt, örtlich durch
die Oberflächengestalt hervorgerufen, wahre klimatische Oasen.
Die Umgebung der oberitalischen Seen und das ligurische Küsten-
land sind nur die bekanntesten und größten. Das Ausmaß der
Wärme ist überall ein bedeutendes, die Menge der Niederschläge
überall für das Pflanzenleben ausreichend und wenigstens in der
Nordhälfte des Landes fast gleichmäßig über die Jahreszeiten
verteilt. Freilich, der große Trog der Poebene, der nur im Osten,
aber auch nur in geringem Maße dem Meere zugänglich ist, trägt
auch in klimatischer Hinsicht festländischen Charakter. Im Som-
mer steigt dort die Wärme in dem Maße, daß sie derjenigen
Siziliens gleichkommt und lange genug andauert, daß selbst ein-
jährige Erzeugnisse der Tropen, wie der Reis, hier gezogen werden
können; im Winter dagegen, wo das Mittelmeer, das ja auch in
seinen Tiefen niemals weniger als 12 — 13° C hat, im übrigen Italien
wärmeerhaltend wirkt, hier aber nicht einwirken kann, sammeln sich
hier auf der Sohle des Troges die kühlen, schweren Luftmassen,
die nur langsam zur Adria abfließen können, und namentlich bei
Schneebedeckung bilden sich gar nicht selten sehr niedere Tem-
peraturen durch Wärmestrahlung aus, zumal der Winter hier auch
die niederschlagsärmste, heiterste Jahreszeit ist. Es kommen hier
Perioden bis zu 30 Tagen vor, in welchen das Thermometer
unter Null bleibt, und in Mailand bietet sich oft genug Gelegen-
heit zum Schlittschuhlaufen. Nur hat die kalte Jahreszeit im all-
gemeinen kürzere Dauer. Infolge seiner kalten Winter, die nur
an den Seen wesentlich gemildert sind, besitzt die Poebene nur
wenige Vertreter der mittelländischen Pflanzenwelt, selbst der
Ölbaum ist ihr fremd; sie kann höchstens als eine Vorhalle des
Südens angesehen werden. Aber auch in dem natürlichen Treib-
hause an der ligurischen Küste, so groß und unvermittelt auch
der Gegensatz gegen die Poebene ist, kommen Fröste und
Schneefälle oft in recht empfindlicher Weise vor, so mild im all-
gemeinen die Winter auch sind. Man findet dort in der Mitte
des Winters diejenige Wärme, die zu dem Gefühl des Behagens,
vollends beim Sitzen im Freien, gehört, keineswegs, namentlich
ist die Temperatur bei der reichlichen Besonnung — meist ist
im Winter jeder dritte Tag ein ganz heiterer — sehr veränder-
— lög —
lieh, die Gegensätze zwischen Sonne und Schatten, zwischen
windstillen und windigen Punkten, zwischen Tag und Nacht sehr
groß. Es bietet sich da allenthalben Gelegenheit zur Erhitzung
und Abkühlung in der im allgemeinen ziemUch trockenen Luft,
und nachgerade bricht sich die Überzeugung Bahn, daß wenig-
stens für Lungenleidende dies Klima nicht vorteilhaft ist. Und
ähnlich ist es in ganz Mittelitalien, namentlich an der Ostseite.
Erst in Kampanien beginnt wirklich der Süden, und in Sizilien
erst findet man eine Wärme des kühlsten Monats, die unserem
]Mai entspricht. Auch der Umstand, daß dort gerade der Winter
die eigentliche Regenzeit ist, während der Sommer völlig regenlos
bleibt, vermag die Annehmlichkeiten des sizilischen Winterklimas
nicht zu vermindern, denn die Gleichmäßigkeit der Wärme wird
dadurch noch erhöht, und da die Regen fast nur in einzelnen
heftigen Güssen erfolgen, so konnte schon Cicero mit geringer
Übertreibung sagen, daß in Sizilien nie so schlechtes Wetter
herrsche, daß man nicht jeden Tag die Sonne sehe. Freilich,
der Nordländer, der durch überheizte Zimmer verwöhnt zu sein
pflegt, muß sich erst daran gewöhnen, eine Zimmertemperatur
von 15° C, zu welcher im Januar wohl öfters das Thermometer
sinkt, behaglich zu finden.
Erst in Süditalien gelangt die Mittelmeerflora mit ihren
immergrünen Holzgewächsen zur vollen Herrschaft, und ist wenig-
stens eine Zwergform der tropischen Familie der Palmen ein-
heimisch, erst dort werden andere Erzeugnisse niederer Breiten
so im großen gezogen, daß sie landschaftlich ins Gewicht fallen,
wie die tropischen Aurantiazeen. Freilich, die Dattelpalme, ein
so malerischer Schmuck der Gärten sie auch ist, selbst schon in
Ligurien, vermag auch in Sizilien, wenn auch fortpflanzungsfähige,
so doch keine eßbaren Früchte zu zeitigen. Dazu ist die Luft-
trockenheit im Sommer nicht groß genug. Die Verbreitung der
auffälligsten Mediterrangewächse, des Ölbaums, der Immergrün-
eiche, des Erdbeerbaums, des Lorbeers, der Myrthen, Pistazien,
Pinien usw., ist aber eine weit geringere als man gewöhnlich an-
nimmt, nur etwa die Hälfte Italiens hat vorwiegend mediterrane
Flora, in der anderen Hälfte begegnen wir überall unseren mittel-
europäischen Gewächsen, noch in Sizilien bestehen die Gebirgs-
wälder aus unseren Buchen, Eichen und Kastanien. Nur die
von der unserigen grundverschiedene Art der Bodenver\vertung,
— lyo —
der Anbau von Mais und Reis, die langen Reihen von Maulbeer-
bäumen oder rebenumrankten Ulmen u. dgl. macht auch schon
in der Lombardei auf den Deutschen einen südländischen, jeden-
falls fremdartigen Eindruck. Im Süden tritt, wo nicht künstliche
Bewässerung möglich ist, die dort aber fast nur den Fruchthainen
gilt, an Stelle des Winterschlafes eine sommerliche Ruhepause
der Gewächse; der berühmte sizilische Weizen wird zu Beginn
der winterlichen Regenzeit gesäet, wächst ohne Unterbrechung
und wird zu Beginn der heißen und trockenen Zeit geerntet.
Die kostbarsten Früchte reifen dort im Winter, die Kirsche in
einer Zeit, wo sie in Mitteldeutschland kaum zu blühen beginnt.
So vielfach ethnisch gemischt auch die Bevölkerung Italiens
ist und so bedeutende Abweichungen sie in ihrem physischen
Typus, namentlich im Schädelbau, auch aufweist, so zeichnet
sich das Land doch vor beinahe allen Ländern Europas durch
eine erstaunliche Einheitlichkeit in kultureller und sprachlicher
Hinsicht aus. Was heute noch an Franzosen, etwa 120000, in
den Tälern der piemontesischen Alpen, an Deutschen, an Slawen,
Griechen und Albanesen innerhalb der Grenzen des Königreiches
wohnt, unterliegt rascher Aufsaugung. Die italienische Nation
genießt außerdem den großen Vorzug, daß bei einer Kopfzahl
von 34 Y2 Millionen nur etwa 2 Millionen, also nicht ganz 7°/^,
außerhalb der Grenzen des nationalen Staates wohnen, der einer-
seits nur o,8°/(j italienische Staatsbürger nicht italienischer Natio-
nalität umfaßt. Wie glücklich müssen wir Deutschen die Italiener
schätzen, die wir in unserem nationalen Staate 8*^/^ Angehörige
fremder Völker beherbergen, während volle 25°/^ unseres Volks-
tums — die Deutschen in überseeischen Ländern, die Nieder-
deutsch auch als Schriftsprache gebrauchenden Vlamen und
Holländer nicht einmal eingerechnet — außerhalb der Reichs-
grenzen wohnen und in ihrem nationalen Dasein bedroht sind!
Wirtschaftliche Verhältnisse.
Wir deuteten bereits an, daß sich die italienische Nation
vorzugsweise wohl zur Hälfte, von Boden und Klima angeregt
und begünstigt, dem Ackerbau widmet, der freilich wesentlich
andere Züge aufweist, als bei uns. Unabsehbare, baumlose
Flächen, mit Getreide, Kartoffeln oder Zuckerrüben bestellt, sucht
man in Italien vergebens. Im Inneren Siziliens finden wir zwar
— 171 —
diese einförmige Art der Bodenverwertung wieder, aber es ist
ein unentwirrbares Chaos gerundeter baumloser Hügel, welche
hier unabsehbar mit Weizenfeldern bestellt sind, so daß das Land
nach der Ernte im Sommer öder Steppe gleicht. Sonst aber ist
selbst bei Großgrundbesitz, der leider im Übermaß vorhanden ist,
wie in den östlichen Provinzen Preußens, der Anbau ein marmig-
faltiger, das Land in viele kleine Pachtstücke zerlegt und hat
durch die allenthalben zahlreich eingestreuten oder in Reihen
gepflanzten Fruchtbäume mehr einen gartenartigen Anstrich.
Vielfach ist die Hacke wichtiger als der Pflug. In den Küsten-
landschaften mit ihren ungeheuren Hainen von Ol- und anderen
Fruchtbäumen, dort, wo die Hänge in Terrassen ausgelegt sind
oder künstliche Bewässerung angewendet wird, Kanäle und Feld-
grenzen durch Baumreihen bezeichnet werden, da erhält die
italienische Landwirtschaft und die Landschaft selbst ein be-
sonders eigenartiges Gepräge. Wie ungeheuer muß z. B. die
Zahl der INIaulbeerbäume sein, trotzdem Seidenzucht eigentlich
mehr als Nebenbeschäftigung und meist nur im kleinen getrieben
wird, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Italien jährlich für
320 Mill. Lire Rohseide, wovon 250 Millionen allein aus der
Lombardei, zur Ausfuhr gewinnt!
Es mag die künstlich bewässerte Fläche jetzt ca. 20000 qkm
betragen, am meisten in der Poebene für Reis- und Futterbau.
Je weiter nach Süden, um so kostbarer und ertragreicher ist
künstliche Bewässerung. Konnte doch schon Martial in Ravenna
wünschen, lieber eine Zisterne mit Wasser, das er teurer ver-
kaufen könne, als einen Weingarten zu besitzen. Die ältesten
und sorgsamsten, zum Teil unterirdisch geführten Wasserleitungen
und Wasserfänge zu Berieselungszwecken besitzt die Conca d' Oro
von Palermo. Dieselben gehen wohl auf die Araber zurück.
Dort gibt eine zur Bewässerung eines Apfelsinenhaines verwendete
Quelle, die nur i Liter Wasser in der Sekunde zu liefern ver-
mag, doch eine jährliche Rente von 3000 Lire, eine Summe,
von welcher wohl eine einfache bürgerliche Familie zu leben
vermag. Welch bequemer Besitz! In Oberitalien gibt bewässertes
Land den doppelten, ja vierfachen, in Sizilien bis 20 fachen Er-
trag, und man rechnete in den 70er Jahren, wo die Erträge
wohl am höchsten waren, vom Hektar Apfelsinengarten 3600 Lire
Rohgewinn. Auch insofern weicht die italienische Art, den Boden
auszunutzen, von der unseligen ab, als das Klima dort erlaubt,
nicht nur mehrere Ernten im Jahre nacheinander zu erzielen, bei
Rieselwiesen in der Lombardei bis zu acht Schnitten, sondern
zwei, ja drei Gewächse zu gleicher Zeit, wie etwa Ölbäume,
Reben und Weizen. Es lohnt der Ackerbau, in dieser Weise
mehr als Gartenbau betrieben, so reichlich, daß selbst Berg-
hänge, die bei uns nur Wald hervorzubringen vermöchten, bis
hoch hinauf in gemauerten Terrassen ausgelegt sind. Die Küsten-
und Hügellandschaften sind fast überall der Baumzucht gewidmet
und bieten dadurch besondere Reize. Die Fruchtbäume lassen
den Waldmangel weniger schwer empfinden. Die Mannigfaltig-
keit der gezogenen Gewächse kennzeichnet ebenfalls die ita-
lienische Landwirtschaft. Namentlich gilt dies von den Frucht-
bäumen, Unter unsere mitteleuropäischen mischen sich tropisch-
indische, tropisch-amerikanische, japanische u. dgl. Der Ölbaum
allein, der im westlichen Ligurien und anderwärts ganze Land-
schaften wie bewaldet erscheinen läßt, bedeckt eine Fläche so
groß wie das ehemalige Kurhessen; Apfelsinen-, Limonen- und
Mandarinenbäume zählt man etwa sechzehn Millionen Stück, wo-
von zwei Drittel allein in Sizilien. Die Rebe, deren Anbau be-
ständig gestiegen ist, nimmt eine Fläche von 20000 qkm in
Anspruch und liefert im Mittel etwa 35 Millionen Hektoliter Wein.
Italien kommt so unmittelbar hinter Frankreich und macht jetzt
auch in der Behandlung des Weines Fortschritte. Und welche
Fülle von Gartenfrüchten, Gemüse u. dgl. bringt das Land zum
Teil im Winter hervor, Schätze, deren Verwertung für Mittel- und
Nordeuropa noch in den Anfängen steht! Überhaupt könnte
Italien aus seinen Bodenerzeugnissen, die heute noch zum Teil
wegen schlechter Behandlung minderwertig oder nicht ausfuhr-
fähig sind, weit, weit größeren Nutzen ziehen; wie die italienische
Landwirtschaft, wenn auch Italien das klassische Land des Acker-
baues genannt werden kann, heute meist nicht auf der Höhe
steht, ja örtlich im Rückgang ist, Ackerbau durch Weidewirtschaft
verdrängt wird. Am schlimmsten ist es in dieser Hinsicht in der
römischen Kampagna, die heute menschenleerer daliegt als je-
mals, so daß tatsächlich die Hauptstadt Italiens mitten in einer
entvölkerten Steppe liegt. Erst 20 — 25 km von Rom findet man
am Albaner Gebirge, das aber ebenfalls sich wie eine Insel aus
menschenleerem Gebiet erhebt, die nächsten bewohnten Orte'
— 173 —
Dort, wie in anderen ähnlichen Kampagnas Italiens, ist es der
Großgrundbesitz, welcher noch immer ohne Verständnis für seine
sozialen Aufgaben und Pflichten das Land entvölkert, indem er
sich am besten zu stehen meint bei Pacht- und Weidewirtschaft;
zählte man doch 1881 — und seitdem ist es nicht besser ge-
worden — in der ganzen römischen Kampagna an dauernden
Bewohnern nur 764, also nur 0,264 auf i qkm, während die
ganze Volksdichte von Italien 113 beträgt! Güter von 20 qkm
Größe sind nur von zwei Personen dauernd bewohnt! Dafür
steigen alljährlich 10 000 Lohnarbeiter, wahre Sklaven der Unter-
nehmer, aus den Abruzzen herab, um anzubauen, was noch an-
gebaut wird, und nach harter, entbehrungsreicher Arbeit, meist
mit malariasiechem Körper und kärglichen Ersparnissen in die
heimischen, übervölkerten Berge zurückkehren. Ähnlich traurig
ist die Lage der den Boden bebauenden Bevölkerungskreise fast
überall in Italien, einer der Krebsschäden des schönen Landes.
Während so die Weidewirtschaft und der Großgrundbesitz an
lind für sich sehr fruchtbare Landschaften entvölkern, sind ge-
wisse Gebirgslandschaften bei geteiltem Besitz übervölkert.
Wenn auch örtlich Viehzucht vorherrscht, so ist Italien
doch ein vieharmes Land, wie das seinem Klima und seiner
Pflanzenwelt entspricht. Denn dem Süden fehlen die saftigen
Wiesen, welche das Rind liebt, nur Schafe und Ziegen finden
dort die ihnen zusagende Nahrung. Nur im Polande wird be-
deutende Rinderzucht betrieben und Butter, namentlich aber die
berühmten Käse, Parmesan, Gorgonzola usw., in Menge ge-
wonnen und von Mailand aus in den Handel gebracht. Aber
selbst die Schafzucht deckt nicht den eigenen Bedarf Italiens
an Wolle.
Daß Italien an inneren Schätzen arm sein muß, suchten wir
schon früher zu erklären. In der Tat ernährt der Bergbau nur
einen geringen Prozentsatz der Bewohner. Obenan steht die
Schwefelgewinnung im Tertiär Siziliens, die, noch immer eine Art
Raubbau, etwa 35 000 Arbeiter beschäftigt und kärglich entlohnt.
Ihr Wert erreicht 40 Millionen Lire jährlich. Die volle Ver-
wertung des altberühmten, in unerschöpflichen Mengen dicht am
Meeresufer anstehenden Eisens von Elba leidet unter dem völligen
Mangel an Steinkohlen im Lande selbst. Die Gewinnung von
Silber und Kupfer im toskanischen Erzgebirge, auf welcher die
— 174 —
berühmten Metallarbeiten der alten Etrusker beruhten, von Blei,
Zink und anderen Erzen, namentlich im südlichen Sardinien, wo
jetzt der Bergbau durch fremden Unternehmungsgeist im Auf-
blühen ist, erreicht noch nicht den Wert des sizilischen Schwefels.
Doch ist der Bergbau Italiens in aufsteigender Bewegung. Dazu
kommt der Reichtum an Steinen^ welcher den Steinbau im ganzen
Lande so wesentlich gefördert und italienische Steinarbeit^r zu
überall geschätzten und gesuchten gemacht hat. Die Marmor-
gewinnung von Massa, Carrara und Serravezza beschäftigt allein
8000 Arbeiter und gibt einen jährlichen Ertrag von 20 Millionen Lire.
Dafür, daß Italien Steinkohlen entbehrt, ist seine immer
mehr aufblühende Gewerbetätigkeit schon heute bedeutend.
Ihr Hauptsitz ist das Poland, wo sie sich durchaus bodenständig
besonders durch Verwertung der Triebkräfte der Alpengewässer
entwickelt hat. Vielfach drängen sich in den Alpentälern die
großgewerblichen Anlagen, und die elektrische Kraftübertragung
verheißt hier noch eine große Zukunft. Seiden- und Wollen-
spinnerei und -Weberei, also durchaus bodenständige Erwerbs-
zweige, stehen obenan, erstere allein beschäftigt 200000 Men-
schen. Ihnen reiht sich die Verarbeitung der Baumwolle an,
die während des amerikanischen Bürgerkrieges im Süden im
großen gezogen wurde und in Sizilien heute wieder Boden zu
gewinnen scheint. Die Gegenwart des italienischen Handels-
und Seeverkehrs, die italienische Handelsflotte von heute, ob-
wohl sie zu den ersten Europas gehört, bleibt weit hinter der
Vergangenheit zurück. Wichtig ist aber die Fischerei in einem
großen Teile des Mittelmeeres. Die auf Edelkorallen liegt ganz
in italienischen Händen und^ liefert einem eigenartigen Zweige
des vaterländischen Kunstgewerbes den Rohstoff. Doch hat die
Entwicklung des Verkehrs in Italien rasche Fortschritte gemacht
durch Schaffung von Verkehrswegen, an denen es dem Süden
fast ganz fehlte. Was die Kulturstaaten Europas im Laufe von
Jahrhunderten geschaffen haben, das mußte, wenigstens im ehe-
maligen Kirchenstaate und im Königreich Neapel, wo man ge-
flissentlich bemüht gewesen war, den Verkehr zu unterbinden, in
Jahrzehnten nachgeholt worden. Besaß doch Sizilien 1863 erst
9 km Straßen, und besuchte ich dort noch 1875 eine Stadt von
20000 Einwohnern, die noch von keiner fahrbaren Straße er-
reicht wurde.
175
Volksdichte und Siedelungskunde.
Für ein vorwiegend ackerbauendes Land ist Italien mit
1 1 3 Köpfen auf das Quadratkilometer sehr dicht bevölkert,
einzelne Gegenden um so dichter, als andere, kaum minder
fruchtbare, völlig menschenleer sind. Das nur ackerbauende
Sizilien hat 141 Köpfe auf i qkm, Kampanien 194 und die zu-
gleich gewerbtätige Provinz Mailand gar 454. Menschenleere
Einöden schafft in Italien Großgrundbesitz im Bunde mit Malaria.
Letztere verlangsamt die natürliche Volksvermehrung und er-
schwert den Anbau und selbst den Verkehr ganzer Landschaften.
Sind doch von den 6g Provinzen Italiens nur 6 malariafrei! Auf
gewissen Eisenbahnlinien in Sardinien, Sizilien, Kalabrien und
Toskana müssen alle Beamten besser genährt, höher besoldet
und für die Nacht nach gesunden Stationen gebracht werden.
Aber auch damit wird die Sterblichkeit unter denselben nur auf
I2y2% herabgedrückt. In dem unglücklichen Kosenza, das im
Durchschnitt einmal im Jahrhundert von Grund aus durch Erd-
beben zerstört wird, kommen auf 1000 Mann Besatzung jährlich
1500 Erkrankungen! Viele, viele Millionen kostet die Malaria
dem Staat alljährlich. Dennoch ist die natürliche Volksvermehrung
eine günstige und die Zunahme der Bevölkerung trotz der stetig
wachsenden Auswanderung eine beträchtliche. Die Volkszahl des
Königreiches stieg von 1871 bis igoi von 26,8 Millionen auf 32y2.
Die Art zu wohnen weicht in Italien von derjenigen aller
Länder Europas, bis auf einen Teil von Spanien, insofern ab,
als kleine Siedelungen, Dörfer in deutschem Sinne, in größeren
Teilen Italiens unbekannt sind. Selbst in rein ackerbauenden
Gegenden bilden Anhäufungen der Menschen nach Tausenden,
wo man also in Deutschland von Städten sprechen würde, die
Regel. Nur einige Landschaften des Nordens, Venetien, die
Emilia, Toskana, wo nur 50 — 55 7o ^^^ Einwohner in geschlosse-
nen Ortschaften beisammen wohnen, machen eine Ausnahme.
Aber auch dort gibt es weniger Dörfer als verstreute Einzel-
häuser oder Einzelhöfe. Im größten Teile Siziliens sind Dörfer
in unserem Sinne unbekannt. Die mehr als 3530000 Bewohner
der Insel verteilen sich, von einer sehr geringen Zahl von Berg-
werken und Meierhöfen abgesehen, auf 67g Ortschaften, deren
jede demnach im Durchschnitt 3g 54 Einwohner haben müßte. In
— 176 —
der Provinz Girgenti wohnen von ihren 3 1 2 000 Bewohnern nur
4000 außerhalb großer geschlossener Ortschaften, wohl meist auf
den Schwefelbergwerken, und es zählt diese Provinz 16 Städte
von 8 — 20 000 Einwohnern. Die rein ackerbauende apulische
Provinz Bari hat bei 679000 Einwohnern 15 Städte von 15 — 58000
Bewohnern. Es ist klar, daß dieses gedrängte Wohnen, weit
weg von den zu bebauenden Feldern, große Nachteile hat, auch
sehen wir allenthalben, daß sich in den letzten Jahrzehnten in
Süditalien, seit die öffentliche Sicherheit eine bessere geworden
ist und der Verkehr sich belebt, mehr und mehr die Neigung
geltend macht, sich wieder inmitten der Felder, an den Verkehrs-
wegen, namentlich den Eisenbahnen, an der Küste, niederzulassen.
Es entwickeln sich wieder kleine, verstreute Siedelungen, und die
ungünstig gelegenen größeren Mittelpunkte beginnen zu veröden.
Das beste Beispiel dieser Art bietet wohl Monte S. Giuliano,
der alte Eryx, in Westsizilien, das nur noch eine Sonn- und
Feiertagsstadt ist. Es wäre eben durchaus irrig, dieses ge-
drängte Wohnen der Menschen in wenigen, weit voneinander
entfernten großen Ortschaften überall und durchaus aus der
Landesnatur herzuleiten. Natürlich feste Lage, gute Häfen,
Quellen, Freiheit der Örtlichkeit vom Fieber und ähnliche Ur-
sachen kommen gewiß in Betracht, in erster Linie geben aber
geschichtliche Vorgänge die Erklärung dieser Erscheinung. In
den endlosen Fehden und Kriegen, welche Italien im Mittelalter
und bis in die neueste Zeit heimgesucht haben, drängten sich die
Menschen an den natürlich festen Punkten zu gemeinsamer Ab-
wehr zusammen, namentlich konnten sich an den Küsten Süd-
.italiens gegenüber den unablässigen Überfällen der kleinafrika-
nischen Seeräuber — wir haben selbst noch in Sizilien alte Leute
gekannt, welche in die Sklaverei nach Tunis geschleppt worden
waren — nur solche Küstenplätze halten, welche mit einem
Hafen natürliche Festigkeit verbanden; wo solche Punkte fehlten,
da wurde die Bevölkerung, wie namentlich in Kalabrien, von den
Küsten weg auf die steilen Höhen im Angesichte des Meeres
gedrängt. Andererseits aber hat sich auch die Feudalzeit in
diesen großen Siedelungen verewigt, indem die zahlreichen kleinen
Herren Mittel- und Süditaliens ihren Herrschersitzen mit allen
Mitteln Glanz zu verleihen suchten, in Unteritalien in der spani-
schen Zeit die Feudalherren bemüht waren, durch Schaffung großer
— 177 —
Güter mit namhaften Mittelpunkten ihr Ansehen zu heben, neue
Ehren und Titel zu erlangen. Fast die Hälfte aller sizilischen
Städte besteht aus derartigen geschichtslosen Neugründungen aus
der Zeit des i6. bis i8. Jahrhunderts. Die andere Hälfte da-
gegen geht auf Phöniker, Karthager, Griechen, wohl auch noch
weiter zurück und umfaßt, durch ausgezeichnete Lagenverhältnisse
bedingt, hervorragend geschichtliche Stätten.
Sehr bezeichnend ist es, daß in Insel- und Halbinselitalien
alle größeren, geschichtlich wichtigen Städte am Meere liegen,
meist mit einem Hafen natürliche Festigkeit der Lage verbindend:
Messina, Catania, Agosto, Syrakus, Trapani, Palermo, Milazzo,
Tarent, Brindisi, Ancona, Neapel, Pozzuoli, Gaeta, Cagliari usw.
Nur Rom und Florenz machen eine Ausnahme, obwohl auch sie
beide dem INIeere nahe liegen und sehr wichtige Seeverbindungen,
Florenz namentlich im späteren Mittelalter, wo es sich zur Erbin
des vom Meere abgedrängten Pisa machte, unterhielten. Beide
liegen auch bereits, wie die Städte Oberitaliens, an Flüssen,
während in Süditalien die Flüsse von größeren Siedelungen durch-
aus gemieden werden. Bei beiden fallen besonders die geo-
graphisch bedingten Beziehungen zum Appenninenlande, zur
adriatischen Küste und zum Norden ins Gewicht. In Ober-
italien liegen nur zwei Großstädte am Meere, Venedig und Genua,
beide mit natürlichen Häfen Festigkeit der Lage verbindend;
ersteres spiegelt mehr die große Vergangenheit wieder, während
letzteres die Gegenwart Italiens zur See veranschaulicht. Venedig
lag bis zur Bahnung guter Alpenstraßen und bis zur Durch-
bohrung des St. Gotthard für die Beziehungen zu Deutschland
und zum Orient günstiger, wie dies noch heute nahe beieinander
am Canal grande das deutsche und das türkische Kaufhaus ver-
anschaulichen. Selbst wenn es gelingt, die Naturkräfte, welche
Venedig bedrohen, dauernd abzuhalten, wird diese Stadt doch
kaum wieder mit Genua zu wetteifern vermögen, denn die Be-
ziehungen zum Osten, auch zu dem fernsten, für welchen Genua
kaum minder günstig liegt, werden in absehbarer Zeit nicht die
Bedeutung erlangen, wie diejenige zur Neuen Welt, der sich
Genua zuwendet, dem in der Lombardei und Piemont, weiterhin
in Südwestdeutschland ein reiches Hinterland erwachsen ist,
während es zugleich der natürliche Mittelpunkt der dicht be-
siedelten, rührigen ligurischen Küste von Spezia bis Ventimiglia
Fischer, Mittelmeerbilder. 12
- 178 -
ist. Venedig dagegen thront einsam mitten in einem Sumpf- und
Haffgebiet am Außenrande eines 15 bis 20 km breiten unwirt-
lichen Gürtels, der das besiedelte Innere vom Meere scheidet.
Neben diesen beiden einzigen Seestädten besitzt aber Festland-
italien noch ein Mailand, Turin und Bologna, neben vielen
anderen bedeutenden Brennpunkten geschichtlichen Lebens: den
Alpenrandstädten Verona, Bergamo, Brescia, Como, den Appen-
ninenrandstädten Modena, Parma, den Poübergangstädten Pia-
cenza und Cremona, den auch strategisch wichtigen Festungen
der Poebene Mantna und Alessandria, Ferrara usw. Bologna ist
der Schlüssel Halbinselitaliens von Norden her und der Knoten-
punkt aller dorthin, sei es längs des Meeres, sei es über den
Appennin, gehenden Straßen; Turin, der natürliche Mittelpunkt
Piemonts, vereinigt in sich alle Straßen über die Westalpen; Mai-
land dagegen ist die Hauptstadt des ganzen Festlanditalien, der
Sitz und Knotenpunkt aller Beziehungen desselben nach West
und Ost, nach Süd und Nord, namentlich aber nach Norden,
wie sich dies in der sehr bedeutenden deutschen Kolonie Mai-
lands schon ausprägt. Der Handel und die Gewerbtätigkeit,
welche die reiche Umgebung schon nährt, haben Mailand zugleich
zum großen Geldplatze Italiens, in mancher Hinsicht, wie schon
in spätrömischer Zeit, zu dessen Hauptstadt gemacht. Mailand
hat seiner Lage nach viel Ähnlichkeit mit Berlin; wie dieses liegt
es im Flachlande als Knotenpunkt zahlreicher, meist künstlicher
Wasserstraßen und noch zahlreicherer Landstraßen, welche Be-
ziehungen nach Ost und West, aber auch nach Nord und Süd
vermitteln, mitten zwischen zwei größeren meridionalen Flüssen und
zwischen zwei natürlichen Grenzlinien, Appennin und Alpen, die
dem Mittelgebirgsrande und der Ostseeküste entsprechen. Doch
sind alle Verhältnisse bei Mailand räumlich beschränktere. Der
gewaltige Aufschwung von Mailand prägt sich am besten darin
aus, daß sich seine Bevölkerung in den letzten 30 Jahren, also
ebenfalls ähnlich Berlin, verdoppelt hat und jetzt 491 000 beträgt.
Und Mailand verdankt diesen Aufschwung nur sich selbst, wäh-
rend Rom, das seit 20 Jahren seinen Charakter sehr wesentlich
geändert und seiner Bevölkerung nach (463 000) sich bereits
Mailand nähert, dies nur seiner Eigenschaft als Hauptstadt
verdankt. Beide übertrifft (528000) das menschenwimmelnde
Neapel.
— 179 —
Schon in dem raschen Wiederaufblühen dieser und fast aller
Städte Italiens, in der Vermehrung der Bevölkerung erkennen
wir, daß dies Land, wenn wir es noch einen Augenblick als
Staat betrachten, in fortschreitender Entwicklung begriffen ist.
Der Staat Italien ist heute trotz aller Schwierigkeiten, die sich
zeitweilig namentlich in der üblen Finanzlage auftürmen, als völlig
in sich gefestigt, als selbst einen starken Stoß von außen zu er-
tragen befähigt anzusehen. Die Schwierigkeiten, mit welchen man
heute ringt, gehen alle auf die Art und Weise zurück, wie der
Einheitsstaat geschaffen worden ist. An den so kleinen Kern
des sardinischen Königreichs hat sich das ganze übrige Italien
ankristallisiert, durch den Willen des Volkes, nicht durch Er-
oberung. Damit mußte eine Menge veralteter Einrichtungen, ein
ungeheures Heer schlecht bezahlter und vielfach unfähiger Be-
amten übernommen, Empfindlichkeiten jeder Art geschont werden.
In der Hälfte des Landes mußten alle Kulturaufgaben, die dort
geflissentlich vernachlässigt worden waren, Straßen, Eisenbahnen,
Häfen usw. so rasch wie mögUch, selbst unter den ungünstigsten
Bedingungen und dem schwersten Lehrgeld geschaffen werden.
Schulen waren im Süden so gut wie gar nicht vorhanden. Das
fluchwürdige bourbonische System hatte eine ungeheuere Korrup-
tion, geheime Gesellschaften, Räuberwesen und dergleichen groß-
gezogen. So stieg die Schuldenlast von Staat und Gemeinden
ins Ungeheuere! Wenn dennoch heute ein großer Teil jener
Aufgaben gelöst ist — in der kurzen Spanne Zeit von kaum
30 Jahren — , der Staatskredit befestigt, die Fehlbeträge ge-
mindert, so ist das eine Leistung, auf welche Italiens Herrscher
und Volk stolz sein können. Das italienische Volk arbeitet heute
rastlos auf allen Gebieten des materiellen und des geistigen
Lebens, die schmarotzenden Müßiggänger der höchsten wie der
niedrigsten Schichten früherer Zeiten sterben aus, ein neues Ge-
schlecht wächst heran und ist zum Teil schon herangewachsen.
Man wandle nur eine Stunde offenen Auges durch die Straßen
von Mailand, Genua oder selbst Palermo, und man wird sich,
natürlich der Landesnatur entsprechend Rechnung tragend, von
der Richtigkeit dieser Beobachtung überzeugen. Überall herrscht
Leben und Vorwärtsschreiten. Die italienische Nation steht heute
mitten in einer Wandlung ihres ganzen nationalen Daseins. Die
Zeit der übergroßen Abhängigkeit von Frankreich, mehr noch im
— i8o —
gesamten Geistesleben als im wirtschaftlichen, der blinden Be-
wunderung der romanischen Vormacht ist vorüber, das italienische
Volk hat angefangen, sich auf sich selbst zu besinnen, sein
Kulturleben auch mit den Erzeugnissen deutschen Geistes zu
befruchten, dem germanischen Volkstume Aufmerksamkeit zu
schenken, zunächst in den Wissenschaften, voran den Natur- und
exakten Wissenschaften, weiterhin aber auch bereits im wirtschaft-
lichen Leben. Man ist erstaunt, heute so viele Italiener kennen
zu lernen, die unsere Sprache, so schwierig sie ihnen ist, ver-
stehen und selbst sprechen, die damit ihre Hochachtung für uns
und unser Vaterland greifbar darlegen. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß ein großer Teil der italienischen Nation uns heute
aufrichtige Teilnahme entgegenbringt, es wird nur zum Wohle
des deutschen Volkes und des deutschen Vaterlandes sein, wenn
wir unsererseits uns noch mehr als bisher bemühen, durch Reisen
im Lande selbst die uns fremde Landesnatur verstehen, dem uns
fremden Volkstume gerecht zu werden und damit die geistigen
und wirtschaftlichen Bande zwischen beiden Völkern, welche auch
nicht der leiseste Interessengegensatz scheidet, deren Geschicke
vielmehr eng miteinander verbunden sind, um so fester zu knüpfen.
2. Die sizilische Frage. 0
Eine in Sizilien oft gehörte Klage, namentlich von Seiten der
Gebildeten, ist die, daß man ihr Land und den Charakter der
Bewohner draußen, das heißt vor allen Dingen auf dem italieni-
schen Festlande, nicht kenne, daß sich niemand die Mühe gebe,
es kennen zu lernen, usw. Vor allen Dingen hört man aber
l) Veröffentlicht 1875 in der Zeitschrift „Im Neuen Reich". Diese
Betrachtungen erscheinen mir heute, 30 Jahre später, während deren ich mich
noch wiederholt längere und kürzere Zeit in Sizilien aufgehalten und Italien
ganz besonders zum Gegenstande meiner Forschungen gemacht habe, zu-
nächst im Lichte einer wichtigen geschichtlichen Urkunde. Leider kann man
auch heute noch, wie die sich wiederholenden Arbeiteraufstände, die wirt-
schaftlichen Krisen, die stetig anwachsende Auswanderung und die sich immer
wieder erneuernden erregten Erörterungen in der italienischen Kammer zeigen,
von einer sizilischen Frage sprechen und sind diese Schilderungen vielfach
noch heute zutreffend, wenn auch manches, wie das Verkehrswesen, ge-
bessert ist.
— löl —
immer und immer wieder von einem Ende der Insel bis zum
andern, in den großen Seestädten sowohl, wie in den vergessenen
und verlorenen Ackerstädten des Innern den Vorwurf, daß die
Regierung kein Herz und Verständnis für die Insel habe, daß
man es nie in den maßgebenden Kreisen für nötig erachtet habe,
aus eigener Anschauung das eigentümliche Sonderwesen der
Insel, ein Ergebnis ihrer besonderen Natur und der Geschichte
eines Jahrtausends, kennen zu lernen und den sich daraus er-
gebenden wirklich berechtigten Eigentümlichkeiten in Anschauungen,
Wünschen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Diese Klage
ist leider nur zu berechtigt; man lese nur die vertraulichen Be-
richte, die die Präfekten in den letzten Monaten an ihren Mi-
nister gesandt und die dieser merkwürdigerweise, um mich eines
noch parlamentarischen Beiwortes zu bedienen, zu veröffentlichen
keinen Anstand nahm. Ich habe mich selbst oft genug überzeugt,
daß die amtliche und gesellschaftliche Stellung der Beamten in
Sizilien eine sehr dornenvolle ist, kaum aber berechtigt dies wohl
das Haupt einer Provinz, die gesamte Bevölkerung derselben
als aus Dieben, Räubern und Mitgliedern geheimer Blutsauger-
gesellschaften bestehend zu kennzeichnen. Worüber soll man
hier mehr staunen, über den Leichtsinn, die Oberflächlichkeit,
die Ungerechtigkeit oder die Verbitterung und den Mangel an
Selbstbeherrschung, die aus diesem Urteil sprechen? Derartige
Dinge würden überall gerechte Entrüstung erregen, wie viel mehr
bei einem Volke wie das sizilianische , das überall den eines
großen Volkes würdigen Zug hervorkehrt, daß es von jedem, der
mit ihm in Berührung kommt, volle Hingabe fordert, und das
von der langen spanischen Herrschaft außer anderen spanischen
Eigentümlichkeiten auch den spanischen Stolz bewahrt hat.
Schreiber dieser Zeilen hat fast ein Jahr in Sizilien gelebt, hat
wiederholt die Insel durchwandert und sich diese ganze Zeit
ernster Arbeit nur mit ihr und ihren Bewohnern beschäftigt und
bekermt offen, daß sein anfänglich auch ungünstiges Urteil bei
genauerer Kenntnis einem gerechteren weichen mußte. Es wird
wenige Länder auf der Erde geben, die bei so geringer Aus-
dehnung in so hohem Grade jedem Streben des menschlichen
Geistes Stoff, Nahrung und Förderung zu bieten vermögen. Der
Altertums- und Kunstforscher, der Botaniker und Zoolog, der
Volkswirtschaftler und Geschichtsforscher, besonders bei philo-
— l82 —
sophischer Geschichtsbetrachtung, der Völker- und Erdkundler
wie der Sprachforscher, jeder kann in Sizilien sich reiche Belehrung
holen. Über kein Land und kein Volk wird man so schwer
urteilen können, wie über das sizilianische, nur bei gründlicher
Kenntnis seiner Natur und vor allem seiner Geschichte soll man
es wagen, und auch nur an der Hand der Vergleichung , mit
einem Auge, dessen Blick durch eigene reiche Anschauung und
Erfahrung für ein Verständnis fremden Volkstums geschärft ist.
Wie viel ist aber in dieser Hinsicht gegen Sizilien gesündigt
worden! Jeder flüchtige Reisende hat in unserem vielschreiben-
den Zeitalter den dringenden Beruf gefühlt, der erstaunten Welt
seine tiefen Eindrücke und scharfen Beobachtungen aufzutischen.
Es ist köstlich, zu beobachten, wie die heiße Natur von Land
und Leuten in Sizilien auch auf das Gehirn der fernen Reisen-
den gewirkt hat: Maß zu halten, ernst zu erwägen, nach Grün-
den und Erklärungen zu fragen, das tut keiner, alle bewegen
sich in Extremen. Der eine sieht nur Wüsten, Ungeziefer, Faul-
lenzer, Diebe und Räuber, wie der Präfekt von Caltanisetta ; der
andere findet nicht Superlative genug, um dieses irdische Para-
dies und seine liebenswürdig-ritterlichen Bewohner gebührend zu
erheben. Beiden hoffe ich gleich fern zu bleiben und zu zeigen,
daß der kühle Kopf des nordischen Forschers auch unter der
Glut der sizilischen Sonne seinen Schwerpunkt nicht verloren hat.
Sollten diese Zeilen einem Bewohner Siziliens, vielleicht einem
jener Männer, die ich dort kennen und hochachten gelernt
habe, in die Hände fallen, so bedarf es wohl kaum der Ver-
sicherung, daß Schreiber dieser Zeilen ein aufrichtiger und vor
allem dankbarer Freund des sizilischen Volkes ist, daß er kein
Wort geschrieben, ohne ernste Abwägung und ohne es als heilige,
wenn auch oft bittere Wahrheit erkannt zu haben. Stets hat ihm
sein Grundsatz vorgeschwebt, den für seinen treuesten Freund
zu halten, der ihm die Wahrheit sagt, ein Grundsatz, dem frei-
lich in der Masse des sizilischen Volkes noch einige Verbreitung
zu wünschen wäre. Ich hoffe bald Gelegenheit zu haben, in
umfassenderer Weise Sizilien für das hingebende Entgegenkommen,
das mir von vielen seiner edelsten Vertreter zuteil geworden,
meinen Dank darzubringen. «
Sizilien hat in der letzten Zeit mannigfach die Augen der
Welt auf sich gezogen und viele jener Krebsschäden, an denen
- i83 -
es noch immer leidet, sind wieder einmal ans Licht gezogen
worden. Man hat bei Gelegenheit der stürmischen Verhandlungen
über das Sicherheitsgesetz die Stimmung der Sizilianer vollauf
kennen lernen können und wie ich dieselbe aus eigener An-
schauung in allen Teilen der Insel kenne, ist leider zu fürchten,
daß man mit der Untersuchungskommission und dem Antrage
Pisanelli, durch den man in gewohnter Weise Zeit zu gewinnen
und das glimmende Feuer zuzudecken, statt es gründlich aus-
zulöschen sucht, traurigeren Vorgängen nicht vorbeugen wird.
Die sizilische Frage, denn daß eine solche vorliegt, kann
man sich nicht verhehlen, ist eine wesentlich wirtschaftliche, ge-
sellschaftliche und Kulturfrage, weniger eine politische. Sie ist
zu einer so brennenden geworden dadurch, daß durch ein
tückisches Verhängnis Italiens Einheit von Süden nach Norden,
statt umgekehrt, geschaffen worden und es bei der Weise, wie
sie sich vollzogen hat, unmöglich war, ein edles Volk, das für
seine Freiheit Opfer gebracht, einer Übergangs- und Vorbereitungs-
zeit von zwei bis drei Jahrzehnten zu unterwerfen. Man darf
gewiß Sizilien, was die Höhe der Kultur anlangt, nicht mit Grie-
chenland vergleichen, dennoch aber muß man sagen, wenn man
jenes bei der besten aller Verfassungen in beständiger, mehr
oder weniger latenter Anarchie dahinsiechen sieht, weil eben die
Masse des Volkes nicht reif und vorbereitet ist für den Genuß
jenes von anderen Völkern in harten und langen Kämpfen er-
worbenen Gutes der Freiheit und Selbstbestimmung, sagen, daß
in Sizilien die Dinge nicht viel anders liegen. Ein Volk, das
unter dem geistig beschränktesten und rohesten Despotismus, der
es absichtlich mit allen Mitteln von allen Segnungen der Zivili-
sation fern hielt, ein halbes Jahrtausend geseufzt hat, ohne je als
solches den Schatten eines Rechtes über das geringfügigste der
eigenen Interessen zu verfügen, besessen zu haben, wird un-
möglich imstande sein, im Handumdrehen alle die furchtbaren
demoralisierenden Folgen eines fluchwürdigen Despotismus ab-
zuschütteln und von dem ihm zustehenden Rechte der Freiheit
und Selbstbestimmung, so würdig es sich derselben immer durch
große Taten gezeigt hat, einen rechten Gebrauch zu machen.
Sizilien hätte einer eisernen Hand, verbunden mit einem liebe-
vollen und fürsorgenden Herzen, bedurft, die beide mit Tatkraft
und Einsicht das Volk aus der Erniedrigung, in die es Spanier
- i84 -
und Bourbonen versetzt, emporgehoben hätten. Die Verfassung
ließ freilich einem solchen Vorgehen keinen Raum, aber auch
Tatkraft und Einsicht sind leider seit fünfzehn Jahren in Sizilien
recht wenig von den Regierenden gezeigt worden. Es ist, wie
ich näher nachweisen werde, ungeheuer viel für Verbesserung
der Zustände geschehen, mehr als man hätte erwarten können,
aber alles ging von einzelnen einsichtigen Männern aus, die aber
nur in einem engen Kreise wirken koimten; wo sie fehlten, ist
denn auch wenig oder nichts geschehen. In einem Lande, wo
das Selbstdenken und Selbsthandeln Jahrhunderte hindurch als
das größte Verbrechen von selten der Regierenden angesehen
wurde, wäre es Sache der neuen nationalen Regierung gewesen,
überall die Initiative zu ergreifen, voran zu gehen und die Be-
völkerung mit sich zu reißen. Daß die italienische Regierung
das nicht getan, ist ein schwerer Fehler, der sich jetzt bitter
rächt. Sizilien befand sich noch 1860 tief im Mittelalter, das
sagt alles; durch den gewaltsamen Sprung in die Neuzeit sind
alle Verhältnisse erschüttert worden. Das Feudalwesen, obwohl
längst abgeschafft, bestand tatsächlich noch fort, Volksschulen
waren kaum vorhanden, Landstraßen in schüchternen Anfängen,
Eisenbahnen gehörten noch zu den fabelhaftesten Dingen. Von
letzteren gibt es jetzt ungefähr 270 km. Welch herrliches Er-
gebnis einer fünfzehnjährigen Bautätigkeit! Und dies in einem
Lande, wo es galt durch dieselben nicht nur weite Striche des
Inneren, deren Erzeugnisse keinen Weg zur Küste hatten und
die deshalb fast wertlos waren, aufzuschließen, Handel und Acker-
bau zu beleben, sondern vor allen Dingen durch gesteigerten
Verkehr sittlich und wirtschaftlich zu heben. Der Bau der Bahn-
linien ist allerdings ein schwieriger, ich habe mich selbst davon
überzeugt, aber bei ernstem Willen wären diese Schwierigkeiten
längst überwunden. Dasselbe gilt von den Straßen. Von 593 km
National- und Kommunalstraßen, die der Staat in Sizilien zu
bauen hat, waren bis 1872 fertiggestellt 252 km, im Bau waren
288, projektiert 53. Von den 109 zu bauenden Brücken waren
gebaut 55 und 9 im Bau, so daß ein großer Teil der fertigen
Straßen für fünf Monate im Jahr aus Mangel an Brücken noch
unfahrbar war. Dies ist z. B. noch heute der Fall mit der Straße
von Palermo nach Girgenti, die die Nord- mit der Südküste ver-
bindet und die im Winter durch den angeschwollenen Platani
- i85 -
durchbrochen wird. An der parallelen Eisenbahnlinie, einer der
wichtigsten der Insel, gegen iio km, baut man seit beinahe
zwölf Jahren, ohne daß man die Vollendung voraussehen könnte.
Man hatte überhaupt von 1860— 1872 für Straßen- und Brücken-
bau in Sizilien aufgewendet I4y2 ^Million Lire und Sizilien besaß
damals 2630 km Straßen, so daß auf den Quadratkilometer nur
0,090 km kamen, ein Verhältnis, das freilich von Sardinien mit
0,040 noch übertroffen wird, zur Lombardei mit 0,90g, ja sogar
zur Emilia, Umbrien und den Marken mit 0,50g in sprechendem
Gegensatz steht.
Wie es demnach mit den Verkehrsmitteln noch heute steht,
sieht man am besten daraus, daß es auf der Südküste noch eine
Stadt von 20000 Einwohnern gibt, es ist Sciacca, die noch von
keiner Straße erreicht wird. Hier geschieht es nicht selten, daß
ein Brief von der Provinzhauptstadt Girgenti, das man durch
zehnstündigen Ritt erreicht, im Winter oft drei Wochen braucht;
der Postreiter wartet einfach am Ufer der geschwollenen Flüsse,
bis das Wasser sich verlaufen hat. Dazu kommt, daß die ganze
Südküste ohne Hafen ist — erst vor einigen Jahren hat man
Hafenbauten in Porto Empedokle und Licata begonnen — und
sich im Winter oft wochenlang kein Schiflf dem ungastlichen
Strande nahen darf. Ein Beispiel möge die aus solchen Zu-
ständen sich ergebende Lage des Handels veranschaulichen. Ein
großes Handelshaus ließ Waren, deren Stadt und Umgegend zum
täglichen Leben dringend bedurften, aus Palermo kommen. Durch
ungünstige Winde und den Mangel an Häfen — Trapani allein
bietet auf der ganzen Strecke Unterkunft — brauchte das damit
befrachtete Schiflf statt etwa zwei bis drei Tage deren zweiund-
vierzig, kam aber an einem Somiabend so spät an, daß die Ge-
schäfte bereits geschlossen waren und es weit draußen auf offenem
Meere, um nicht auf den Strand geworfen zu werden, vor Anker
o-ehen mußte. In der Nacht brach indessen ein Sturm los und
es blieb dem Kapitän nichts weiter übrig, als sich auf hohe See
gegen Kap Passero hin zu flüchten. Nach sechs Tagen erschien
er wieder vor Sciacca und konnte ausladen; ehe er jedoch wieder
volle Ladung eingenommen, brach ein neuer Sturm los, der ihn
wieder in See zu stechen zwang und sein nur halb geladenes
Schiff in die höchste Gefahr brachte, bis es endlich in einem
hellen Augenblicke gelang, volle Ladung zu nehmen.
— i86 —
Daß unter solchen Umständen im Laufe von fünfzehn Jahren
selbst zu Lande noch keine Verbindung geschaffen worden ist
und viele Gegenden Siziliens unter ähnlichen Mißständen leiden,
ist ein schwerer Vorwurf für die Regierung. Die Erzeugnisse des
Landes sinken im Werte, weil ihre Ausfuhr mit großen Unkosten
verbunden ist und die Steuern werden um so drückender: das Geld
fließt hinaus; nichts oder so gut wie nichts kommt in der Gestalt
von gemeinnützigen Arbeiten wieder zurück. Der Staat löste aus
dem Verkauf der Güter der toten Hand in Sizilien Millionen
über Millionen, wo sie hingekommen, weiß keiner, jedenfalls nicht
wieder nach Sizilien: darf man sich da wundern, wenn die Stim-
mung der gesamten Bevölkerung in allen Schichten und allen
Gegenden der Insel, eine so furchtbar erbitterte ist, wie ich sie
gefunden, so daß man das Schlimmste fürchten muß? Nur der
Umstand kommt der jetzigen Regierung zu statten, daß die bour-
bonische noch schlimmer war und die Leute zu zählen sind, die
noch an sie denken.
Ich werde weiter unten ausführen, in welchem ziffernmäßig
zu beweisenden Verhältnis hier wie anderwärts in Sizilien die
Meilenlänge der Straßen und die Zahl der Grundbesitzer zu der
öffentlichen Sicherheit steht.
In dem Mangel an Verkehrsmitteln und an Energie, wenn
nicht an gutem Willen, dieselben zu schaffen, liegt eine der
Hauptursachen der üblen Zustände auf der Insel. Mit vollem
Recht hat ein sizilischer Abgeordneter es aussprechen köimen,
daß man jetzt keiner Ausnahmegesetze bedürfen würde, wenn die
Regierung die Millionen, die sie Jahr aus Jahr ein für die öffent-
liche Sicherheit ausgegeben hat, auf Herstellung von Verkehrs-
wegen und Unterricht verwendet hätte. Es ist damit der Nagel
auf den Kopf getroffen: mit Gewalt, mit Ausnahmegesetzen, mit
mehr als 50 000 Mann Soldaten und Karabinieri wird man die
Ruhe, wenn auch nicht die öffentliche Sicherheit aufrecht erhalten;
sobald man aber diese Gewalt einmal nicht mehr haben wird,
sobald z. B. ein Krieg das Heer im Norden zu vereinigen zwingt,
wird in Sizilien die furchtbarste Anarchie ausbrechen. Wirkliche
Besserung der Zustände wird man nur herbeiführen durch Ver-
kehrswege, durch pflichtmäßigen Unterricht und durch Umgestaltung
der wirtschaftlichen und Besitzverhältnisse. Wie die Verhältnisse
jetzt sind, ist es völlig unmöglich, das Räuberunwesen abzuschaffen,
- i87 -
da man jeden Tag künstlich neue schafft. Eine Besserung würde
allerdings durch teilweise Aufhebung der Verfassung, die nament-
lich ein energisches Einschreiten gegen die heillose, verworfene
Presse von Palermo ermöglichte, schneller und vollständiger zu
erreichen sein, wenn man nur der Regierung nach den traurigen
fünfzehnjährigen Erfahrungen Tatkraft und guten Willen zutrauen
dürfte.
Was die Unterrichtsfrage anlangt, so muß man allerdings
ein tätiges Vorgehen der Regierung anerkennen, soweit sie über
denselben zu verfügen hat. Gerade in bezug auf die Grundlage,
den Elementarunterricht, sind aber ihre Befugnisse zu eng be-
grenzt. Nach dem bisher bestehenden Schulgesetz hängt derselbe
ganz von den Gemeinden ab, die die Kosten dafür aufzubringen,
die Lehrer zu ernennen und zu bezahlen haben. Der Elementar-
kursus ist eingeteilt in einen unteren und einen oberen, jeder
zweijährig. Jede Gemeinde von fünfhundert und mehr Seelen
muß eine Schule für Knaben und eine für Mädchen errichten,
für den unteren Grad; die Gemeinden über viertausend Seelen
müssen zwei volle Schulen einrichten. Dörfer unter fünfhundert
Seelen sind nur zur Errichtung einer gemischten Schule ver-
pflichtet und auch dies nur, wenn fünfzig Knaben und Mädchen
da sind, sie zu besuchen. Natürlich sind diese Bestimmungen
lange nicht beobachtet worden, wenn auch ein Fortschritt sicht-
bar ist. In ganz Italien kommt erst im Durchschnitt auf 620 Ein-
wohner eine Schule, und während in Turin auf 355 eine kommt,
gehören in Kalabrien 1400 dazu. Dasselbe Verhältnis ungefähr
herrscht in Sizilien, nur ist der Gegensatz zwischen den größeren
See- und den Landstädten des Innern, Dörfer gibt es ja fast
nicht, noch schreiender. Der Lehrer wird von der Gemeinde er-
nannt, muß aber vom Schulrat der Provinz bestätigt werden, und
zwar wird der Vertrag, wenn nicht eine besondere Zeit festgesetzt
wird, auf drei Jahre geschlossen; dann kann die Gemeinde den
Lehrer ohne Angabe der Gründe entlassen. Sein Gehalt bewegt
sich zwischen fünfhundert und zwölf hundert Lire!
Der Elementarunterricht ist pflichtmäßig und unentgeltlich,
vom sechsten bis zwölften Jahre und den Eltern drohen Strafen,
wenn sie die Kinder nicht zur Schule schicken. Diese Bestim-
mungen sind indessen völlig wertlos; das Gesetz gibt nicht ein-
mal an, wer die Strafe zu verhängen habe, wie es angewandt
— I«« —
werden soll, usw. Man bildete sich ein, es genüge, die Mittel des
Unterrichtes zu bieten und jeder werde freudig darnach greifen.
Von diesem Irrtum ist man nun freilich so ziemlich zurück-
gekommen, wirklichen pflichtmäßigen Unterricht hat man aber
auch bei den letzten Verhandlungen im Parlament, im April 1874,
nicht durchzusetzen vermocht. Es kommen noch immer nur
6,06 Schüler auf hundert Einwohner und man kann sagen, daß
sich nur ^/^ der schulpflichtigen Kinder einschreiben lassen, und
auch deren Schulbesuch ist ein mangelhafter. In Sizilien kommen
sogar auf hundert Einwohner nur zwei Schulkinder, und die
meisten besuchen die Schule nur im Winter.
So begreift sich denn auch das Verhältnis derer, die nicht
lesen und nicht schreiben können (Analfabeti). Die Zählung von
1861 ergab deren für ganz Italien 78, 29^^, für Sizilien 90,13^0,
die von 1871 für Italien 73,27 7q, für Sizilien 87,22^/0; sie haben
sich also in zehn Jahren in Italien nur um 5,02 y^, in Sizilien
nur um 2,9 1°/^ vermindert, was also von keinem sonderlichen
Fortschritt zeugt. ^) Noch geringer wird derselbe, wenn man die
einzelnen Provinzen und Städte betrachtet. So steht z, B. die
Provinz Caltanisetta (die der großen Güter mit Getreidebau und
der Schwefelminen) mit 91,67 "/j, Analfabeti der Provinz Palermo
mit 80,35%, der Bezirk Caltanisetta gar mit 91,70^0 dem von
Palermo mit 73,71^0 gegenüber. Unter 95224 Einwohnern eines
Bezirkes im Innern der Insel finden sich also etwa nur 7900,
die eine Art von Schulbildung genossen haben, darunter die Be-
wohner einer Provinzhauptstadt von 26 000 Einwohnern, dem Sitz
aller Regierungsbehörden, eines Lyzeums, eines Gymnasiums,
einer Real- und einer Minenschule! Dem entspricht natürlich
auch die Verbrecherstatistik, die in der Provinz Caltanisetta mit
einem Jahresmittel von 32,38 Morden, Mordanfällen usw. auf
10 000 Einwohner, alle Provinzen Siziliens weit hinter sich läßt.
Es ist entschieden höchst bedauerlich, den Elementarunter-
richt in SiziUen somit fast lediglich dem Gutdünken der Ge-
meindevertretungen überlassen zu sehen. Wo Einsicht und guter
Wille fehlte, ist fast nichts geschehen, und selbst da, wo beide
l) Da seit 1871 keine statistische Aufnahme der Analfabeti mehr vor-
genommen worden ist, so führe ich zum Vergleich an, daß von lOO ins Heer
eingereihten jungen Männern 1861 Analfabeti waren 64 7o> 1896: 36,657^0.
— 189 —
vorhanden waren, bleibt noch unendlich viel zu tun übrig. Man
kann z. B. nicht genug anerkennen, welch ungeheure Opfer die
Stadt Palermo für Schaffung und Erhaltung von Volksschulen ge-
bracht hat. Es war hier geradezu alles erst zu schaffen. In
den vorhandenen sieben Volksschulen waren 1200 Schüler ein-
geschrieben, davon besuchten dieselben aber nur 679. Dies in
einer Stadt von damals 194000 Einwohnern! Die Stadt schuf
1861 — 1862 mit einem Male achtundzwanzig neue Schulen, für
die man aber die Lehrkräfte, zum Teil mit Benutzung der alten,
erst durch einen dreimonatigen Kursus vorbereiten mußte. So-
fort wuchs die Zahl der Schüler ganz ungeheuer; man schuf
jährlich neue Schulen und neue Klassen, und die 2076 Schüler
von 1861 — 1862, geteilt in sechzehn Tagesknabenschulen und
sechs Abendschulen, drei Mädchenschulen und drei Asyle für
Kinder, waren bis 1871 — 1872 auf 9023 gestiegen, die in
53 Tages- und ;^2 Abendknabenschulen, in 36 Mädchenschulen,
für Stadt und Vorstädte, und in 20 Tages- und 25 Abend-
knabenschulen, wie 2^ Mädchenschulen, für den Landbezirk,
sowie in zwei Abendschulen für erwachsene Handwerker, unter-
richtet wurden. Die Zahl der Schüler wird kaum seit 1872 noch
gestiegen sein, da sie schon seit 1865 fast stationär geblieben, nur
die der IMädchen noch etwas gewachsen war. Das Verhältnis
ist also für eine Bevölkerung von jetzt 225 000 noch immer ein
ziemlich ungünstiges, wenn auch die Summe von 400832 Lire,
die die Stadt 1871 — 1872 für öffentUchen Unterricht , wovon
265 258 für Volksschulen, ausgab, aller Ehren wert ist. Der
Unterricht lag in den Händen von 204 Lehrern und Lehrerinnen.
Ich habe mit Absicht die Zahl der ,, Schulen" im einzelnen
angeführt; dieselbe deutet nämlich schon auf einen unverzeihlichen
Mißstand. Von besonderen Schulhäusern nämlich ist für Volks-
schulen keine Rede, ich erinnere mich nicht, in ganz Sizilien ein
zu diesem Zwecke gebautes Haus gesehen zu haben. Und das
ist charakteristisch! Überall und besonders in Palermo sah ich
zu Schulräumen eingerichtet schmutzige, elende Häuser, meist
gemietet für billigen Preis, feuchte, dunkle Keller und Magazine,
kurz Räume, die der Gesundheit der Schüler schädlich, dem
Unterricht, durch die Stadt verstreut, wie sie sind, hinderlich sein
müssen und überdies von besonderer Hochachtung der Sache
und des Lehrers nicht gerade zeug-en. Für Schulbauten hat man
— igo —
natürlich kein Geld ; handelt es sich aber um Theater, so ist es
in Masse vorhanden. Ein Schulhaus sah ich nirgends, ein Schau-
spielhaus, fast immer das schönste Gebäude der Stadt, fand ich
selbst im elendesten Neste. In Syrakus und Catania sah ich
mächtige Theaterbaue emporwachsen, wie sie in Deutschland nur
die größten Städte aufweisen, und in Palermo selbst hat man zu
fünf vorhandenen Theatern eben ein neues Politeama für mehr
als drei Millionen Lire vollendet , bereits aber schon wieder den
Grundstein zu einem noch größeren und noch kostspieKgeren,
größten Theater gelegt. Dem entspricht denn vollständig, daß
ich, um nur ein Beispiel anzuführen, einen höchst intelligenten
zehnjährigen Gymnasiasten, den Sohn eines hohen Beamten,
kennen lernte, der von einem Dutzend Opern Text und Musik
auswendig wußte, alle Opernhäuser Italiens wie die Opernsänger
kannte und letztere sogar nachzuahmen verstand, von den aller-
elementarsten Dingen in bezug auf Geschichte und Geographie
seines Heimatlandes aber ganz und gar nichts wußte. Ebenso
sind mir reiche Handelsherren vorgekommen, die Hunderttausende
besaßen, aber nicht lesen und schreiben konnten und in aller
Unschuld fragten, ob Frankreich in Paris oder Paris in Frank-
reich liege. All dies ist bezeichnend.
Besser, man möchte fast sagen zu gut, steht es mit dem
mittleren Unterricht, für den Regierung wie Gemeinden in edlem
Wetteifer gesorgt haben. Man zählt in Sizilien auf eine Bevölke-
rung von jetzt nicht ganz 2 700 000 acht Lyzeen (Gymnasien),
32 Gymnasien (Progymnasien), 2^ technische Schulen, neben einer
Minen- und mehreren nautischen Schulen, die von je 403, 1574
und 1383 Schülern besucht werden, ohne die der städtischen
Gymnasien und technischen Schulen. Die meisten dieser Schulen
sind neu errichtet und die Schülerzahl hat sich in den zehn
Jahren von 1861 — 1871 in den Gymnasien nahezu verdreifacht,
in den technischen Schulen vervierzehnfacht. Letzteres ist be-
sonders erfreulich in einem Lande, wo in bezug auf Bergbau,
Ackerbau, Gewerbtätigkeit usw. geradezu noch alles zu tun ist.
Die Zahl derer, die sich zu gelehrten Studien, wenigstens Juris-
prudenz und Medizin drängen, ist noch immer verhältnismäßig zu
groß, wenn es auch nicht geradezu zu einem nationalen Unglück
wird wie in Griechenland. Namentlich die Zahl der Advokaten
ist unverhältnismäßig groß und leider verstehen sich nicht alle,
— igi —
die ohne Beschäftigung bleiben, zu einer anderweitigen Tätigkeit.
Viele sind Lehrer der Geschichte, der Naturwissenschaften u, dgl.
an den Lyzeen und Gymnasien, nicht wenige sind sogar an den
Universitäten, als mit einem leidlichen Nebengeschäft, mit Vor-
lesungen betraut, die natürlich mit ihrer Advokatur durchaus
nichts gemein haben. Nicht selten fand ich auch, daß selbst
in den höheren Klassen ein einziger Lehrer in allen möglichen
Fächern unterrichtete.
Es bleibt also auf dem Gebiete des Unterrichtes, besonders
des elementaren, noch unendhch viel zu tun, und man darf von
einer allgemeinen Verbreitung von Schulkenntnissen bei einem so
außerordentlich begabten Volke, wie das sizilianische, nicht bloß
in bezug auf Hebung der Moral und der sittlichen Begriffe, die
durch die lange sittenlose Gewaltherrschaft in traurige Verwirrung
haben geraten müssen, auf schöne Erfolge hoffen, sondern auch
in wirtschaftlichen Dingen und im Ackerbau, die bis jetzt durch
klägliche Unwissenheit und geistige Trägheit nicht vorwärts
kommen.
Als die Hauptquelle endlich der traurigen Lage Siziliens
haben wir außer den später zu berührenden gesellschaftlichen
Zuständen die ungleiche Verteilung des Besitzes zu bezeichnen.
Es scheint der Fluch dieses herrlichen Landes zu sein, daß, seit
die Karthager, und zum Teil schon die Griechen, in noch höhe-
rem ]\Iaße die Römer landwirtschaftliche Großbetriebe hier ein-
führten, sich die IMassen seiner Bewohner als besitzlose Sklaven
im Dienste einer kleinen Zahl von Herren abmühen müssen.
Welche Schicksale die Insel immer gehabt, von welcher Seite ihr
immer die Herren gekommen, darin ist nichts geändert worden;
kaum daß unter den Arabern ein Anfang dazu gemacht wurde,
so wurde durch das Feudalsystem der Normannen diese Un-
gleichheit größer denn je. Bis vor kurzem bestand jenes recht-
lich fort und tatsächlich besteht es noch heute; und noch heute
ist die Lage eines großen Teiles des sizilischen Volkes die von
Sklaven, wenn nicht schlimmer. Es hängt das eng zusammen
mit der Beschaffenheit von Grund und Boden und dem Bildungs-
stand der Bewohner. Solange es nicht gelingt, letzteren zu
heben, wirtschaftliche Kermtnisse zu verbreiten, so lange wird es
unmöglich sein die Hindernisse, die Bodenbeschaffenheit und
Natur eines großen Teiles der Insel einer Erhebung der Bevölke-
— 192 —
rung entgegensetzen, zu beseitigen, so lange werden alle Ver-
suche auf künstlichem Wege eine Teilung des Grundbesitzes
durchzuführen, ohne durchschlagenden und dauernden Erfolg sein.
Es gibt noch heute in Sizilien eigentlich nur zwei Klassen von
Bewohnern, reiche und bettelarme, von der Hand in den Mund
lebende. Ein Mittelstand aus den Beamten, Handel- und Ge-
werbetreibenden, wie aus kleineren Grundbesitzern bestehend,
fängt erst an sich zu bilden und gelangt bereits hier und da zu
Kraft und Ansehen: auf ihm ruht die Hoffnung des Landes, wie
die Klasse der Reichen, hier fast noch ganz mit dem Adel
gleichbedeutend, den Fluch desselben bildet. Von dieser Kaste
später.
Sizilien ist fast durchaus ein Ackerbau treibendes Land und
der Getreidebau, eng mit dem Bestehen großer Güter verbunden,
überwiegt noch immer bei weitem über Baumzucht und Weinbau,
so große Fortschritte beide auch jährlich mit der sich bahn-
brechenden Zerteilung des Grundbesitzes, der Belebung des Han-
dels und der Schaffung von Verkehrswegen machen. Von den
2399319 Hektaren angebauter Bodenfläche Siziliens dienten
1870 I 908 170 dem Ackerbau und, damit abwechselnd, der
Viehweide ; hat sich dies nun seitdem auch zu gunsten der Baum-
zucht geändert, so gehört doch immer noch ^j^ des ganzen Lan-
des dem Getreidebau, der freilich in einer Weise betrieben wird,
die für einen Nordländer fast unfaßbar ist. Man bezeichnete die
dies Jahr zu erwartende Ernte als eine ziemlich günstige, und
doch stand der Weizen, den man fast ausschließlich baut, im
Mai, kurz vor der Ernte, allenthalben so schlecht, daß man ihn
wohl selbst in der Mark Brandenburg als mittelkräftig bezeichnet
haben würde. Es wäre aber wunderbar, wenn es anders wäre.
Es ist hier nicht am Platze zu sprechen von dem völlig veralteten
System der Fruchtfolge, noch von der Art der Bearbeitung des
Bodens mit der Hacke oder dem klassischen Pfluge, der noch
immer wie vor Jahrtausenden aus einem langen Balken besteht,
der vorn an das Joch der Zugtiere befestigt wird, und an dem
sich hinten in spitzem Winkel eine hölzerne, spitzlaufende und
mit Eisen bekleidete sogenannte Pflugschar ansetzt, die ganze
kostbare Maschine durch eine Handhabe gelenkt. Dünger ist
eine meist unbekannte Sache, dennoch trägt der so aufgewühlte
Boden noch immer, dank seinen Kalkbestandteilen; die Sichel
— 193 —
ist noch immer die einzige Mäh-, der Ochse die Drasch-, der
Wind die Reinigungsmaschine. Es genügt schon, auf das herr-
schende Pachtsystem hinzuweisen, um die Unmöglichkeit des
Fortschrittes zu begreifen. Kleine oder mittlere Güter gibt es,
wie schon berührt, nur in der Nähe größerer Städte und in ein-
zelnen dann sofort durch den völlig verschiedenen Anblick des
Landes und seiner Bewohner erkennbaren Strichen, die große
Masse von Grund und Boden gehört aber einer beschränkten
Zahl von Großgrundbesitzern, Allein die Güter der toten Hand
betrugen Yg der Insel, und mit ihrer Zerschlagung hat man, wenn
auch nicht so viel, so doch etwas erreicht. Es sind nämlich diese
Kirchengüter bei ihrem allmählichen Verkauf in die Hände von
gegen 20000 Privatleuten gekommen, was an und für sich ein
recht schönes Resultat sein würde, bei näherer Untersuchung
aber viel von seinem Werte verliert. Nicht selten nämlich sind
zehn, ja zwanzig der im Durchschnitt zehn Hektar betragenden
Lose in die Hände eines Spekulanten gefallen oder waren von
den Großgrundbesitzern zur Abrundung und Vergrößerung ihrer
Latifundien benützt worden. Die Zahl derer, die ohne Grund-
besitz gewesen und dadurch solchen erlangt haben, ist sehr ge-
ring, viele kleine Bauern, die einen Teil oder die ganze Kauf-
summe hatten leihen müssen, gegen Wucherzinsen natürlich, da
die Kreditverhältnisse Siziliens sehr übel bestellt sind, sahen sich
bald außerstande, sowohl jene zu zahlen, als das Gut ohne Geld
zu bewirtschaften; sie mußten es bald wieder veräußern und man
versicherte mir in verschiedenen Gegenden, daß die Bildung von
Großgrundbesitz nur neue Nahrung erhalten habe. Etwas ist in-
dessen doch erreicht worden; wo wirkUcher Kleinbesitz sich ge-
bildet hat, sieht man auch schon die wohltätigen Folgen, Län-
dereien, die nie bebaut waren, werden angebaut, Wasser, das
unbenutzt ins Meer lief oder die Gegend verpestende Sümpfe
bildete, wird zur Bewässerung verwandt, Baumpflanzungen, Wein-
gärten, Sumachfelder grünen, wo vorher kaum dürftige Herden
ihre Nahrung gefunden. Selbst da, wo keine Zerschlagung, son-
dern nur ein Besitz Wechsel stattgefunden hat, zeigen sich noch
Vorteile, denn selbst in den Händen eines adeligen Herrn ist
der Ertrag erfahrungsmäßig größer als in denen der Kirche,
Leider aber sind jene glücklichen Striche, wo solche wohltuende
Erscheinungen zutage treten, noch immer dünn gesäet und der
Fischer, Mittelmeerbilder. I3
- 194 —
Zeitpunkt ist noch recht fem, wo der größere Teil von Sizilien
einzelnen Gegenden der Nord- und Ostküste oder der Grafschaft
Modica gleicht, wo durch alte Vorrechte und besonders günstige
Umstände eine ziemliche Zerteilung des Besitzes stattgefunden
hat. Da gleicht die ganze Gegend einem herrlichen Garten,
Hügel und Tal sind bedeckt mit Öl- und Mandelbäumen, zwi-
schen denen sich hier in koUossalem Wüchse der Johannisbrotbaum
erhebt, die Rebe bedeckt weite Flächen und der Duft ihrer
Blüten vereint mit denen der Orangen und Zitronen in geschützter
wasserreicher Talmulde, hüllt anfangs Mai die ganze Gegend in
würzigen Wohlgeruch. Saubere Städte mit schönen, reingehaltenen
Straßen und großen Häusern erheben sich in dem Walde von
Obstbäumen. Man sieht von fern, daß hier allenthalben Wohl-
stand und Zufriedenheit herrschen, das Aussehen und das Ver-
halten der Bewohner bestätigt es; nichts von jenen traurigen, von
Hunger und Krankheit verzehrten Gestalten, die in den Gebieten
des Schwefelbergbaues das Mitleid des Reisenden anrufen, nichts
von jenen magern, aufgeschundenen und mit Wunden bedeckten
Maultieren, Pferden und Eseln, die gerade so viel Futter und Pflege
erhalten, daß sie knapp am Verhungern vorbeikommen; der
Mensch, der selbst menschlich leben kann, wird auch sein Vieh
menschlich behandeln, Jener Zug der Grausamkeit, der infolge
des nicht menschenwürdigen Daseins, das Jahrhunderte lang ein
großer Teil des sizilischen Volkes geführt hat, unleugbar sich
seinem Charakter aufgeprägt hat, er tritt hier nicht hervor. Von
Räuberwesen kann natürlich in solchen Gegenden nicht die Rede
sein. Bleibt schließhch auch hier noch viel zu tun übrig, ehe
sich der Anbau des Bodens, wie die Schul- und sonstige Bildung
der Bewohner auf die Höhe der nordischen Völker erhebt, so
muß man doch beim Hinblick auf dieses Ergebnis einer ver-
hältnismäßig kurzen Zeit Sizilien und den Sizilianern eine schöne
Zukunft voraussagen.
Bis jetzt freilich sind die eben geschilderten Striche fast nur
wie Oasen in der Wüste und der bei weitem größere Teil der
Insel steht in traurigem Gegensatze zu ihnen. Nur noch zwei-
mal sind mir solche Gegensätze entgegentreten. Einmal an der
türkisch-serbischen Grenze: hier, unter türkischer Wirtschaft, ich
finde keinen bezeichenderen Ausdruck, einem Hottentottenkral
gleichende, elende Dörfer, schlecht bestellte Felder, voll Dornen
— 195 —
und Unkraut, kein Obstbaum, kein Gemüsegärtchen, wohl aber
verwüstete Wälder. Dort ein freundliches Dörfchen, dessen weiße
Giebel aus einem Walde von Obstbäumen hervorblicken, gut be-
stellte Felder, fröhliche Kinderscharen, tätige Menschen, die, auf
so tiefer Stufe der Kultur sie auch noch stehen mögen, doch
gewaltige Fortschritte gemacht haben in der kurzen Zeit, daß sie
eine Herrschaft abgeschüttelt haben, deren Nochbestehen in
Europa jedem Europäer, der sie aus eigner Anschauung kennen
gelernt, die Schamröte ins Gesicht treiben muß. Und doch ist
es hüben wie drüben derselbe Stamm, dieselbe Sprache!^)
Ein andermal traf mich jener Gegensatz leider nicht in
fernen Ländern, sondern in allzugroßer Nähe, im Herzen unseres
Vaterlandes, in der bayrischen Oberpfalz. Dort, am Südfuß des
Fichtelgebirges, liegen katholische und protestantische Dörfer
untereinander: erstere ein Haufen Holzhäuser, oft nur Hütten,
unregelmäßig hingestreut, man weiß nicht warum gerade an dieser
Stelle; Misthaufen wechseln mit den Häusern, in denen Vieh und
Menschen in traulicher Eintracht zusammenleben. Kein Garten,
keine Obstbäume, höchstens wilde Kirsch- und Birnbäume stehen
hier und da umher und einer stiehlt dem andern bei nächtlicher
Weile die dürftigen Früchte. Die Unmasse der treulich gehalte-
nen Feiertage, eine Land und Leute verderbende Pest, wie ich
sie in Sizilien nicht so arg gefunden habe, pflegt Aberglauben,
Trägheit und Unsittlichkeit: der würdige Seelsorger, weit entfernt,
durch höhere Bildung und guten Wandel seine Gemeinde zu
sich emporzuheben, weiht die Zeit, die von Amtspflichten frei
bleibt, meist dem Essen, Schlafen und vor allem dem Trinken;
die Vorschrift, die „heilige" Messe nüchtern zu lesen, erfüllt er
treu, indem er nach Mitternacht vom Bier zum Schnaps über-
geht. Eine halbe Stunde davon liegt ein protestantisches Dorf,
ehemals bayreuthisch, ein Wald von Obstgärten umgibt es und
der Gegensatz zu jenem andern ist ebensogroß, wie er zwischen
den meisten deutschen Dörfern, die jeder kennt, und dem ge-
schilderten sein muß.^)
1) Meine Anschauung über den Fortbestand der türkischen Herrschaft
sind jetzt wesentlich andere.
2) Beobachtungen aus dem Ende der 60 er Jahre. Möchte die Schilde-
rung doch den heutigen Zuständen auch nicht entfernt mehr entsprechen!
13*
— 196 —
Ähnlich also in Sizilien. Dort kann man in den Gegenden
der Latifundien oft stundenlang reiten, Hügel auf, Hügel ab, ohne
einen Baum oder ein Haus oder einen Ort zu erblicken, nichts
als schlecht bestellte Weizenfelder, mit Brache und Weideland
wechselnd, soweit man sehen kann, im Juni schon das Ganze
einer verbrannten Steppe gleichend. Die Orte liegen weit aus-
einander und sind der Bevölkerung nach alle ansehnliche
Städte. Dörfer, Weiler und einzelne Häuser gibt es in Sizilien
fast gar nicht. Nur bei Palermo und Milazzo, an der Ostküste
zwischen Messina und Catania und dann bei Trapani und um
den Eryx, Monte San Giuliano, herum gibt es deren. Dort prägt
sich nämlich eine eigentümliche Wanderung, die auch schon
anderwärts in Sizilien, wo die öffentliche Sicherheit es erlaubt,
Straßen und Eisenbahnen dazu einladen, bemerkbar ist, am deut-
lichsten aus. Der alte Eryx, die Hälfte des Jahres auf seiner
unzugänglichen Höhe in Dunst und Nebel gehüllt oder von Win-
den umtost, hat in unserer Zeit die Bedeutung, die er im Alter-
tum und Mittelalter hatte, längst verloren: Monte San Giuliano
gleicht heute einer toten Stadt, einem lebendigen Pompeji, auch
nach Bauart, Anlage der Häuser und Straßen. Alle Türen sind
geschlossen, kein Volkstreiben, wie sonst in den Städten des
Südens, nur verhüllte, der Sage nach schöne, Frauen und Priester,
nicht bloß in der Tracht einander nahestehend, huschen aus den
Häusern durch die Stille der engen Gassen der nächsten Kirche
zu. Die Masse der Bevölkerung, besonders die männliche, ist
tief unten in der lachenden Landschaft auf den Feldern tätig
und steigt spät am Abend oder erst am Sonntag zur luftigen
Höhe der Venus hinauf. Viele tun aber auch das nicht mehr,
sie haben sich inmitten ihrer Felder angesiedelt, weithin schim-
mern die weißen Häuser aus dem Gefilde herauf, bald vereinzelt,
bald sich schon zu Dörfern gruppierend. Immer mehr steigen
hinab und bald wird der Eryx mit seinen zahlreichen Kirchen nur
noch eine Kultstätte sein. Ein ähnlicher Vorgang wird auch im
Osten bald beginnen; schon dringt die Eisenbahn von Catania
her durch die östliche Pforte des inneren Hochsizilien zwischen
den mächtigen Pfeilern, auf denen Castrogiovanni und Calasci-
betta liegen, hinein: einem Magneten gleich wird sie nach und
nach die wie Adlernester auf hohe Bergkegel gebauten Städte
Castrogiovanni, Calascibetta und Asaro zu sich herabziehen, andere
— 197 —
dieser Felsennester werden ihnen folgen und sich im Tale auf
Hügeln, die der kühlende Seewind gerade so gut erreicht, in
kleine Ansiedelungen verstreut niederlassen.
Im Augenblick freilich ist man von einer solchen allgemeinen,
einen folgen- und segensreichen Kulturumschwung und -aufschwung
in sich schließenden Wanderung noch sehr weit entfernt. Die
2700000 Einwohner Siziliens, auf einem Flächenraum von
29 241 qkm^), bilden nur 360 Gemeinden und daran haben wieder-
um die sogenannten 116 städtischen Gemeinden, d. h. diejenigen,
die einen Mittelpunkt von 6000 und mehr Einwohnern haben,
eine Bevölkerung von i 840000. Aber auch der Rest, die so-
genannten ländlichen Gemeinden bestehen meist aus Orten von
gegen 2000 Einwohnern. In dem Bezirk von Aci Reale, auf der
Ostküste, wo die Bevölkerung wohl am meisten auf das Land
verteilt, dabei außerordentlich dicht ist, kommen von 11582g
Einwohnern immer nur 20221 auf das Land, während anderer-
seits in den Provinzen von Trapani und Caltanisetta die Bevölke-
rungen von 236388 und 230066 in 18, bezüglich 28 Gemeinden
und je ^2 (ungefähr, ich habe eine Generalstabskarte augenblicklich
nicht zur Hand, ein Irrtum kann aber nur gering sein) bewohnte
Orte verteilt sind. Es kommen also auf einen bewohnten Ort un-
gefähr 7387, bezüglich 7190 Einwohner, während die größten
Städte Marsala nur 34 202 und Caltanisetta 26 156 Einwohner haben.
In diesen Provinzen findet sich also auf ungefähr 130 qkm erst
ein bewohnter Ort! Dabei kommen im Durchschnitt auf der
ganzen Insel 88 Menschen auf den Quadratkilometer, etwa doppelt
so viel wie in Pommern!^) Kann man den Zustand der Land-
wirtschaft in einem ackerbautreibenden Lande besser charakteri-
sieren als durch diese Zahlen? Aus ihnen liest man auch schon
den Zustand der Landbevölkerung heraus. Die große Masse
derselben, also die Bevölkerung der meisten dieser Landstädte,
von den wenigen Handwerkern abgesehen, besteht aus ländlichen
1) Die neueren genaueren Ausmessungen geben nur 25 740 qkm und
nach der Zählung von 1901 3 530 000 Einwohner.
2) Von den 312 000 Einwohnern, welche die Provinz Girgenti 1881
zählte, wohnten nur 4000 nicht in großen geschlossenen Ortschaften, meist
in den Schwefelbergwerken. Auf der ganzen Insel gab es 188 1 nur 679
bewohnte Orte, von denen nur 48 unter lOO, jeder im Mittel 3934 Ein-
wohner zählte!
— igS —
Arbeitern und kleinen Pächtern, die sich allesamt für einen Speku-
lanten oder einen adeligen Herrn, den sie nie gesehen, abmühen.
Bei der großen Entfernung der Orte verliert der Arbeiter täglich
die besten Stunden mit dem Wege von und zur Arbeit; sind die
Felder noch entfernter, so kehrt er nur noch Sonntags oder nur
nach der Bestellung und nach der Ernte heim, ist er Hirt, so lebt
er das ganze Jahr fern von bewohnten Orten. Beide, Landbauer
wie Hirt, überlassen für lange Zeit Frau und Kind dem Nichtstun
und den Gefahren der Stadt, sie selbst leben mit dem Vieh und
wie das Vieh in offenem Felde, oft dreißig bis vierzig Kilometer
von den Ihrigen, ohne einen Menschen zu sehen, der ihnen wohl
will, der sie erheitert und erfrischt, ohne Obdach im Sommer
der glühenden Sonne, im Winter Sturm und Regen ausgesetzt,
oft in fieberschwangeren Gegenden. Der Mann haßt die Arbeit,
die ihn kaum nährt, das Feld, das er mit seinem Schweiße
düngt, er wird, roh und ohne jedwede Bildung aufgewachsen,
grausam; als bezahlter Knecht und Pächter und bei der Unmög-
lichkeit, auch mit saurem Schweiße einmal ein Stück Land sein
zu nennen; ohne von dem Ertrage mit genießen zu können, haßt
er den Besitz und den Besitzer, auf Straflosigkeit darf er, un-
bewacht, wie er draußen ist, hoffen, er greift nach dem Gute des
Nächsten, er wird ein Räuber. Daher die vielen Gewalttaten,
die Brandlegungen und Viehdiebstähle. Der Landmann, mit
seiner Familie vereint, auf seinem Besitz lebend, wird bald die
Arbeit und Sicherheit lieben.
Nach dem noch jetzt fast durchaus herrschenden Wirtschafts-
system sind die großen Landbesitzungen allgemein in kleinen
Stücken auf ein, zwei, drei Jahre unter verschiedenen Bedingungen,
je nach der Zahl der Bewerber und dem Werte des Landes
verpachtet. Selbst zu bewirtschaften im großen fehlt es an Ka-
pital und Neigung, da jeder möglichst viel und immer mehr als
sein Vermögen erlaubt in Besitz nehmen will. Häufig treten
auch Spekulanten ein und pachten im großen, um es dann im
einzelnen wieder abzugeben und mehr herauszuschlagen. Viele
füllen sich dabei den Beutel, freilich auf Kosten des Landes und
der Bauern, die beide ausgesogen werden. Der Pacht wird fast
immer in einem Teile des Ertrages gezahlt, was dem Bauer zu-
erst ganz vorteilhaft erscheint, so nachteilig es auch ist. Man
berechnet für Sizilien den Ertrag jetzt im höchsten Falle auf das
— 199 —
achtzehnfache, im niedrigsten auf das vierfache, also im Mittel
auf das elffache, während nach der jetzigen Pachthöhe das Mittel
das fünfzehnfache betragen müßte, wenn der Bauer davon leben soll.
Er erhält sich und die Seinen daher nur mit Mühe und Not
durch Nebenarbeiten und kann seine dringendsten Bedürfnisse
nicht befriedigen. Daher der elende Zustand und die tiefe Ver-
stimmung dieser Klassen. Auch bei verschiedenen anderen Pacht-
systemen ist das Ergebnis das gleiche, der Besitzer oder seine
Aufseher sind immer im Vorteil und erfinderisch, dem Bauer alle
Lasten aufzuwalzen; Grund und Boden kommt bei solcher Raub-
wirtschaft natürlich immer mehr herunter, da niemand an Ver-
bessern und Düngen denkt; von zwanzig und sechzehnfachem Er-
trage ist es schon hier und da auf vierfachen gesunken. Wenn
ja einmal ein Pächter etwas für sein Land tut und gute Ernten
erzielt, so kann er bei der für ein solches System noch immer
zu dichten Bevölkerung, auf zahllose Mitbewerber rechnen und fast
sicher sein, daß er ein zweites Mal die Pachtung nicht erhält.
Es sind aber diese Zustände eine Folge des Feudalsystems,
das auch diese eigentümliche Anhäufung der Bevölkerung auf
einzelnen Punkten künstlich geschaffen hat. Im Interesse der
Feudalherren des i6. und 17. Jahrhunderts lag es nämlich, große
Güter zusammenzulegen und ihre einfachen Lehen in Lehen mit
Vasallen umzuschaffen, von denen sie höhere Titel, größere
Rechte und Einnahmen hatten. Durch Gewährung von Vorteilen,
Erteilung von Land unter mäßigen Bedingungen, im schlimmsten
Falle auch durch andere Mittel zogen sie von ihren und den
benachbarten Besitzungen die Bewohner zu einer großen Baronie
zusammen. Auf diese Weise sind im 16. Jahrhundert nachweis-
bar 24, im 17. 60 der jetzt bestehenden sizilischen Städte ge-
gründet worden, namentlich die im Innern und nach Südosten
hin. Den meisten sieht man diese Entstehung auch an, sie sind
gerade und regelmäßig angelegt, ohne alte Stadtteile, die sich
nur in den wenigen älteren und den Seestädten finden, meist
einstöckige kleine Häuser; d. h. ein Dach und vier Wände und
die Türe zugleich auch als Fenster dienend.
Wie man nun die ackerbautreibende Bevölkerung, das heißt
eben die überwiegende Mehrzahl des sizihschen Volkes, von
diesem noch fortdauernden Fluche des Feudalsystems befreien,
wie man dieselbe wirtschaftlich und sittlich emporheben soll, das
— 200 —
ist eine sehr schwer zu lösende Frage. Selbst durch Acker-
gesetze, wenn jeraand bei den italienischen Geldverhältnissen an
solche denken könnte, würde man wenig erreichen, solange der
Bauer sich nicht Schul- und wirtschaftliche Kenntnisse angeeignet
und wieder moralischen Halt erlangt hat. Das wird ihn das
Leben von einer besseren Seite anschauen und an die Zukunft
denken machen; er wird nicht wie bisher, was bei der Bevölke-
rung der Schwefeldistrikte noch übler hervortritt, bei einer guten
Ernte mit mehr als südländischem Leichtsinn darauflos leben,
um vielleicht im nächsten Frühjahr, bei lang hinausgezogenem
Winter und Mißraten der Bohnen, zu darben. Ein unerläßliches
Element aber von größter Bedeutung fehlt dem sizilischen Land-
manne, um ihn wirtschaftlich vorwärts zu bringen: das Vorbild.
Und dies hängt zusammen mit dem Nochbestehen einer dem
Staate und den Mitbürgern in keiner Weise dienenden, deshalb
gemeinschädlichen Kaste des sizihschen Adels. Wie die mensch-
lichen Dinge beschaffen sind, wird es wohl nie an einer Aristo-
kratie fehlen, und ein auf Geburt und ererbtem Grundbesitz be-
ruhender Adel wird noch bei weitem die beste sein; jeder aber,
welcher Nation er immer angehören mag, der einen Funken von
staatsbürgerlichem Sinn und ein Herz für die Menschheit hat,
muß den sizilischen Adel als solchen von Herzen hassen. Gewiß
zählt derselbe in seinen Reihen um ihr Volk hochverdiente Män-
ner; wer nennt nicht die Namen Torremuzza, Castelnuovo, Ser-
radifalco mit Hochachtung und Verehrung? Sie gehören aber
einerseits der Vergangenheit an, andererseits wäre es wunderbar,
wenn eine so zahlreiche Gesellschaft nicht stets und auch jetzt
noch eine Zahl verdienter und jeder Hochachtung werter INIänner,
wie ich deren kennen gelernt habe, aufzuweisen hätte. Nach
einer mir vorliegenden, nicht mehr ganz neuen Zusammenstellung,
die aber nach meinen Beobachtungen eher noch unter der Wahr-
heit bleibt, gibt es in Sizilien nicht weniger als 120 Fürsten,
82 Herzöge, 124 Markgrafen, 28 Grafen, 356 Barone und era
ganzes Heer von Sprößlingen derselben, die sich alle zum Adel
rechnen. Zu diesen kamen dann noch vor Aufhebung des
Feudalsystems 66 geistliche Würdenträger. All diese schön be-
titelten Herren leben nun, mit wenigen Ausnahmen, in den
großen Städten, vorzugsweise Palermo und Catania und haben
noch immer, trotz der Abschaffung der Feudalrechte, einen un-
— 20I —
geheuren Grundbesitz in Latifundien in Händen. Kastengeist,
Vergnügungssucht und zum Teil auch Einwirkung aus politischen
Gründen seitens der Vizekönige haben diese für das Land ver-
derbliche Auswanderung veranlaßt, die sich meist erst im vorigen
Jahrhundert vollzogen hat und besonders in der Napoleonischen
Zeit, wo der Hof und die üppige Königin Karoline, Maria There-
siens ungleiche Tochter, in Palermo weilte, seine traurigsten
Blüten getrieben hat. Die Folgen hegen auf der Hand: die
Besitzer der großen Güter überlassen dieselben Verwaltern, in
deren meist nicht redlichen Händen das Gut wie die auf das-
selbe zum Broterwerb angewiesene Bevölkerung leidet; der Ertrag
fließt, in Geld verwandelt, in die Hauptstadt und kehrt nicht
mehr in die Provinz zurück, dieselbe verarmt also täglich mehr;
der moraUsche Einfluß der Gutsherren, die doch meist eine
bessere Bildung genossen, auf die Landbevölkerung verschwand,
als dieselben seltener und seltener auf ihre Güter kamen, sie
selbst wurden derselben fremd, hatten kein Herz mehr für ihre
Lage, unbekümmert darum suchten sie möglichst viel aus der
Besitzung zu ziehen, sie drückten die armen Bauern; auch die
größeren Ausgaben, die der Luxus und das üppige Leben der
Hauptstadt verursachten, nötigten sie dazu. Auch die Landwirt-
schaft selbst litt durch die Abwesenheit der Herren, denn es gab
jetzt niemand mehr, der im Besitz höherer Bildung und vor allen
Dingen reicherer Mittel, sei es nach eigenen Plänen, sei es durch
Nachahmung dessen, was in anderen Ländern geschah, imstande
gewesen wäre, neue Systeme und neue Maschinen einzuführen,
Versuche mit neuen Kulturfrüchten oder dergleichen mehr an-
zustellen und so, wie es anderwärts geschieht, für eine ganze
Gegend fördernd zu wirken. Es läßt sich ziflFernmäßig nach-
weisen, wie gerade in den Landschaften, wo die größten Güter
abwesender Herren lagen, z. B. die der Erzbischöfe von Palermo
und Monreale in der Provinz Caltanisetta der Anbau und Ertrag
des Landes wie die Moral der Bevölkerung am tiefsten ge-
sunken ist.
Was taten nun die Herren in Palermo und Catania bzw. in
Neapel und Paris? Wie verhielten sie sich nach Verjagung der
Bourbonen, die auch sie zum großen Teil haßten? Traten sie
in Staatsdienst, sei es als Offiziere oder als Diplomaten oder als
politische und Verwaltungsbeamte? Nichts von alledem. Die
202
Finger genügen, um diejenigen sizilischen Adeligen aufzuzählen,
die irgendwie dem Staate dienen. Was tun sie also? Sie leben
ihrem Vergnügen, sie gehen ins Theater, machen Sängerinnen
und Tänzerinnen oder der Frau des lieben Nächsten den Hof,
kleiden sich an und aus, lassen sich die Haare kräuseln, machen
Besuche, fahren spazieren (reiten ist ihnen zu anstrengend) und
bringen die Nacht, wenn nicht wo anders, am Spieltische zu.
Die meisten sind ohne Bildung und geistigen Rückhalt, viele
sollen sogar völlig ohne Schulbildung sein, ernste Studien oder
auch nur bildende Bücher vermögen sie also nicht zu beschäftigen.
Französisch zu plappern, sogar lieber als die eigene Mutter-
sprache, sich mit einer angeborenen Grazie und Liebenswürdig-
keit in der Gesellschaft zu bewegen, das verstehen sie gründlich.
Ihre Eitelkeit ist ziemUch bedeutend. Viele Familien sind natür-
lich bei schlechter Wirtschaft verarmt — reich im Sinne anderer
Länder sind nur wenige — ihr Stolz erlaubt aber nicht das ein-
zugestehen. Sie bewohnen noch immer den großen Palast, der
ihren Namen trägt, von dem aber oft nur ein kleiner Teil und
nicht selten dürftig eingerichtet ist, sie empfangen deshalb keine
Besuche und geben keine Tischgesellschaften, aber Bediente
haben sie noch und Wagen und Pferde auch, sollten sie dafür
auch noch so dürftig leben müssen. Der Fremde darf sich
daher freilich nicht wundern, wenn er auf der öffentlichen nach-
mittägigen Spazierfahrt, an der jede Familie, die noch einen Rest
von Selbstachtung hat, unbedingt teilnehmen muß, neben einer
kleinen Zahl wirklich schöner Gespanne, eine Menge alter, aben-
teuerlicher Fuhrwerke mit Gäulen davor sieht, die selbst einem
Berliner Droschkenkutscher -zu schlecht wären. Ein Bedienter
sitzt dabei auf dem Bocke, der eigentlich in dem Augenblicke
in der Schule sitzen müßte und dessen Anzug entweder auf Zu-
wachs gemacht ist oder von dem etwas entwickelteren Vorgänger
herrührt.
Lassen wir indessen noch zwei Gewährsmännern in Schilde-
rung dieser Kaste das Wort, die beide Ansehen genug besitzen
und vor allen Dingen den sizilianischen Adel gründlich kannten.
Der eine ist der damalige Kapitän, später namentlich durch seine
Arbeiten über das Mittelmeer berühmt gewordene englische Ad-
miral Smyth, der jahrelang die englische Flottenabteilung in Sizi-
lien befehligte und 1824 ein Werk über Sizilien veröffentlicht
— 203 —
hat. Geändert hat sich seitdem nichts. Hier seine Charakteristik:
„Einige wenige von den Adeligen widmen sich den Staats-
geschäften und legen ziemlich viel Talent und Scharfsinn an den
Tag. Die Mehrzahl derselben jedoch hat infolge von mangel-
hafter Erziehung und ohne die Vorteile, die das Reisen bringt,
einen beschränkten Geist, der sie die Zerstreuung und die herz-
losen Vergnügungen der Hauptstadt landwirtschaftlichen, litera-
rischen oder wissenschaftlichen Bestrebungen vorziehen läßt. Weit
entfernt, sich der mannigfachen Schönheiten der sizilischen Land-
schaft zu erfreuen, sind ihre Landausflüge, die sogenannten
Villeggiaturen , auf einen ungefähr einmonatigen Landaufenthalt
im Frühling und im Herbst beschränkt, in geringer Entfernung
von den großen Städten, wo in der hergebrachten Weise mit
Besuche machen und empfangen, mit jenen eintönigen Zusammen-
künften, die man conversazioni nennt, und mit Spiel hingebracht
wird."
Noch gewichtiger, freilich noch härter und über die adeligen
Grundbesitzer hinausgreifend ist das Urteil eines vornehmen Sizi-
lianers selbst, des Fürsten von Castelbuono. In einer 1867 an
Michel Chevalier gerichteten Denkschrift über die Lage seines
engeren Vaterlandes sagt derselbe: „In den Schreibstuben der
Notare, in den Apotheken, in den zahlreichen Gesellschaftsräumen
im Erdgeschoß oder im zweiten Stock, in all diesen Tempeln
der Trägheit und der üblen Nachrede, die von denen besucht
werden, die nicht in die Kneipe gehen, beschäftigt man sich mit
nichts als mit Politik. Der ans Ruder kommende und der ge-
fallene Minister, die Linke und die Rechte, die Wighs und die
Tories, Napoleon und Frankreich, Bismarck und Deutschland,
Rußland und der Orient, das sind die beständig an der Tages-
ordnung befindlichen Fragen der geselligen Zusammenkünfte von
Palermo. Und wenn das Brot teuer ist, das Mehl fehlt, das
Schlachtvieh vom Markte verschwindet, wenn von der Vorsehung
gesegnete Landstriche wüst und verlassen sind, wenn der Kredit
mangelt, wenn es durchaus an Geld fehlt, so treibt all dies zu
nichts weiter als die Regierung zu verwünschen und zu verfluchen
und mit immer steigender Wärme die großen Ereignisse zu er-
örtern, die sich am politischen Horizonte erheben, wie man hier
zu Lande sagt." Und weiter unten: ,, Obwohl der beklagens-
werte Mißbrauch der Stiftungen der toten Hand in Sizilien, dank
— 204 — '
den letzten italienischen Gesetzen, abgeschafft ist, so ist doch
eine andere Art toter Hand, eine schreiende Verletzung des
Gesetzes, das dem INIenschen möglichst viel zu erzeugen befiehlt,
dort unglücklicherweise noch sehr häufig. In ihren von Wohl-
gerüchen durchdufteten Gemächern, die Pfeife in der Hand, ver-
achten die großen Grundbesitzer mit wenigen Ausnahmen jede
Art von Arbeit. Nie würden sie zustimmen, sich mit der Schande
zu bedecken, um Gelderwerb zu arbeiten. Nach ihrer Ansicht
ist die Arbeit nur das Erbe der Elenden. Sie haben Sekretäre
und Rechtsbeistände, die ihre Geschäfte führen, so gut es eben
gehen will. So sehr aber diese Könige im Nichtstun vor der
Arbeit erröten, so stolz sind sie auf den idealen Besitz ihrer
Landgüter, die sie gewöhnlich nie gesehen haben und die freie
Verfügung, deren sie sich nur für eine möglichst kurze Zeit ent-
äußern wollen. Nie würden sie einen Pachtvertrag auf längere Zeit
unterzeichnen, der den Pächter zu einer Verbesserung des Grund-
stücks veranlassen könnte. Demnach vermehrt der Besitzer selbst
die Erzeugungskraft der Maschine, die er in Händen hält, nicht
allein nicht, sondern er verweigert sogar (was noch schlimmer
ist), andern jedes Mittel es zu tun. Würde ihm übrigens sein
Rechtsbeistand Pachtverträge auf 25 und mehr Jahre zu schließen
raten? Könnten nicht die Unterpfänder für einen Vertrag von
solcher Dauer fehlen? Und dann, darf man sich die Hände
binden und auf die Vorteile eines möglichen Steigens der Pach-
tungen verzichten?"
In diesen kurzen Strichen deutet der Fürst ganz richtig auf
die Hauptfehler seiner Landsleute und besonders seiner Standes-
genossen hin und läßt auf das Leben und Treiben der ,, Gesell-
schaft" grelle, aber richtige Schlaglichter fallen.
3. Ansiedelung und Anbau in Apulien.
Apulien, eine der von Fremden am seltensten besuchten
Landschaften Italiens, ist doch eine der eigenartigsten und ge-
schichthch anziehendsten. Es ist eine große, nur ganz flache
Falten aufweisende Kalktafel des vormiozänen Appennin, mit
diesem erst wieder landfest verbunden, nachdem es wohl lange
Zeit eine Insel gewesen, durch eine in der Quartärzeit eingetretene
— 205 —
Hebung, welche den trennenden Meerann vom Golfe von Tarent
bis zur Bucht von Manfredonia schloß. Dieselbe nahm nicht
mehr teil an den letzten faltenden Bewegungen, welche die
großen Züge des Appenninreliefs schufen. Sie erscheint daher als
eine in appenninischer Südostrichtung 250 km weit langgestreckte,
im Mittel nur 50 km breite, sich nach Osten neigende einförmige
Tafel von geringer Höhe, die sich aber an der hohen Südwest-
seite über der ehemaligen mit pliozänen Schichten gefüllten Meer-
enge meist in einem Winkel von lo*^ um 100 — 200 m steil er-
hebt. Diesen innersten Gürtel einer 3 — 400 m hohen humus-
armen, entwaldeten und verkarsteten Kalkhochfläche pflegt man
mit dem Namen Murge zu bezeichnen und als Murge von Bari,
im Nordwesten, und Murge von Tarent zu unterscheiden. Der
höchste Punkt in ersterer, Torre Disperata genannt, erreicht
686 m. Das auch als Baudenkmal berühmte Castello del Monte,
ein gewaltiger Bau Kaiser Friedrichs IL, einst ein Jagdschloß
mitten im Walde, heute auf kahler Anhöhe auf weithin kahler
Hochfläche, liegt auch noch in 540 m Höhe. Eine breite und
flache Einsenkung, südlich der Linie Tarent-Brindisi, über welche
man, nur eine Höhe von 42 — 43 m erreichend, vom Golf von
Tarent an das Adriatische Meer gelangen kann, trennt von den
Murge die Serre, die eigentliche salentinische Halbinsel, den Ab-
satz des Stiefels von Italien. Längs des Adriatischen Meeres
verschwinden die Kreideschichten zum Teil unter einem schmalen,
auch nicht ganz ununterbrochenen, 10 — 26 km breiten Saume
pliozäner Schichten. Auch finden sich Pliozänschichten wie bei
Gravina di Puglia, Gioja del Colle, Canosa u. a. m. noch hier
und da diskordant über den Kreideschichten, so daß es scheinen
will, als sei die Kreidetafel einst in größerer Ausdehnung vom
Pliozän bedeckt gewesen und dieses später der Denudation er-
legen. Zum Teil bedingen diese inselförmigen Reste, wo sie wie
bei dem geradezu danach benannten Acquaviva delle Fonti aus
durchlässigen von undurchlässigen Tonschichten unterteuften Sau-
den bestehen, einen in dem wasserarmen Lande besonders wert-
vollen Wasserreichtum. Auch sonst sind diese pliozänen Reste
von großer Bedeutung. Die plastischen Tone des Pliozän, die
bei Ruvo auftreten, haben dort im Altertume eine bewunderns-
werte Blüte der Keramik herbeigeführt.
Die Wasserarmut ist der hervorstechendste Charakterzug Apu-
— ■ 2o6
liens, das schon Horaz, der es als sein Heimatland gut kannte,
siticulosa Apulia nennt. Sie beruht darauf, daß es fast durchaus
aus äußerst durchlässigem Kalkfels aufgebaut ist. Auf der un-
geheuren Strecke von der Mündung des Ofanto, der seine Ge-
wässer in den Appenninen sammelt, bis zum Vorgebirge Santa
Maria di Leuca mündet auch nicht ein dauernd fließender Fluß
oder Bach ins Meer, ja selbst eigentliche Talbildung fehlt auf
großen Flächen ganz. Nur dünn gesäet kommen ganz flache,
vorübergehend einmal Wasser führende Talfurchen vor, Lame,
Mene oder Fossi genannt. Seen fehlen ganz, wenn man von
den Küstenhaff'en und einigen wenigen hier und da einmal mit
Wasser gefüllten Karsttrichtern absieht. Die Oberfläche des
Landes ist also wenig gegliedert und überaus einförmig. Nur in
einzelnen Gegenden, wie in der Umgebung von Martano, Fasano
und Ostuni sind Dolinen, hier vore oder sore genannt, außer-
ordentlich häufig, aber auch hier meist klein, Pockennarben im
Antlitz der Erde vergleichbar. Auch an Quellen ist das Land
bei der Tafellagerung der durchlässigen Kalkschichten sehr arm.
Längs des Meeres treten solche hier und da zutage, aber ihr
Wasser ist brackig und kaum zum Bewässern zu brauchen. Auch
die Möglichkeit, durch Brunnenbohrungen Wasser zu gewinnen,
ist, wie zahlreiche und kostspielige Versuche beweisen, örtlich
beschränkt und nur da ist man erfolgreich gewesen, wo die insel-
förmigen Pliozänreste auftreten. Die Meteorwasser, welche die
hier an der Ostseite Italiens, im Wind- und Regenschatten der
Appenninen, auf einförmiger Fläche fallenden Niederschläge lie-
fern — sie kommen überdies wohl meist vom Adriatischen Meere
her, und erreichen wohl kaum 500 mm im Jahresmittel — , sind
gering und sinken auf dem porösen Gesteine rasch in unerreich-
bare Tiefen hinab, um wahrscheinlich auf dem Grunde des
Adriatischen Meeres wieder zutage zu treten. Ja, man hat hier
Sümpfe trocken gelegt, indem man dem an der Oberfläche stag-
nierenden und Malaria erzeugenden Wasser durch Bohrungen
einen Weg in die Tiefe eröffnete. Höhlen, vielfach als Schaf-
ställe benutzt, vom unterirdisch fließenden Wasser ausgewaschen,
sind sehr häufig.
Die Bevölkerung Apuliens ist daher ganz auf Zisternen an-
gewiesen und Trink- und Haushaltungswasser ist hier sehr kostbar.
Die ärmere Bevölkerung muß ihr Trinkwasser den öffentlichen
207 —
Zisternen entnehmen, die ihr Wasser und damit eine Fülle von gesund-
heitsschädlichen Stoffen von den auf den öffentlichen Plätzen und
Straßen fallenden Regen erhalten. Daher sind verheerende Typhus-
epideraien in den apulischen Städten häufig. Läßt man doch in Bari,
mit 7 5 ooo Einwohnern der größten Stadt Apuliens und einer reichen
Seehandelsstadt, Trinkwasser mit der Eisenbahn zu 2y,, ja 5 Cen-
tesimi das Liter von Neapel kommen, das es sich selbst erst durch
seine großartige Wasserleitung 40 km weit von Serino her aus
den Kalkmassen des Appennin verschafft hat. Es wird daher seit
langem der Plan erörtert, von jenseits der tyrrhenischen Wasser-
scheide die mächtige Quelle des in den Golf von Salemo mün-
denden Flusses Sele von Capo Sele in der Provinz Avellino
herüberzuleiten, ein Werk, das der Wasserversorgung der Rauhen
Alb zur Seite zu stellen wäre, nur noch großartiger. Aber es
würde immer nur Trinkwasser liefern, während künstUche Be-
rieselung so dringend wünschenswert wäre und so reichen Ertrag
geben würde, daß selbst der Preis von 8 Centesimi für i cbm
Rieselwasser getragen werden könnte. Vielleicht Avird ein großes
Stauwerk am Ofanto Abhilfe schaffen.
In diesem also in erster Linie geologisch bedingten Wasser-
mangel haben wir die eine natürliche Ursache der eigenartigen
Siedelungsverhältnisse ApuUens, der Anhäufung der Menschen an
wenigen Punkten, eben denen zu sehen, wo Wasser vorhanden
oder leicht zu beschaffen war.
Eine zweite natürUche Ursache ergibt sich ebenfalls aus dem
Aufbau des Landes aus Kalkfels. Dem entspricht eine geringe
Mächtigkeit der Verwitterungsschicht, da Kalkfels, je reiner er
ist, bei chemischer Auflösung um so weniger unlösbare tonige
Bestandteile zurückläßt. Der Boden ist meist so steinig, daß
man Apulien selbst in dem so häufig steinigen Italien geradezu
das steinige Italien nennen könnte. Die besten Gegenden sind
diejenigen, wo diese tonigen Rückstände der Verwitterung, die
in den Mittelmeerländern so häufig auftretende Terra rossa, hier
Bolo genannt, in größerer Mächtigkeit erhalten sind, sei es, weil
sie nicht abgespült, vielleicht sogar durch Wind und Wasser zu-
sammengetragen worden sind. Dies gilt besonders von allen
niedrig gelegenen und wenig geneigten Gegenden der Kreide-
tafel, also dem Küstengebiet, wo der Bolo hier und da 5 m
Mächtigkeit erreicht, auch von flachen Einsenkungen. Namentlich
— 208 —
sind, wie anderwärts in Karstländern, die kleinen Karsttrichter
der Hochfläche bei Ostuni, Martina und Ceglia mit Bolo gefüllt.
Auch die eigentliche salentinische Halbinsel enthält eine aus-
gedehnte Decke von Bolo. Dagegen werden die Hochformen
und die Hochflächen frei von aller Verwitterungserde erscheinen,
namentlich seit sie entwaldet worden sind. Der Wind während
der langen sommerlichen Regenlosigkeit und der Regen in der
winterlichen Regenzeit tragen alle gelockerten Feststoffe davon.
Wie so heute, von ganz geringen noch mit Wald bedeckten
Flächen abgesehen, die eigentliche Murge, der höchste westliche
Gürtel der Kreidekalktafel, entwaldet daliegt, so fehlt ihr auch
der Bolo und jede fruchtbare Verwitterungsschicht. Die Murge
erscheinen so meist als eine kahle, steinige, ja lediglich aus an-
stehendem Kalkfels gebildete Hochfläche, wo nur in den Spalten
und Rissen und zwischen den Steinen eine dürftige Vegetation
Nahrung für Schafe bietet.
Anbau und Ansiedelung mußte sich also auf diese Gebiete
mit fruchtbarem Boden beschränken.
Es kam aber noch eine dritte Ursache dazu, die die Men-
schen veranlaßte, sich auf wenige Punkte zusammenzudrängen:
eine geschichtliche. Die ewigen Kriege und die allgemeine Un-
sicherheit nach dem Untergange des römischen Reiches ver-
nichteten zahllose kleinere, schutzlose Ansiedelungen, nur die
größten vermochten sich zu behaupten, und in sie, hinter ihre
Mauern, in den Schutz ihrer mächtigen, meist flache Anhöhen
krönenden Kastelle flüchtete sich die Bevölkerung des flachen
Landes. In einigen Gegenden Apuliens läßt sich das Verschwinden
von Ortschaften aus dem Vorkommen von Trümmern verschiedener
Art, Resten von Ziegelsteinen, Scherben, Gräbern u. dgl. weitab
von heutigen Ansiedelungen mit Sicherheit schließen. In gleichem
Sinne wirkte dann auch die Feudalzeit. Die Besitzer großer
Güter zogen künstlich ihre Hintersassen um ihre Burgen zusammen,
wo sie sie leichter beherrschen konnten. Das verschaffte ihnen
zugleich höheres Ansehen, höhere Titel. Manche der heute vor-
handenen großen Ansiedelungen, wahre Stadtdörfer, sind so ganz
neue, willkürliche Schöpfungen, bei denen kaum irgendwelche
geographischen Bedingungen mitgewirkt haben.
Diese Umstände erklären die Siedelungsverhältnisse von
Apulien, die selbst von den in Italien herrschenden abweichen,
— 2og —
am wenigsten noch von denjenigen Siziliens, weil dort ähnliche,
namentlich geschichtliche Ursachen wirksam gewesen sind, aber
zu dem, was wir in Mitteleuropa gewöhnt sind, im grellsten
Gegensatze stehen. Tatsächlich gibt es in Apulien keine Dörfer
in unserem Sinne. Nur in der Provinz Bari kann man von den
62 Wohnorten derselben fünf als Dörfer bezeichnen, von denen aber
vier unmittelbar bei Bari liegen. Die wenigen Meierhöfe, Ölmühlen
u. dgl. sind für gewöhnlich nur von einem Wächter bewohnt.
Die verstreut wohnende Bevölkerung macht im Circondario Bar-
letta 2,2 7o. in Altamura 4,3 %, in Bari 9,7% der Gesamtbevölke-
rung aus, gegen 27,3% iii ganz Italien. Fast die ganze Bevölke-
rung ist in Siedelungen zusammengedrängt, die man nach ihrer
Einwohnerzahl in Mitteleuropa als Städte bezeichnen würde, die
aber sonst unserem Städtebegriff wenig entsprechen. Es sind
Städte, deren Bewohner zum größten Teile Landarbeiter sind,
meist mit breiten, geraden Straßen, die von kleinen niedrigen
Häusern gebildet werden, von einigen Kirchen abgesehen, meist
ohne alle ansehnlicheren Bauwerke. Am Tage, wo die ganze
männliche Bevölkerung und auch ein Bruchteil von Frauen und
Kindern auf den Feldern arbeitet, erscheinen die Straßen wie
ausgestorben, im grellsten Gegensatze zu dem Menschengewimmel
am Abend, und besonders an Sonn- und Feiertagen. Ein schmaler
Saum von Gärten mit einigen Landhäusern und Gärtnerwohnungen
umgibt diese Ackerstädte, dann breitet sich unabsehbar, wenig-
stens im Innern von Apulien, in der Gegend von Minervino,
Spinazzola, Altamura, wo Getreidebau und Weideland herrscht,
das offene Land aus, im Spätsommer, wenn alles abgeerntet ist,
öder Steppe ähnlich, in welcher kein Baum, kein Dorf dem Auge
einen Ruhepunkt bietet. An der 86 km langen Eisenbahnlinie
von Spinazzola nach Gioja del Colle hegen außer diesen beiden
Orten nur noch die volksreichen Städte Gravina, Altamura,
St. Eramo. Zwischen Spinazzola und Gravina trifft man auf
36 km nur einige Meierhöfe. Das 50000 Einwohner zählende
Andria ist 15 km vom nächsten bewohnten Orte, Barletta, ent-
fernt! Die ausgedehnte Feldflur dieser Städte des Inneren zerfällt
neuerdings, wo der Anbau des Bodens in Apulien große Fort-
schritte gemacht hat, vielfach in vier konzentrische Gürtel. Zu-
nächst um die Städte Gärten, die aus Zisternen bewässert werden,
dann Haine von Fruchtbäumen, Oliven, Mandeln u. dgl., dann
Fischer, Mittelmeerbilder. I4
— 2IO
Getreidefelder, dann Weideland mit einzelnen Waldresten. Es
prägt sich darin die mit der Entfernung vom Wohnorte immer
schwieriger werdende Verwertung des Bodens aus. Die Feld-
fluren von Spinazzola, Gravina, Altamura dehnen sich auf 20, 25,
ja 30 km vom Orte aus.
Das ganze Gebiet der Murge ist sehr dünn bevölkert, ja auf
1000 qkm ganz unbewohnt. Was von einer Linie umschlossen wird,
welche über die Städte Canosa, Minervino, Spinazzola, Gravina,
Altamura, St. Eramo, Gioja, Grumo, Ruvo, Corato, Andria, Canosa
läuft, fast die Hälfte der Provinz Bari, ist fast siedelungslos.
Dem steht nun in grellstem Gegensatze das Küstengebiet
gegenüber, in welchem sich die Menschen und die Siedelungen
förmlich drängen. Auf der 98,5 km langen Küstenstrecke von
Barletta bis Monopoli kommt auf je 1 1 km Entfernung eine
größere Küstenstadt und dieser Städtereihe läuft im Inneren im
mittleren Abstände von 10 km eine zweite Reihe von Land- und
Ackerstädten annähernd parallel von Canosa bis Castellana, jede
mit ihrer maritimen Ergänzung, wohl auch mit zweien, durch
schnurgerade Straßen, zum Teil schon Eisenbahnen verbunden.
Die größte und in jeder Hinsicht wichtigste dieser Seestädte,
Bari, ist in einem Halbkreise von 15 km Radius von nicht weniger
als 15 solcher Ackerstädte umgeben. Ja, verlängert man den
Radius auf 20 km, so erhält man 22 große Siedelungen auf einer
Fläche von etwa 600 qkm mit heute etwa 260000 Bewohnern.
Die Volksdichte des Circondario Bari wurde igoi zu ig8, die
von Barletta zu 184, die von Altamura dagegen, tiefer im Innern,
zu 75 Köpfen auf i qkm berechnet, für die ganze Provinz Bari
zu 155. Aber diese große Volksdichte ist, wie schon Altamura
erkennen läßt, nur dem schmalen Landstreifen längs des Meeres
eigen. Im Circondario Barletta liegen alle Siedelungen bis auf
Spinazzola und Minervino auf einem Drittel der Fläche, nämlich
auf dem von der inneren Städtereihe begrenzten Landgürtel.
Ebenso im Circondario Bari, so daß von den 678 968 Bewohnern,
welche die Zählung von 1881 auf den 5350 qkm Fläche der
Provinz Bari aufwies, nicht weniger als 640000 auf den 2500 qkm
dieses Küstengürtels wohnten, also 256 auf i qkm, ja unmittelbar
an der Küste 300 Köpfe.
Merkwürdig ist aber, daß trotz dieser Gegensätze der Volks-
dichte im Küstengürtel wie im Innern in beiden sich die Menschen
211
in wenigen großen Ortschaften zusammendrängen. In der ganzen
Provinz Bari gibt es nur 62 bewohnte Orte. Die Gemeinden,
die hier meist nur von der namengebenden Ortschaft gebildet
werden, sind, wie schon Spinazzola, Gravina und Altamura er-
kennen ließen, sowohl der Fläche ihrer Feldflur, wie ihrer Be-
wohnerzahl nach sehr groß, im Circondario Bari fast doppelt, in
Barletta und Altamura etwa fünfmal so groß wie im Durchschnitt
in Italien. Dabei lebt aber die gesamte Bevölkerung der Städte
beider Landgürtel durchaus vom Anbau des Bodens und der
Bruchteil, von welchem dies nicht gilt, beschäftigt sich mit der
ersten Verarbeitung der Bodenerzeugnisse, Ölbereitung, Wein-
bereitung u. dgl,, bzw. mit Anfertigung von Gefäßen zur Auf-
nahme oder mit der Ausfuhr derselben, also mit dem Handel
mit den Bodenerzeugnissen und allenfalls der Zufuhr von im
Lande selbst nicht gewonnenen Erzeugnissen des Gewerbefleißes.
Doch fällt dieser nur bei den Küstenstädten ins Gewicht. Was
sonst an Gewerbtätigkeit hier vorhanden ist, ist völlig belanglos.
Dieses Sichzusammendrängen der Menschen in wenigen großen,
ihre Bewohner nach Zehntausenden zählenden Ortschaften er-
scheint aber noch auffallender dadurch, daß es Gebiete mit grund-
verschiedener Bodenverwertung und infolgedessen auch mit ganz
verschiedenem Landschaftscharakter in gleichem Maße kennzeichnet.
Jener so dicht mit Städten besetzte Küstengürtel nämlich ist eines
der ausgezeichnetsten Gebiete mediterraner Baumzucht, also inten-
sivster Bodenkultur mit vorwiegendem Mittel- und Kleinbesitz,
während im Innern Getreidebau und Weidewirtschaft mit Groß-
grundbesitz vorherrscht. Während in Italien auf jeden Grund-
besitzer im Durchschnitt 8,68 ha Land kommen, besitzt in Alta-
mura deren jeder 10,68 ha, in Bari dagegen nur 4,55 ha. Gebiete
der Baumzucht werden im Mittelmeergebiete sonst fast überall
durch Kleinbesitz, aber auch fast überall durch verstreutes Wohnen
der Menschen gekennzeichnet.
Man kann den ganzen Küstengürtel bis zur inneren Städte-
reihe in einer Breite von etwa 15 km als einen ungeheuren
Fruchthain von nahezu looo qkm Flächeninhalt bezeichnen. Die
Mannigfaltigkeit der ihn zusammensetzenden Fruchtbäume ist
groß. Der Ölbaum überwiegt allerdings bei weitem und tritt
allein in reinen Beständen auf, die in der ganzen Provinz Bari
98 000 ha bedecken. Daneben spielt aber der Mandelbaum,
14*
212 —
wenn auch selten in reinen Beständen, der Feigenbaum, der
Johannisbrotbaum, Aprikosen, Pfirsiche, Granaten, Kirschen, Birnen,
Äpfel, Pflaumen, Mispeln eine Rolle. Selbst Agrumenhaine finden
sich bei Monopoli und Mola. Ungeheure Flächen, zusammen
lOOOOO ha sind der Rebe gewidmet. Hier wird der Boden
sorgsam bearbeitet und gedüngt, die Bäume beschnitten und ge-
pflegt. Meist sieht man davon ab, unter den Bäumen noch
andere Gewächse zu ziehen. Doch sind beträchtliche Flächen
dem Gemüsebau, Bohnen, Erbsen, Kichererbsen u. dgl., und
Handelsgewächsen, wie Anis, Kumin, Fenchel, Kapern, Flachs,
Süßholz u. dgl., namentlich früher, gewidmet. Zwei Fünftel der
Bodenfläche der Provinz Bari unterliegen somit intensivstem An-
bau. Die Lage der landbauenden Bevölkerung ist hier im all-
gemeinen besser als sonst in Italien.
Der uimiittelbar an diesen Küstengürtel angrenzende Land-
gürtel enthält auch noch große Baumpflanzungen, aber sie sind
schon mehr oasenartig in die Getreidefelder eingestreut. Und
noch weiter im Innern überwiegen diese und das Weideland
durchaus, nur um die Städte findet man Baumpflanzungen. Be-
deutungsvoll ist aber, daß diese und der Weinbau seit 1870
große Fortschritte auf Kosten des Getreide- und des Weidelandes
gemacht haben. Es ist seit 1870 die mit Fruchtbäumen be-
pflanzte Fläche in der Provinz Bari um 60 000 ha gewachsen.
Dabei zieht man vielfach die Rebe als Vorfrucht für den Ölbaum,
denn dieser braucht zehn Jahre und mehr, um vollen Ertrag zu
bringen, während dies bei der Rebe meist schon im dritten Jahre
der Fall ist. Auch nach dem Innern dringt Baumzucht und
Weinbau immer weiter vor, beide erobern immer größere Flächen,
so um Altamura, Gravina usw. Die mit Getreide bestellte Fläche
ist etwas zurückgegangen und die Vieh-, namentlich die Schaf-
zucht, die, früher mit großen Vorrechten ausgestattet, den Acker-
bau erschwerte, noch mehr. Immerhin aber rechnet man, daß
etwa 1652 ha anbaufähigen Bodens als tratturi, die breiten Wege,
auf denen die Herden von den Winterweiden zu den Sommer-
weiden und umgekehrt wanderten, aus den Abruzzen bis vor die
Tore von Tarent und Lecce, noch unbenutzt daliegen.
Hier in Apulien tritt uns daher auch die in Europa so
seltene Erscheinung entgegen, daß die ackerbauende Bevölkerung
in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist und noch immer wächst.
— 213 —
Im Circondario Altamura und auch noch in dem von Barletta
ist in der Zeit von 1881 — 97 die landwirtschaftliche Bevölkerung
rascher gewachsen wie die Bevölkerung im allgemeinen.
Der Boden Apuliens eignet sich vorzüglich zur Baumzucht,
besser als für Getreidebau, ganz wie in Mittel tunesien, wo der
Getreidebau so häufigen Mißernten durch Ausbleiben der Regen
unterUegt, daß man nur jedes vierte oder fünfte Jahr auf eine
volle Ernte rechnen kann, während Baumzucht im Sahel (dem
Küstengebiete) noch heute reichen Ertrag bringt und durch Baum-
zucht in spätrömischer Zeit dieses öde Steppenland der Gegen-
wart in jenes reiche Kulturland verwandelt worden war, von
dessen Blüte noch heute die Trümmer zeugen, mit denen es
übersäet ist. Apulien besitzt, wie schon hervorgehoben, vor-
wiegend Kalkboden der Kreideformation. Hier und da sieht
man mitten in den Feldern und Fruchthainen unbebaute, fast
kahle Felsflächen. In andern Gegenden sind die Kalkbrocken
zu Trockenmauem, Wällen und Steinhaufen zusammengetragen.
Im Innern bei Gravina, Altamura, St. Eramo finden sich in den
sogenannten Matine, flachen, von felsigen Höhen umschlossenen
Becken tonige Bodenarten, die sich am besten für Getreidebau
eignen, aber weil dort Großgrundbesitz herrscht, noch vielfach
nur als Weideland dienen. Im allgemeinen eignet sich Apulien
bei der geringen Mächtigkeit der Verwitterungsschicht, der Steinig-
keit des Bodens, der die Verwendung des Pfluges nicht erlaubt,
und wegen der herrschenden Trockenheit wenig für Gewächse,
deren Wurzeki nicht tief gehen. Die Bäume dagegen und die
Rebe treiben ihre Wurzeln, wenn es zunächst auch schwierig ist,
sie anzuflanzen, in die Tiefe, wo sie in Spalten und Klüften
Feuchtigkeit und fruchtbare Terra rossa finden.
Die Übelstände, welche diese eigenartigen Siedelungsverhält-
nisse hervorrufen, sind groß und augenfällig. Zunächst vergegen-
wärtige man sich den Verlust an Zeit und Kraft, wenn die Land-
arbeiter täglich zweimal 2 — 3 Stunden zu gehen haben, um an
die Arbeitsstätte zu kommen! Frauen und Kinder sind dadurch
geradezu von der Mitarbeit ausgeschlossen. Die Erwerbstatistik
läßt erkennen, wie wenig sich die Frauen an der Feldarbeit zu
beteiligen vermögen. Es verhielten sich 1881 die an der Feld-
arbeit beteiligten Frauen zu den Männern über 15 Jahre im Cir-
condario Bari wie i :4, in Altamura wie i :4,8, in Barletta wie
214 —
I : lO, während für ganz Italien das Verhältnis wie i : 1,76 war!
Bei dem Wohnen weit ab von den Feldern ist es dem Land-
arbeiter unmöglich, einen Nebenerwerb durch Halten von Geflügel,
Schweinen u. dgl., durch etwas Gartenbau zu erzielen. Die
Frauen, denen dies obliegen würde, sind, da sie durch Hand-
arbeiten täglich kaum 35 — 40 Centesimi zu erwerben vermögen,
vielfach geradezu zur Untätigkeit verurteilt. Dies, wie die Ab-
wesenheit der Männer, führt weiter zu schweren, sittlichen Schäden.
Der Landarbeiter ist also genötigt, seinen ganzen Lebensunterhalt
zu kaufen. Dabei wird jeder Gegenstand durch die städtische
Mauth, die vorzugsweise von Nahrungsmitteln erhoben wird imd
die Haupteinnahme der Städte bildet, die also von den Armen
erpreßt wird, wesentlich verteuert. Der Landarbeiter wohnt natur-
gemäß in den Städten teurer, schlechter, ungesunder. Die Sterb-
lichkeit unter denselben, namentlich unter den Kindern, ist daher
größer als sonst in Italien. Schließlich bringt dies Zusammen-
wohnen große, soziale Gefahren. Es ist bei der leichten Erreg-
barkeit des Italieners nicht schwer, in Zeiten der Not hier Auf-
stände dieser armen, ungebildeten, zusammengedrängten Menschen-
massen hervorzurufen. Die Greuelszenen, die so im Mai 1898
in Minervino Murgie sich abspielten, sind noch in frischem An-
denken. Vermag doch der Feldarbeiter in Apulien, wenn er alle
irgendwie möglichen Tage ausnutzt, nur 300, im äußersten Falle
400 Lire im Jahre zu verdienen. Da die Frau allerhöchstens
noch 100 Lire hinzuzuverdienen vermag, so muß also eine ganze
Familie von 400 — 500 Lire jährlich leben. Das ist selbst für
Apulien zu wenig!
Gewiß hat man in der Neuzeit daran gedacht, diesen
schweren Übelständen, die dies Zusammendrängen einer land-
bauenden Bevölkerung weit ab von dem zu bebauenden Lande
zur Folge hat, abzuhelfen und die Landarbeiter aus den Städten
hinaus über neu zu gründende Dörfer und Meierhöfe inmitten
der Felder zu verstreuen. Die Neugründung solcher Ansiede-
lungen wird aber durch die Wasserfrage außerordentlich er-
schwert, die nur gelöst werden könnte durch Anlegung zahl-
reicher und großer Zisternen im Felsboden. Dazu fehlen aber
dem Mittel- und Kleinbesitzer die Mittel und bei der heutigen
Lage der Landwirtschaft der rechte Ansporn. Gegenüber der
Macht der Gewohnheit wird es daher wohl noch lange dauern,
— 215 —
ehe in Apulien (wieder?) Dörfer entstehen werden. Wir haben
also hier eine der zahlreichen großen Aufgaben vor uns, vor
deren Lösung der junge, wenig geldkräftige italienische Staat
gestellt ist.
4. Land und Leute in Korsika.^
Von der in den verschiedensten Hinsichten anziehenden
Doppelinsel Sardinien-Korsika wird neuerdings das landnähere,
von Livorno und Nizza aus leichter erreichbare, auch durch die
französische Verwaltung besser aufgeschlossene Korsika immer
häufiger, namentlich von Deutschen, besucht, wenn auch meist nur
Ajaccio als winterliche Zufluchtsstätte. Da nun über die Insel,
wenn wir von Gregorovius' wundervollen, aber nun schon etwas
älteren, auch mehr geschichtlichen Schilderungen absehen, nicht
viel, oder wenigstens nicht viel Zuverlässiges weder in deutscher
noch in einer anderen Sprache geschrieben worden ist, so dürften
die nachfolgenden Beobachtungen und Studien des Verfassers
manchem Leser erwünscht sein.
Ringsum aus tiefem Meere, mitten aus der tiefen Hohlform
der Erdrinde, die mit Salzwasser gefüllt uns heute als Nordwest-
becken des Mittelmeeres erscheint, erhebt sich Sardinien-Korsika.
Es ist diese Doppelinsel, deren Zusammenhang nur durch die
schmale (12 km breite) und flache Meerenge von San Bonifacio
verhüllt ist, die aber nach allen ihren geographischen Verhält-
nissen als zusammengehörig erscheint, das größte Trümmerstück
einer alten Festlandsscholle, die in einer geologisch naheliegen-
den Vergangenheit bei Bildung jener Hohlform durch zentripetale
Bewegungen dieses Teils der Erdrinde zertrümmert wurde. Da
auf ihre Kosten im wesentlichen das Tyrrhenische Meer ent-
standen ist, so hat man für dies alte Land die Bezeichnung
Tyrrhenis eingeführt. Zu derselben gehörten, abgesehen von
Kalabrien und Nordostsizilien, auch die toskanischen Inseln und
Teile von Toskana, die durch spätere Vorgänge dem Festlande
i) Erschienen in der Deutschen Rundschau Febr. 1899. F. Ratzel hat
ohne Kenntniss meines Aufsatzes im Juliheft der Annales de Geographie 1899
auf Grund von zwei längeren Aufenthalten in Korsika 1898 und 1899 eine
anthropogeographische Studie über Korsika veröffentlicht, in französischer
Sprache, übersetzt von Zimmermann.
2l6 —
von Italien einverleibt worden sind. Italien liegt denn auch
Korsika am nächsten, die toskanischen Inseln verbinden es mit
demselben. Korsika gehört also, wie Sardinien, zu dem Lande
Italien, wenn es auch seit beinahe anderthalb Jahrhunderten dem
geographisch nächstberechtigten Staate Frankreich durch Waffen-
gewalt angegliedert worden ist. Immerhin haben die Lotungen
der italienischen Kriegsmarine festgestellt, daß die Flachsee, auf
welcher die toskanischen Inseln liegen, nicht nach Korsika hin-
überreicht, sondern durch eine Rinne mit Tiefen von über 400 m
von der Insel getrennt ist. Da das Nordwestbecken des Mittel-
meeres ringsum, außer zu beiden Seiten des Ostendes der Pyre-
näen, von durch Faltung der jüngeren Schichten der Erdrinde
gebildeten Kettengebirgen umgeben ist, so ragt also Sardinien-
Korsika aus demselben als ein fremdartiges Gebilde inmitten
dieses Wirbels jugendlicher Faltengebirge auf. Dies Fremdartige
wird jeder geographisch und naturwissenschaftlich Gebildete bei
einigermaßen aufmerksamer Beobachtung beim Betreten dieser
Inseln bald feststellen, von welchem Punkte des umgebenden
jungen festländischen Faltenlandes er immer kommen mag, dem
alpinen, dem appenninischen, dem atlantischen, dem andalusischen
oder pyrenäischen. Von wo immer er eine der beiden Inseln,
aber namentlich Korsika, betritt, wird er feststellen, daß er hier
ganz andere Gebirge, Oberflächenformen, Fels- und Bodenarten
vor sich hat, wie auf dem eben verlassenen Festlande. Und
dringt er tiefer ein, so stellt er durch Beobachtung fest, daß auch
die Pflanzenwelt, wenn sie auch naturgemäß alle wesentlichen
Züge der Mediterranflora aufweist, manches Eigenartige, die Tier-
welt und selbst der Mensch altertümliche Züge aufweist, die auf
längere Absonderung schließen lassen. Nur hier ist in ganz
Italien der Damhirsch noch wild erhalten, ebenso das früher weit
verbreitete Wildschaf, der Mufflon. Das Wildschwein hat so
eigenartige, an das ausgestorbene Sus palustris erinnernde Züge
entwickelt oder erhalten, daß manche Zoologen es als besondere
Art unterscheiden möchten. Pferde, Esel und Rinder werden
durch ihre geringe Größe gekennzeichnet. Auch die Bewohner
sind fast unberührt geblieben von den großen Bewegungen des
Festlandes, die die Völker untereinander geworfen, aber auch
die Gesittung gefördert haben. In ihren Sitten, ihren Einrich-
tungen, ihrer Sprache selbst hat sich viel Altertümliches erhalten,
— 217 —
das auf dem Festlande längst vergangenen Zeiten angehört.
Sardinien besitzt sogar in seinen Nuraghi ganz eigenartige vor-
geschichtliche Denkmäler, mit denen die auf den Balearen und
auf der Insel Pantelleria zwischen Sizilien und Afrika erhaltenen
nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit haben. Sie gleichen Wart-
türmen, aber über ihren Zweck und ihre Erbauer hat bis heute
noch kein Forscher Aufschluß zu geben vermocht. Auch Korsika
besitzt in seinen sogenannten Stazzone und Stantare noch vor-
geschichtliche Denkmäler, die man aber wohl mit den Dolmen
und Menhir vergleichen kann.
So bedeutende Abtragung Korsika auch durch die zerstören-
den Kräfte des Luftkreises während der langen Zeit, die es
nicht vom Meer bedeckt gewesen ist, erfahren hat, so ragt es
doch noch immer als alpines Hochgebirge mitten aus dem Mittel-
meere auf zu Höhen, die selbst in den Alpen noch ansehnliche
sind, im Mittelmeergebiet aber zu den größten gehören. Erreicht
doch der Monte Cinto 2707 m. Sein Gipfel ragt also um bei-
nahe 6000 m von der Sohle des Mittelmeeres auf!
Aus Granit ist die Insel zum großen Teil aufgebaut. Hart
und rauh wie dieses Gestein sind ihre Formen, dunkel ihr
Pflanzenkleid, ernst der Charakter der Landschaft. Und ernst,
zurückhaltend, hart und gewalttätig sind auch meist die Men-
schen, wenig fähig der Freude, um so mehr dem Schmerz und
der Leidenschaft Ausdruck zu geben. Melancholisch sind ihre
Gesänge. Schwarz ist die beliebteste Farbe der Frauen, die doch
sonst im Süden so g^oße Vorliebe für bunte, leuchtende Gewänder
haben. Nur Männer, die sich durch kriegerische Taten, durch
Mut, Kühnheit und Selbstverleugnung ausgezeichnet haben, hat
die rauhe Insel hervorgebracht, keine, die die menschliche Ge-
sittung, die Kunst oder die Wissenschaft gefördert haben.
Nur an der Südspitze, aber in sehr geringer Ausdehnung,
in größerer an der Nordostseite, sind, einen meridionalen Rücken
und gleichsam den Stil der Insel, die Halbinsel des Kap Korso
bildende Schichtgesteine, besonders der Kreideformation, mit be-
deutenden Serpentindurchbrüchen dem granitischen Inselkerne
angelagert und rufen dort wesentlich mildere Oberflächenformen,
besseren Anbau, dichtere Bevölkerung und mildere Sitten hervor.
Aber die Küste der Ostseite ist, außer im äußersten Süden und
im äußersten Norden, von einer schmalen Schwemmland ebene
2IÖ —
gebildet, die hier an der Leeseite der Insel, der den stürmischen
Südwest- und Westwinden und dem heftigen brandenden Meere,
die die weit geöffnete Rias der Westseite geschaffen haben,
abgekehrten Seite, die größten P'lüsse Golo und Tavignano
mit ihren Sinkstoffen angelagert haben. Dieselbe verläuft daher
fast geradlinig, ist flach, von Haffen und Sümpfen begleitet, fieber-
schwanger und ungastlich. Wäre nicht im Süden der Porto Vecchio
genannte herrliche Naturhafen, der freilich im Sommer der Malaria
wegen fast unbewohnbar ist, im Norden, nahe dem Punkt der größ-
ten Annäherung ans Festland, die kleine Bucht von Bastia, so
kehrte in der Tat Korsika Italien völlig den Rücken, Bastia ist
zu allen Zeiten, vor Bastia das nahe gelegene Biguglia, noch
früher Aleria hier an der Ostküste das Organ gewesen, durch
welches Korsika den Verkehr mit Italien, namentlich Genua und
Livorno unterhalten hat und noch heute unterhält. Hier legten
die Genuesen auf steilem Felshügel über der kleinen Hafenbucht
eine Festung an, die dem Orte den Namen (Bastei) gegeben hat.
Die kleine Bucht selbst dient heute nur noch Fischerbooten, durch
gewaltige Steindämme ist ihr ein geräumiger Hafen vorgebaut
worden, der nur den einen unverbesserlichen Nachteil hat: wenn
der Mistral sich von den steilen Höhen des Kap Korso in wüten-
den Stößen herabstürzt, kann kein Schiff aus- und einlaufen.
Ein guter Naturhafen, den Napoleon zu einem großen Kriegs-
hafen auszubauen beabsichtigte, liegt westlich von Bastia an der
Wurzel der Halbinsel, San Fiorenzo. Aber auch er wird von der
Malaria verpestet. Malariafrei ist dagegen die kleine, gegen alle
Winde geschützte Bucht von San Bonifacio, nahe der Südspitze
der Insel, deren sich die Genuesen daher auch für alle Zeit ver-
sicherten, indem sie dort ligurische Ansiedler ansetzten, die,
gewissermaßen einen kleinen Freistaat bildend, zu allen Zeiten
dem Mutterlande treu geblieben sind und sich noch heute von
den Korsen scharf unterscheiden. Hier kennt man die Blutrache
nicht; hier sieht man die Männer unbewaffnet gemeinsam mit
den Frauen im Feld und Garten arbeiten; hier reitet die Frau
auf dem Esel und der Mann geht nebenher. Beim Betreten der
Gemarkung von S. Bonifacio könnte man sich an die Riviera,
in den engen, von viele Stockwerke hohen Häusern gebildeten
Gassen in das Hafenviertel von Genua versetzt wähnen. Auf
60 m hoher Kalkplatte, deren Wände zum Teil überhängen oder
2 19 —
von der Brandung zu Höhlen ausgewaschen sind, thront das
Städtchen, das zu allen Zeiten Festung, von den Franzosen zu
einem Gibraltar im kleinen umgeschaffen worden ist. Dieselben
haben bereits hier eine Flotte von Torpedobooten aufgestellt und
beabsichtigen einen Kriegshafen zu schaffen, der imstande ist,
demjenigen der Italiener am anderen Eingange der Meerenge
auf der Granitinsel von La Maddalena an der Nordspitze von
Sardinien Trotz zu bieten. In genuesischer Zeit spielte auch
Calvi, an der Nordwestseite der Insel Genua nahe gelegen, wegen
seiner kleinen Hafenbucht und als Hauptort der fruchtbaren
Landschaft Balagna eine gewisse Rolle, die es jetzt immer mehr
an das nahegelegene Isola Rossa abtritt. Ajaccio dagegen hat
erst seit dem Anschluß der Insel an Frankreich und durch größte
Begünstigung durch Frankreich, namentlich seit Napoleon III.,
größere Wichtigkeit erlangt, steht aber noch heute wie an Ein-
wohnerzahl, so auch an Verkehr Bastia nach. Immerhin ist es
auch durch die Natur begünstigt insofern, als es an dem größten
der kleinen, sich nach Westen und Südwesten öffnenden Golfe,
die zum Seeverkehr und zur Verdichtung der Bevölkerung im all-
gemeinen wenig begünstigt sind, und fast in der Mitte der West-
seite liegt, mit einer kleinen fruchtbaren Ebene im Hintergrunde des
Golfs, die man nach korsischen Begriffen wohl als Campo dell' Oro
bezeichnen konnte. Das Gebiet dieser Rias ist sonst fast menschen-
leer. Vor allem hat Ajaccio auch eine sehr geschützte Lage für sich,
die es nach Milde des Klimas und südlicher Üppigkeit der Vege-
tation fast Neapel gleichkommen läßt. Auch das Landschaftsbild,
der Blick auf das Meer und die Vorgebirge, die einen Teil des
Jahres schneebedeckten Gebirge, ist entzückend, aber kein Un-
befangener wird Ajaccio Neapel im allgemeinen gleichsetzen
wollen, wie es hier und da versucht worden ist. Wo ist der
Vesuv, wo sind Capri und Ischia, wo Sorrent und die geschicht-
lichen Erinnerungen, die den ganzen Golf, vor allem aber Pozzuoli
und Bajä verklären?
Die Küste von Korsika ist dem Seeverkehr im allgemeinen
nicht günstig, von außen her mußte derselbe hier eingebürgert
werden, was aber die rauhe Landesnatur wesentlich erschwerte.
Heißt es doch, daß Ansiedelungsversuche der Griechen und der
Römer förmlich von den undurchdringlichen Wäldern zurück-
geschlagen wurden. Völlig heimisch wurde das Seewesen in
220
Korsika niemals, es blieb immer in den Händen der Fremden.
Die Korsen sind, obwohl Inselbewohner, doch ein Bergvolk, wie
auch die Bewohner der Insel des Pelops niemals in einer langen
Geschichte Seefahrer gewesen sind und sich auch heute in geringem
Maße an der griechischen Schiffahrt beteiligen. In den Kielen
fremder Schiffe wurde den Korsen viel mehr festländische Ge-
sittung tropfenweise zugeführt, als daß sie sich dieselbe selbst
holten. Die Abgeschlossenheit der Küsten wie der Gebirge der
Insel ist noch heute in der scharf ausgeprägten Eigenart dieser
Insel- und Bergbewohner zugleich erkennbar. Der Korse ist nur
Korse. Das stammverwandte Italien, dessen Sprache er spricht,
mit dem ihn eine lange Geschichte und eine Vielheit geographisch
bedingter Beziehungen verbindet, steht seinem Herzen ebenso
fem wie Frankreich, das die Insel seit mehr als einem Jahr-
hundert beherrscht, und dem es seinerseits seinen gewaltigsten
Herrscher gegeben hat. Aber der Korse weiß Frankreich zu
schätzen, denn es gibt ihm Ämter und Pfründen, es baut ihm
Häfen, Straßen und Eisenbahnen und befruchtet die Insel mit
seinem Golde. Frankreich ist auch bemüht, und mit Erfolg, die
Korsen mehr und mehr zu französieren und die französische
Sprache, namentlich durch die Schule, an Stelle der italienischen
zu setzen. Für Frankreich ist Korsika seiner Lage zu Italien
und zur Südküste Frankreichs wegen außerordentlich wichtig, und
es unterhält und ergänzt daher die vorhandenen meist veralteten
Festungswerke, die naturgemäß die wichtigsten Punkte an der
Küste decken müssen. Im Innern freilich, wo beispielsweise die
Straße über den Vizzavonapaß durch ein Fort gesperrt wird und
der Bahnhof von Corte, ähnlich wie vielfach in Algerien, von
einem mit Schießscharten versehenen Mauerviereck umschlossen
ist, sind Befestigungen auffallende Erscheinungen.
Ein Granitgebirge durchzieht die Insel in ihrer ganzen Länge
und scheidet die Westseite, von altersher, naturgemäß von Italien
aus Banda di fuori genannt, von der Ostseite, der Banda di
dentro. In zahlreichen Gipfeln erreicht dasselbe mehr als 2000 m,
der Monte Rotondo, fast in der Mitte der Insel, hat sogar über
2600, der schon genannte Monte Cinto, der höchste Punkt
eines ausgedehnten Porphyrdurchbruches, etwas weiter nach Nor-
den, über 2700 m. Kleine, grüne Hochgebirgsseen, die wie Hals-
bänder von Smaragden fast jeden dieser massigen granitischen
— 221 —
Hochgipfel umgeben, den Monte Rotondo allein sieben, Moränen
und Gletscherschliffe weisen hier auf die ehemalige Vergletsche-
rung, diluviale Schottermassen, oft mit riesigen Granitblöcken, in
den Tälern auf die großartige Abtragung hin, die damals vor
sich ging. Vom Gipfel des Monte Cinto überblickt man die
ganze Nordhälfte der Insel bis zum Kap Korso, ja bei hellem
Wetter erkennt man wohl noch in blassen Umrissen Elba, wäh-
rend nach Süden das Auge über eine großartige Gebirgswelt und
Hochgipfel von wenig geringerer Höhe schweift, deren einzelne,
wie der Monte d' Oro, nahe dem Paß von Vizzavona, und der
Monte Incudine, der südlichste Hochgipfel, eine kaum minder
schöne Aussicht bieten. Freilich muß dieselbe beim Fehlen guter
Wege und Schutzhütten, wenn auch nicht häufig vorkommende
Steilabstürze und Felswände leicht umgangen werden können,
durch größere Anstrengungen und Entbehrungen erkauft werden,
als sie ähnliche Höhen in den Alpen bieten, da man hier meist
vom Meeresniveau ausgeht. Die Kamm- und Paßhöhe des Ge-
birges ist verhältnismäßig groß. Der Col di Vergio, einer der
wichtigsten der Insel, hat 1464 m, ist also höher als der Brenner.
In schwierigem Anstieg, vielfach auf Treppen, erklimmt man die
Paßhöhe der Saum- oder Ziegenpfade, die auf der Insel noch
vorherrschen. Wo sie unter großen Kosten in Straßen verwandelt
sind, stehen sie den kühnsten der Alpen nicht nach. Jede Win-
dung bietet neue Ausblicke, sei es in Schluchten, sei es über
Vorgebirge und Meer; alle Hänge sind mit dem dunkeln Grün
der duftigen Macchien überkleidet, aus dem hier und da graue
Granit- oder rote Porphyrfelsen her\orragen, bis uns auf der Paß-
höhe hochstämmige Wälder von Buchen oder Lariciokiefern auf-
nehmen. Darüber wölbt sich das herrliche Blau des südlichen
Himmels.
Selbst die neue Eisenbahn, die jetzt nach langer kostspieliger
Bauzeit die ganze Insel quert und Ajaccio mit Bastia verbindet,
steigt von Ajaccio auf 47 km Linienlänge 900 m empor und
unterfährt schließlich den 1145 m hohen Paß von Vizzavona in
einem 4 km langen Tunnel. Eine Gotthardbahn im kleinen windet
sie sich an der Nordostseite in langen Kehren, wo man wieder-
holt die eben zurückgelegte Strecke tief unter sich sieht, bald
durch tiefe Einschnitte, bald über gewaltige Viadukte und Brücken,
die nicht selten kühn zwischen zwei Tunneln über einen Abgrund
222 —
gespannt sind, zur Scheitelhöhe empor. Diese liegt über der
immergrünen Region in einem herrlichen Revier schöner Buchen-
und Lärchenwälder, in welchen, wenigstens im Frühling, sich von
allen Seiten rauschende Gießbäche über Felswände in die Tiefe
stürzen. Beim Aufstieg, noch unter Ölbäumen und Weinpflanzungen
dahinfahrend , hat man nicht selten auf der einen Seite einen
Ausblick über Berge und Hügel weithin auf das Meer, auf der
andern in waldige Täler, in deren Hintergrunde im Frühling mit
Schnee bedeckte Berge herüberleuchten.
So hoch aufragende, längere oder kürzere Zeit mit Schnee
bedeckte Gebirge mitten im wannen Mittelmeere und auf der
Bahn der winterlichen Zyklone müssen bedeutende Niederschläge
hervorrufen und die geringe Meerferne der höchsten Gipfel —
die des Monte Cinto beträgt nur 24 km! — muß den für ge-
wöhnlich wasserarmen, aber in ihren smaragdgrünen Tümpeln,
forellenreichen Flüßchen und Bächen, die bei der Schneeschmelze
und nach starkem Regen zu tobenden Ungeheuern werden, eine
riesige Erosionskraft verleihen. So ist die Insel überall von tiefen
Tälern gefurcht, ja reich an Schluchten von großartiger Wildheit,
die mit ihrer immergrünen Vegetation an einzelne Pyrenäentäler
erinnern, deren Steilhänge mit Buchsbaumgebüsch dicht bewachsen
sind. Bei der Steilheit, mit welcher die Gebirge, namentlich an
der Westseite, emporsteigen, liegen hier oft recht grelle Gegen-
sätze nahe beieinander. Von der Küste und aus den untersten
Tälern, die den Charakter lieblicher, hier und da allerdings mehr
großartiger Mittelmeeriandschaft mit Dattelpalmen und Hainen
von Apfelsinen tragen, steigt man in wenigen Stunden durch
wilde, in immergrünes Gestrüpp gehüllte Schluchten und hoch-
stämmige Wälder mitteleuropäischer Buchen zu alpinen Hoch-
gebirgslandschaften empor, die nur im Spätsommer schneefrei
werden. In breiten Rücken streicht das Granitgebirge nach Westen
und Südwesten aus und bedingt dort die an die Rias von Ga-
licia erinnernde Gliederung der Küste in Buchten und Vorgebirge,
über welche noch heute felsige Saumpfade die kleinen Ortschaften
an den Buchten miteinander verbinden.
Es zerfällt so die ganze Insel in zahlreiche kleine Sonder-
landschaften und Talschaften, ähnlich denen, die die Urkantone
der Schweiz rings um den Vierwaldstättersee bilden. Alle diese,
meist auch besondere, in der Geschichte der Insel vielgenannte
— 22Z —
Namen führenden Talschaften, selbst die ans Meer ausmündenden,
verkehren meist nur durch Engpässe oder über steile Kämme
miteinander. So begreifen wir, daß die Bevölkerung, wenn auch
durch das allumfassende Meer zusammengehalten, von jeher in
zahlreiche Clane zerfiel, wie im schottischen Hochlande, und daß
die die einzelnen Clane führenden Familien, wenn nicht der
Druck der Fremdherrschaft zur Einigkeit zwang, sich unablässig
befehdeten. Noch heute haben, zum Hohne des allgemeinen
Wahlrechts, tatsächlich etwa zwanzig Familien die wirkliche Herr-
schaft auf der Insel. Zu den noch nicht völlig ausgestorbenen
Fehden der Clane untereinander sind nun die Wahlschlachten
hinzugekommen, die nach der Versicherung eines korsischen
Patrioten schlimmer sind als das Banditentum. Ämter und allerlei
Vergünstigungen zum Schaden der Allgemeinheit sind die Beute
des Siegers, wie das ja mehr oder weniger überall in den völker-
beglückenden Republiken der Fall ist.
Gemildert wird der gebirgige Charakter der Insel durch das
üppige, immergrüne Pflanzenkleid, in welches das milde, nieder-
schlagsreiche Klima den größeren Teil derselben bis etwa 800
bis 1000 ra empor hüllen und unter welchem die wilden Fels-
formen meist verschwinden. Die Üppigkeit und Undurchdringlich-
keit der korsischen Wälder war so groß, daß Besiedelungsversuche
in griechischer und römischer Zeit dadurch vereitelt wurden.
Freilich ist auch hier der Mensch, wie überall in den Mittelmeer-
ländem, des Waldes schließlich und gründlich Herr geworden,
nur noch im höheren Gebirge finden sich herrliche, ausgedehnte
Wälder, an deren Stelle sonst überall ungeheure Dickichte immer-
grüner Sträucher, die sogenannten Macchien (von lat. macula
Flecken), in korsischer Mundart Maquis, getreten sind. Man kann
so Korsika wohl eine immergrüne Insel nennen. Diese Macchien,
je nach Boden und Feuchtigkeit bald übermannshoch und viel-
fach von Schlingpflanzen, auch dornigen, durchrankt und un-
durchdringUch, bald niedrig und von vereinzelten Sträuchern ge-
bildet, kennzeichnen Korsika ganz besonders, wenn sie auch eine
überall in den Mittelmeerländern wiederkehrende Vegetations-
formation sind. Sie sind hier von einer bunten Mischung von
Sträuchern mit meist kleinen Blättern und unscheinbaren Blüten
gebildet, von denen viele, wie die M^Tthe, Rosmarin u. a. bei uns
in Töpfen gezogen werden. Alle sind aromatisch, und besonders
— 224 —
im Frühling, wo das Blühen monatelang andauert^ eine Art nach
der andern, erscheint die Insel wie in Blütenduft gehüllt, den der
Wind vom Lande her, wie von tropischen Inseln, nicht selten
dem Ankömmling entgegenträgt. Der Korse liebt diesen Duft
seiner Macchien über alles, wie auch Napoleon noch auf St. Helena
wehmütig diese Eigenart seiner Heimatsinsel pries. Wundervoll
ist namentlich die Baumheide, die ihre schwanken Zweige mit
einer unglaublichen Fülle duftiger, zierlicher weißer Glockenblüten
bedeckt. Das Aroma dieser Pflanzen wirtschaftlich zur Gewinnung
von Wohlgerüchen zu verwerten, wie in der Provence, in Alge-
rien und anderwärts geschieht (Rosmarinöl, Thymöl, Lavendel-
Öl usw.), dazu ist der Korse noch nicht fortgeschritten, und auch
sein Verdienst ist es wohl nicht, wenn die stärkeren Stämme der
Baumheide (Briarwood vom franz. bruyere) zu jenen kurzen Tabaks-
pfeifen verarbeitet werden, die bei den Engländern so beliebt
sind. Ihm dienen die Macchien als Brennholz und als Weide-
gründe für seine Ziegen, und unzertrennlich ist mit denselben das
Banditenwesen verbunden. „E andato nella macchia*', er ist in
die Macchia gegangen, ist der oft gehörte landesübliche Ausdruck
für denjenigen, der es für gut findet, sich dem Arme der Ge-
rechtigkeit zu entziehen, d. h. Bandit zu werden. Kein Gensdarm
vermag ihn in der Macchia aufzustöbern. Aber nicht bloß sichere
Zuflucht, auch Nahrung liefert das Waldgebirge dem Verfolgten,
selbst wenn ihn seine Freunde nicht unterstützen sollten. Bis
in die innersten Gebirgstäler und im Mittel bis zu lOOO m Höhe
kommt nämlich die Edelkastarue vor. Oft in Halbkulturen ge-
halten und mächtige Stämme bildend, liefert sie eine Fülle von
Nährfrüchten, die getrocknet und gemahlen sich das ganze Jahr
halten und der verschiedensten Zubereitung, ähnlich unserer Kar-
toff"el, fähig sind. Auch bieten wohl kleine Steinhütten in den
Kastanienwäldern, die nur zur Erntezeit bewohnt werden, Zuflucht
in der rauhen Jahreszeit. Fast ohne Arbeit liefert die Edel-
kastanie, nach welcher eine der kleinen Sonderlandschaften
geradezu Castagniccia genannt wird, den Korsen den Brodstofi".
Castagniccia, das übrigens heute eine der besser angebauten
Landschaften Korsikas in dem mesozoischen Hügellande der Ost-
seite zwischen dem Golo und Tavignano ist, war daher von jeher
einer der Hauptherde des Widerstandes gegen die Genuesen,
die Heimat Pasquale Paolis, also ähnlich der von Eichenwäldern
— 225 —
bedeckten Schumadia, der Zufluchtsstätte der Serben in ihrem
langen Unabhängigkeitskampfe gegen die Türken. Zu seinen
Kastanienbäumen bedarf der Korse nur noch einer Ziegenherde,
die sich auch fast von selbst nährt. Sie liefert ihm Milch und
Käse, den berühmten aromatischen Broccio, wohl auch gelegent-
lich Fleisch und durch Verkauf einzelner Stücke bares Geld zur
Anschaffung der wenigen unentbehrlichen Gegenstände, vor allem
eines Dolches und eines Gewehrs mit Schießbedarf, ohne die
man keinen Gebirgskorsen sieht. Die Bewohner ganzer Land-
schaften, wie des Niolo, sind fast ausschließlich Hirten, die bei-
nahe nur von Kastanien und Käse leben: Wanderhirten, denn der
rauhe Winter des Gebirges zwingt sie mit den Herden an die
Küsten hinabzusteigen, so daß dann die Gebirgsdörfer nur von
Greisen, Frauen und Kindern bewohnt sind. Doch ist auch dies
eine von der Landesnatur bedingte, überall in den ^Nlittelmeer-
ländern wiederkehrende Erscheinung. Kein Zweifel, daß die
Kastanie und die Ziege die ausgesprochene Arbeitsscheu des
Korsen wesentlich gefördert haben, den Anbau des Landes hin-
dern und ihn in Armut und Anspruchslosigkeit erhalten. So
konnte in den Köpfen der französischen Jakobiner der Gedanke
reifen, alle Kastanienbäume der Insel umhauen zu lassen, um die
Korsen zur Arbeit zu zwingen.
Die nur im Hochgebirge erhaltenen Wälder verdanken dies
ihrer geringen Zugänglichkeit, erliegen aber häufigen Waldbränden,
die wohl meist von Hirten angelegt sein dürften. Tausende von
Hektaren werden so jährlich vernichtet, ja in den letzten zwanzig
Jahren soll ein Viertel des ganzen Waldbestandes dem Feuer
erlegen sein. Wo sie erhalten sind, gleichen sie einsamen,
schweigenden Urwäldern, in denen Baumriesen, Stämme von 8 m
Umfang, nicht selten sind. Große Flechten, gleich dem Barte
eines Greises, hängen an den Zweigen, Moos bedeckt die Stämme ;
vom Sturm gefällt, strecken sie ihre entrindeten, gebleichten
Leiber — Ungeheuern der Vorwelt gleich — am Boden hin, um
allmählich zu vermodern. Immerhin ist Bauholz noch ein wesent-
licher Gegenstand der Ausfuhr, wie seit Jahrhunderten, besonders
für die Schiffswerften von Genua und Livomo. Ähnlich wie im
toskanischen Appennin beginnnen sich auch in diesen Gebirgs-
wäldem Sommerfrischen zu entwickeln, was wohl hauptsächlich
zu ihrer Erhaltung beitragen wird.
Fischer, Mittelmeerbilder. 15
226 —
Der Wildreichtum dieser Wälder und Macchien ist wegen
übermäßiger Ausübung der Jagd nicht mehr sehr groß, aber noch
groß genug und so leicht zu vergrößern, daß ein Engländer den
Gedanken aussprechen konnte, die Korsen würden sich am besten
stehen, wenn man die ganze Insel in einen großen Wildpark ver-
wandelte, jedenfalls für englische Sportsmen, also ungefähr so wie
die schottischen Hochlande. Das edelste Wild Korsikas, den
Mufflon, ein Wildschaf, zu jagen, ist schwierig und entbehrungs-
reich, aber selten erfolgreich.
Schon die bisherigen Andeutungen lassen erwarten, daß nur
ein geringer Teil der Insel angebaut ist. Von vielleicht nicht
mehr als einem Drittel mag das gelten. Auch der gebirgige
Charakter, der felsige Boden und vor allem die die Täler und
Küstenebenen im Sommer heimsuchende Malaria, die ebenso sehr
wie die geringe Sicherheit die Bewohner zwang, sich hoch oben
auf den Bergen, auf schwer zugänglichen Höhen anzusiedeln,
wirken dabei mit. Die auch in der Landesnatur begründeten
Clanfehden, die uralte Sitte der Blutrache, die Notwendigkeit,
sich gegen fremde Eindringlinge in jahrhundertelangen, fast nie
endenden Kämpfen zu verteidigen, ließen auch diesem Gebirgs-
volke das Waffenhandwerk als die eines Mannes allein würdige
Tätigkeit erscheinen. Höchstens das Weiden der Herden galt
daneben noch als anständige Beschäftigung: also ganz wie bei
den alten Arkadiern und den Bewohnern der Urkantone der
Schweiz. Reisläuferei war daher auch hier heimisch. Italien und
Frankreich zogen davon Nutzen. Wie schon früher, besonders
im i6. Jahrhundert, korsische Söldnerregimenter in Frankreich
dienten, so war mit der Napoleonischen Zeit die Zahl der Korsen
als Offiziere und Soldaten im französischen Heere ebenso groß
und wichtig, wie die der elsässischen. Im deutsch-französischen
Kriege standen nicht weniger als 20 500 Korsen gegen uns im
Felde, y^g ^^^ Bewohnerschaft, und 1885 zählte man nicht weniger
als 1 2 1 7 korsische Offiziere im Heere und in der Gensdarmerie
Frankreichs. Namentlich liefert die korsische Waldlandschaft Baste-
lica, südöstlich von Ajaccio, viele Offiziere. Die Zahl der Korsen,
die es in den letzten hundert Jahren in Frankreich im Heere
(und in der Verwaltung) zu hohen Stellungen gebracht haben,
ist unverhältnismäßig groß. In bezug auf körperliche Tüchtigkeit
der zur Aushebung kommenden Mannschaften steht Korsika unter
2 2 7
allen französischen Departements bei weitem oben an, indem auf
looo zur Stellung kommende Mannschaften im Durchschnitt 774
bis 779, ja in einzelnen Bezirken 886 brauchbar sind. In Korsika
spielen die Kinder, eine in nicht-deutschen Ländern sehr seltene
Erscheinung, Soldaten oder Banditen. Es leuchtet ein, daß dies
den Wert Korsikas für Frankreich wesentlich erhöht, andrerseits die
feste Angliederung der Insel an Frankreich fördert.
Im bei weitem größten Teile von Korsika, überall da, wo
italienische Kultureinflüsse nicht durchgedrungen sind, gilt es für
den Mann nicht für anständig, das Feld selbst zu bestellen. Er
überläßt das der Frau oder, wenn möglich, gedungenen italieni-
schen Landarbeitern, wohl weil sie meist aus der Gegend von
Lucca sind oder waren, Lucchesen genannt, deren etwa 12000
alljährlich zu dieser Arbeit herüberkommen. Auf diese fleißigen
Leute sieht aber der Korse mit Verachtung herab und gebraucht
ihren Namen als Schimpfwort, gerade so wie der Magyare für
die besten Bürger des ungarischen Staates den Namen desjenigen
deutschen Stammes, aus welchem ein Schiller, ein Uhland, aus
welchem die Herrscherhäuser der Hohenstaufen, der HohenzoUern,
ja das eigene Herrscherhaus hervorgegangen ist, als Schimpfwort
gebraucht. Nur die ganz italienische Halbinsel des Kap Korso,
die Gegend von Calvi und von San Bonifacio sind sorgsam be-
stellt und gleichen baumreichen Gartenlandschaften, sonst aber
sind immer nur kleine Flächen um die Ortschaften angebaut.
Wein, Öl, Südfrüchte, Vieh und Holz geben die Mittel zur Er-
werbung der nicht hinreichend gewonnenen Brotstoff"e und anderer
Bedürfnisse. Die Viehzucht ist durchaus naturwüchsig, sie er-
streckt sich auch fast nur auf Schafe und Ziegen, denen die
saftarme, aromatische Vegetation besonders zusagt. Ähnlich wie
man vor zwanzig Jahren (und vielleicht noch heute) in der Groß-
stadt Palermo, vor Fälschung sicher, sich die Milchziege in das
dritte Stockwerk eines Palazzo der Hauptstraße hinaufbringen
und im Zimmer melken lassen kormte, so sind morgens und abends
auch in den Straßen der Städte Korsikas die Ziegen Charakter-
figuren. Nachdem sie tagsüber auf den Bergen und in den
duftigen Macchien der Milcherzeugung obgelegen haben, tragen
sie getreulich ihr Erzeugnis selbst in die Stadt, wo man beim Er-
scheinen der Herden die Hausfrauen und Mädchen aus den
Häusern herbeieilen sehen kann. Die korsische Ziege zeichnet
15*
— 228 —
sich durch merkwürdige Buntfarbigkeit ihres langen , hängenden
Seidenhaares aus.
Die Gewerbtätigkeit Korsikas erstreckt sich als Hausgewerbe
und durchaus bodenständig nur auf Deckung des eigenen Bedarfs
an Gebrauchsgegenständen, besonders der Bekleidungsstoffe der
Gebirgsbewohner, aus Leinen, Schafwolle und Ziegenhaar. Aus
letzterem fertigen namentlich die Frauen des Niolo die sogenannten
Peloni, rauhe Mäntel, in unübertrefflicher Wetterbeständigkeit an.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Insel wird aber doch
mit der Erschließung derselben durch Straßen und Eisenbahnen,
mit der Hebung des Verkehrs im allgemeinen und auch durch
den sich mehrenden Fremdenbesuch raschere Fortschritte machen.
Unter den Fremden wird nächst den Engländern die Zahl der
Deutschen immer größer, während gerade Franzosen die Insel
verhältnismäßig selten besuchen und die französischen Beamten
gern dieselbe so rasch wie möglich wieder verlassen. Ajaccio
namentlich entwickelt sich immer mehr zu einer vielbesuchten
Winterstation.
Alle diese Umstände, zu denen aber noch andere, im Volks-
charakter wurzelnde, hinzukommen, lassen keine dichte Bevölke-
rung auf der Insel erwarten. In der Tat hat Korsika, obwohl
es nur um looo qkm kleiner ist als das Großherzogtum Hessen
und trotzdem die vorher furchtbar zusammengeschmolzene Be-
völkerung seit der französischen Besitzergreifung stetig gewachsen
ist, nur so viel Bewohner, wie die kleine Provinz Oberhessen, so
daß nur ^2 Menschen auf i qkm kommen. Weite, mit Macchien
bedeckte Gebiete, besonders zwischen Ajaccio und Calvi, sind
fast menschenleer. Und doch könnte die Insel wohl die doppelte
Bewohnerzahl ernähren! Lehrreich ist dabei, daß das nördlichste
Viertel, die eigentliche Banda di dentro, auf ihrem nur Hügel-
land bildenden nichtkristallinischen Boden eine der mittleren
Frankreichs entsprechende Volksdichte hat, also doppelt so groß,
als dem Mittel der ganzen Insel entspricht, dreimal so groß wie
im kristallinischen Korsika. Auf dem etwa 2100 qkm des aus
geschichteten Gesteinen bestehenden Korsika wohnen 1 40 000
Menschen, im Arrondissement Bastia sogar 76 auf i qkm, auf
den 6600 qkm des kristallinischen Korsika nur 149000. Dieses
letztere ist denn auch vorzugsweise das Gebiet der Wälder und
Macchien, mehr von Hirten bewohnt als von Ackerbauern, vor-
— 229 —
wiegend der Schauplatz der Clanfehden und der Vendetta. Man
wird selten einen so durchgreifenden Einfluß des geologischen
Baues eines Landes auf den Charakter der Landschaft, den An-
bau, die Volksdichte und den Charakter der Bewohner feststellen
können, wie hier.
Dieser geringen Dichte der Bevölkerung entsprechend müssen
alle Städte, die naturgemäß vorzugsweise Küstenstädte sind, klein
sein. Bastia, noch immer die größte, hat doch nur 23000 Ein-
wohner, Ajaccio, so sehr es von Frankreich gefördert wird, nur
1 9 000. Die weit kleinere nationale Hauptstadt der Korsen,
Corte, liegt aber im Inneren, den Angriffen der Fremden mög-
lichst entrückt. Sie hat in der Geschichte der Insel, namentlich
im vorigen Jahrhundert, als Sitz des Diktators Pasquale Paoli
gegenüber Bastia und Ajaccio etwa die Rolle gespielt wie Dront-
heim als nationale Hauptstadt Norwegens in der Zeit, wo die
Hanseaten in dem günstiger gelegenen Bergen, die Dänen in
Christiania überwältigenden Einfluß auszuüben vermochten. Die
Lage von Corte ist eine sehr malerische und bevorzugte. Nahe
dem Mittelpunkt der Insel, auf der von einem kundigen Auge
sofort zu erfassenden geologischen Grenze zwischen dem hohen
rauhen Granitgebirge und dem rundere Formen und geringere
Höhe aufweisenden mesozoischen des nordöstlichen Viertels, also
auch zwischen dem wilden, menschenarmen Korsika und dem
besser angebauten volkreicheren, haben drei sich hier vereinigende
Flüsse, der Tavignano, der größte der Insel, und seine beiden
Nebenflüsse Restonica und S. Pancrazio, eine Talweitung aus-
gewaschen, deren durch ungeheure diluviale Geröllmassen wieder
aufgehöhte Sohle nur eine Meereshöhe von 400 m hat. Mitten
in derselben ist ein Felshügel von 100 m relativer Höhe stehen
geblieben, der, von gegen das Kristallinische steil aufgebogenen
Schichten gebildet, zur Hälfte noch vom brausenden Tavignano
umflossen und benagt wird, so daß dort ein 100 m hoher, fast
senkrechter Absturz entstanden ist, während gegen Osten der
Felshügel etwas weniger steil ist. Auf demselben liegt die noch
von den Franzosen als Festung benutzte Zitadelle, zu welcher die
Stadt mit übereinander aufgetürmten Häusern emporklimmt. Sie
bietet so, mit ihren weißen, hohen, fensterreichen Häusern sich
scharf von dem dunklen Gebirgshintergrunde abhebend, von fem
ein entzückendes Stadtbild. Freihch, das Innere entspricht dem
— 230 —
nicht. Schmutz und Unrat füllt die meist engen, steilen Gassen,
wenn auch nicht in dem Maße wie in Bastia. Zu der natür-
lichen festen Lage kommt noch eine gewisse Begünstigung für
friedlichen Verkehr: Corte ist der Knotenpunkt aller Verkehrs-
wege im Innern der Insel. Das offene Tal des Tavignano führt
zur Ostküste, das nahe und bequem zu erreichende Golotal nach
Nordosten nach Bastia, und selbst nach Ajaccio und an die
Westküste führen verhältnismäßig gangbare Pässe.
Während alle übrigen Städte ähnlich diesen drei größten
und geschichtlich wichtigsten aus engen Gassen mit hohen Häu-
sern bestehen und meist hoch auf steilen Bergen liegen, bestehen
die Dörfer, obwohl auch von ihnen viele eine ähnliche Lage
haben, im Gebirge häufig aus vereinzelten kleinen Häuschen, die,
aus Granitblöcken erbaut und mit Stroh gedeckt, von mächtigen
Kastanien beschattet werden.
Die Bevölkerung eines schwer zugänglichen, meerumschlosse-
nen Gebirgslandes wird notwendig auch in ethnischer Hinsicht,
in Charakter und Sitten manches Eigenartige haben bzw. erhalten
haben. Die Korsen dürften, wie man namentlich aus Schädel-
messungen zu schließen geneigt ist, Nachkommen der alten
Iberer sein, die sich von jeher, von der Landesnatur geschützt,
von fremder Zuwanderung und Blutmischung ziemlich rein er-
halten haben dürften, wie die schon erwähnte ligurische Kolonie
von S. Bonifacio und die im vorigen Jahrhundert in Carghese
angesiedelten Griechen zeigen. Die Schädelmessungen lassen
wenigstens einen einheitlichen Typus erkennen. Braunes Haar
und dunkle Augen überwiegen bei weitem, blonde sind wenig
vertreten. Nur im Niolo zeichnen sich die Bewohner durch
lichte Hautfarbe, blondes Haar und ungewöhnliche Körperhöhe
aus, so daß man auch in ihnen versprengte Reste der Goten
hat sehen wollen. Das Niolo, das schwarze Land, nach den
dunkeln Wäldern von Lariciokiefern benannt, ist in der Tat
das innerste, abgeschlossenste Hochtal der Insel, in welchem der
Golo von den Schneefeldern und Seen des Monte Cinto seine
Gewässer sammelt. Von der Westseite her ist es nur über den
1464 m hohen Col di Vergio, von Osten her nur durch die enge
Schlucht des Golo zugänglich, durch welche ein Ziegenpfad, seit
kurzem eine kühne Gebirgsstraße gebahnt ist. In 84 Windungen
führt dieselbe empor, einer Treppe gleich, daher Scala di Sta.
— 231 —
Regina genannt. Männer, welche zwei Meter und mehr messen,
sind im Niolo häufig, und mit dem zottigen Pelone bekleidet,
machen diese Riesen einen wildeu Eindruck. Das Niolo war
von jeher der Schauplatz der wildesten Vendetten, noch heute
werden zahlreiche Gensdarmen dort aufgeboten, wenn Markt ist,
um blutige Kämpfe zu verhindern. Auch sonst zeichnet sich der
Korse durch kräftigen, gedrungenen Körperbau aus. Er ist ge-
weckten Geistes, außerordentlich bildungsfähig und ehrgeizig,
Vaterlands- und freiheitsliebend, kriegerisch und tapfer, aber auch
leidenschaftlich und zu Gewalttaten geneigt. Die Volksbildung
ist allerdings noch sehr dürftig, Aberglaube führt allgemein noch
die Herrschaft. Das eigentliche Gebirgsvolk zeichnet sich ebenso
sehr durch Einfachheit wie Reinheit der Sitten aus. Untreue ist
selten und gilt als schwerste Verschuldung. Gastfreiheit wird in
Ehren gehalten, selbst gegenüber dem der Vendetta Verfallenen.
Bettler gibt es nicht, außer in einigen Städten, wo der Unverstand
der Fremden sie groß zieht. Die öffentliche Sicherheit läßt für
jeden, der nicht in Blutrache verwickelt ist, nichts zu wünschen
übrig. Doch dringen neuerdings manche Schattenseiten höherer
Gesittung ein. Der Absynthgenuß z. B. hat von Frankreich her
in Schrecken erregender Weise Verbreitung gefunden. Bezeich-
nend für Charakter und Gesittung der Korsen ist jedoch die
klägliche Stellung der Frau, obwohl einzelne Frauen wegen helden-
hafter Taten viel gepriesen werden. Alle Arbeit lastet auf der
Frau, sie verblüht daher rasch. Sie ist mehr die Sklavin als die
Genossin des Mannes. Sie darf nur das Mahl bereiten, aber
nicht mit dem Manne bei Tische sitzen; ja, es gibt viele Familien,
in denen ein besseres Brot für die Männer, ein geringeres für
die Frauen gebacken wird!
Manches Altertümliche hat sich wie bei anderen Gebirgs-
oder Inselvölkern auch bei den Korsen erhalten. Eigenartig ist
die Totenverehrung. Für die Eltern trägt man drei bis vier Jahre
Trauer, für Gatten das ganze Leben, wenn nicht eine neue Ehe
geschlossen wird. Jede Familie ist bemüht, eine eigene Toten-
kapelle zu besitzen, vorwiegend kleine viereckige, weiß getünchte
Bauwerke mit Kuppelgewölbe, die den Kubbas, den Gräbern
mohammedanischer Heiliger, wie man sie in Nordafrika so häufig
sieht, auffallend ähneln, namentUch wenn sie, wie häufig, ver-
einzelt und weithin sichtbar auf den Kuppen der Hügel errichtet
— 22,2 —
sind. Hier und da stehen sie, wie bei Ajaccio, in langen Reihen
nebeneinander, von Zypressen beschattet. Schmuckloser sind die
zahlreichen Kreuze an den Wegen, die die Stätte bezeichnen,
wo ein Mord verübt wurde. Hierher gehören auch die Toten-
klagen, die Voceri, die sich hier wie in Sardinien und anderen
abgeschlossenen Landschaften noch erhalten haben. Meist in
wehklagendem Tone von den Weibern vorgetragene gereimte
Improvisationen zur Verherrlichung des Toten, seiner Tugenden,
seiner Taten, wohl auch Vorwürfe, daß er sie verlassen habe,
vermögen dieselben, wenn sie einem Ermordeten gelten, auch auf
den Unbeteiligten einen furchtbaren Eindruck zu machen. Die
Weiber tauchen ihre Taschentücher in die blutenden Wunden,
benetzen die Leiche mit ihren Tränen, lassen ihre aufgelösten
Haare wehen, erheben die Hände in höchster Leidenschaft gen
Himmel und stoßen Schreie der Verzweiflung aus. Die Männer
zücken dann die Dolche, stoßen mit den Gewehren auf und
brechen in furchtbare Schwüre der Rache aus.
Die Blutrache ist auch ihrerseits ein Ausdruck tieferer Ge-
sittung und daher namentlich bei Gebirgsvölkern noch recht häufig,
in Europa beispielsweise noch bei den Mainoten und den Alba-
nesen. Es ist daher unrichtig, wenn behauptet worden ist, das
genuesische System, eine Familie gegen die andere zu hetzen,
um eine Einigung gegen den gemeinsamen Feind zu verhindern,
habe die Vendetta erst ins Leben gerufen. Gefördert hat es
dieselbe gewiß. Die Blutrache, gar nicht selten durch einen un-
beabsichtigten Totschlag hervorgerufen, erbt sich vom Vater auf
den Sohn und weiter, sie nimmt immer größere Ausdehnung an,
daß oft die eine Hälfte eines Dorfes gegen die andere, ein Dorf
gegen das andere zu Felde lag. Es ist vorgekommen, daß die
erwachsene Schwester den kleinen Bruder bei der Totenklage
das Blut des ermordeten Vaters saugen und ihn dabei schwören
ließ, den Toten zu rächen, sobald er ein Gewehr führen könnte.
Und der Knabe erfüllte den Schwur, noch ehe er erwachsen war.
Zehn Jahre lang (1830 — 1840) lieferten in Sartene, der viert-
größten Stadt der Insel, in deren Umgebung die Vendetta noch
am meisten blüht, die Bewohner der unteren Stadt denen der
oberen blutige Gefechte; ja noch anfangs der neunziger Jahre
ist es nahe bei Ajaccio zu einem Gefecht verfeindeter Familien
gekommen, bei welchem vier Tote auf dem Platze blieben und
— 2S3 —
es mit Mühe einflußreichen Männern gelang, Frieden zu stiften,
den alle Männer der gegnerischen Familien feierlich in der Kirche
auf dem Altare unter dem Läuten der Glocken und Ausstellung
der Sakramente unterschreiben mußten. Zuweilen wird auch durch
Abschluß einer Ehe der Frieden besiegelt. Nicht selten endet
aber die Fehde mit der Austilgung einer ganzen Familie. Im
Innern der Insel kann man selbst die Gemeinderäte mit dem ge-
ladenen Gewehr in der Hand oder umgehängt ins Rathaus zur
Sitzung kommen sehen. Auch heute noch ist die Achtung vor
dem Gesetz so gering, daß sich dies in viel gebrauchten Sprich-
wörtern ausprägt, wie z. B.: Ich lege mehr Gewicht auf ein
gutes Gewehr als auf einen guten Richter, oder: Wenn man
einen Feind hat, so hat man die Wahl zwischen drei S: schiop-
petta, stiletto, strada, d. h. Flinte, Dolch, Flucht. Sich selbst
Recht zu verschaffen, gilt für so heilige Pflicht, daß, wer es unter-
läßt, der Verachtung anheim fällt und man sich lieber dem Tode
als der Schande aussetzt. Einen Mörder aus Blutrache pflegen
korsische Geschworene freizusprechen, und wer nach einem
solchen Morde in die INIacchia flieht, ist, solange er kein gemeines
Verbrechen begeht oder gar einer Frau zu nahe tritt, der all-
gemeinen Teilnahme sicher. Die Hirten des Gebirges gewähren
ihm Zuflucht, die ganze Familie, der ganze Clan unterstützt einen
aus solchen Gründen Verfolgten gegen die Behörden und ihre
Organe. Wollte jemand gegen Geld einen derartig Verfolgten
verraten, der Rächer selbst würde ihn töten. So ist es möglich
gewesen, daß im Schutz der Macchien derartige Banditen, die
also keineswegs gemeine Räuber sind, Jahrzehnte lang allen Ver-
folgungen spotten konnten, ja die berühmte Banditenfamilie der
Bella Coscia hielt ein halbes Jahrhundert die Gensdarmerie in
Bewegung und schloß 1892 unter Gewährung völliger Amnestie
mit der Regierung förmHch Frieden. Schon 1870 war still-
schweigend ein Waffenstillstand eingetreten, als dieselben eine
Kompanie Franktireurs gegen die Deutschen ins Feld stellten. Im
vorigen Jahrhundert scheint die furchtbare Unsitte ihre größte
Entwicklung erlangt zu haben. Es erlagen derselben in manchem
Jahre bis zu 1000 Männer, meist natürlich in der Blüte der Jahre,
ja es wird die Zahl von 30000 für dreißig Jahre angegeben.
Mit so großem Erfolge die Franzosen auch dagegen angekämpft
haben, so beziff"erten amtliche Angaben, die aber sicher hinter
— 234 —
der Wahrheit zurückbleiben, die von 182 i — 1852 verübten Morde
noch immer auf 4300, und nachdem sich dieselben unter Na-
poleon in. durch Einführung strenger Spezialgesetze sehr ge-
mindert hatten, scheinen sie in der allerneuesten Zeit nach deren
Aufhebung sich wieder zu mehren. Man schätzte in den letzten
Jahren die Zahl der in den Macchien und Bergen umherirrenden
Banditen auf sechshundert. Nicht selten vereinigen sie sich zu
dreißig bis vierzig, nie aber bilden sie wirkliche Räuberbanden.
Sie erheben, wenn die Not sie zwingt, nur bei nächtlicher Weile
in den Dörfern die unerläßlichen Lebensbedürfnisse, die ihnen
niemand versagt. Auch wird der gewöhnliche Reisende, nament-
lich wenn er der Landessprache nicht kundig ist, und das Miß-
trauen, welches der Korse jedem Fremden entgegenbringt, zu
brechen vermag, kaum etwas, es sei denn durch Zufall im men-
schenleeren Hochgebirge, von Banditen und Banditentum merken.
Diese Mitteilungen beruhen daher auch vorzugsweise auf fran-
zösischen bzw. einheimischen Quellen.
Ausgefüllt mit fast ununterbrochenen Kämpfen der einzelnen
Familien und Clane untereinander oder gegen die Fremdherr-
schaft, besonders der Genuesen, kennt die Geschichte von Korsika
an Zügen ungebändigter Leidenschaft und Rachsucht, an der
Fülle furchtbarer Bluttaten kaum ihresgleichen; andererseits kann
sie sich aber auch an Taten aufopfernder Vaterlandsliebe vielleicht
nur mit mittelalterlicher Geschichte des rauhen Norwegens messen.
Sampiero, der große Patriot des 16. Jahrhunderts, der sich in
Frankreich und Italien vom einfachen Söldner zum berühmten
Condottiere aufgeschwungen und, heimgekehrt, die Genuesen fast
von der Insel vertrieben hatte, erwürgt mit eigener Hand sein
junges, schönes Weib, so glühend er es liebt, als der Verdacht
auf sie fällt, daß sie Beziehungen zu den Feinden angeknüpft
habe. Bald rächt sie der Dolch eines Verwandten. Als 1729
ein allgemeiner Aufstand gegen die Bedrücker ausbrach, schworen
die jungen Mädchen von Corte, keinem Manne ihre Hand zu
schenken, solange noch der Fuß eines Genuesen den Boden der
Heimat beschmutze. In der Tat gelang es, die Zwingherren bis
auf die festen Küstenstädte von der Insel zu verdrängen und die
ewige Trennung derselben von Genua auszusprechen, so daß ein
Abenteurer, ein westfälischer Edelmann, Theodor von Neuhof,
der sich rasch die Herzen der Korsen zu gewinnen gewußt hatte,
— 235 —
sich 1736 zum Könige von Korsika ausrufen lassen konnte. Frei-
lich war die Herrlichkeit nicht von Dauer; bis 1768 behaupteten
sich noch die Genuesen auf der Insel und traten sie dann an
Frankreich ab, das sich jedoch auch nur durch Eroberung in
ihren Besitz setzen konnte und erst 1796 sie endgültig mit sich
vereinte.
So versteht man, wie sich weder die Bevölkerung vermehren
noch der Wohlstand und die Gesittung heben konnte, und Frank-
reich hier noch eine große Aufgabe zu lösen hat. Aber zu den
Naturreizen kommt auf der Insel die Fülle der geschichtlichen
Erinnerungen, um jeder Örtlichkeit derselben eine besondere
Anziehung zu verleihen.
IV. Die Iberische Halbinsel.
I. Geographische Skizze der Iberischen Halbinsel. 0
Hinter den Pyrenäen fängt Afrika an, lautet ein französisches
Sprichwort. Wir Deutschen sagen: das kommt mir spanisch vor;
die Spanier selbst sprechen von Cosas d' Espana. Alle diese
sprichwörtlichen Wendungen sollen andeuten, daß in Spanien, wie
es tatsächlich der Fall ist, manches absonderlich und jedenfalls
anders ist als im übrigen Europa. Die Erklärung dieser Er-
scheinung haben wir wohl zunächst in der Landesnatur und den
von diesen beeinflußten geschichtlichen Verhältnissen zu suchen.
Die Iberische Halbinsel ist ein Länderindividuum mit so scharf
ausgeprägten, eigenartigen Zügen, daß sich kein zweites ihm in
Europa zur Seite stellen läßt, und nur etwa Arabien oder Afrika
Vergleichspunkte bieten. Sie ist eine Welt für sich, eine Welt
der Gegensätze. Einem hohen, weit nach SW vorgestreckten Vor-
gebirge Europas vergleichbar, eine zu sieben Achtel meerumflossene
Halbinsel, trägt sie doch im wesentlichen die Züge einer ge-
schlossenen Festlandsmasse, mit geringen Beziehungen zum Meer,
überwiegend festländischem, aber an Gegensätzen überreichem
Klima. Sie umfaßt trotz geringer meridionaler Erstreckung über
noch nicht acht Breitengrade, neben den regenreichsten Gebieten
von ganz Europa, neben Landschaften mit sommergrünen Wäldern
und Wiesen wie in Deutschland, wo die Bewohner Apfelwein
trinken, die niederschlagsärmsten Striche unseres Erdteils, wo nur
künstliche Bewässerung, etwa wie am Nordrand der Sahara, dem
dürren Steppenboden Ernten entlockt und neben den feurigsten
i) Ein Vortrag gehalten in der Ges. für Erdkunde zu Berlin am 4. März
1893. Verh. G. E. Berlin 1893 S. 131 — 146.
— 237 —
Weinen Südeuropas das Zuckerrohr gedeiht und die Dattelpalme
in ausgedehnten Hainen ihre Früchte reift! Abgesondert und in
sich abgeschlossen, auf sich angewiesen und auch nach der Fülle
und der Mannigfaltigkeit ihrer Erzeugnisse befähigt ein Sonder-
dasein zu führen, besitzt die Halbinsel doch vermöge ihrer Ober-
flächengestalt so grelle landschafthche, im Zusammenhang damit
wirtschaftliche und ethnische Gegensätze, daß sie zur Bildung
einer politischen Einheit dennoch unfähig erscheint.
Abgeschlossenheit und Vereinsamung, das sind die auffällig-
sten Charakterzüge der Iberischen Halbinsel, sie haben dort in
erster Linie Verhältnisse geschaffen, die dem Reisenden in Spanien
so vieles spanisch vorkommen lassen. Als der Gliederung und
der Inselbegleitung fast ganz entbehrendes, geschlossenes Fünfeck
erhebt sich dieselbe steil aus großen Meerestiefen zu einer mitt-
leren Höhe von etwa 640 m; nach dieser bedeutenden Höhe,
nach der Geschlossenheit der Oberflächengestalt wie der Umrisse
und der vorherrschenden Trockenheit des Klimas in der Tat ein
europäisches Afrika. Gegen Frankreich ist der hohe, geschlossene
Wall der Pyrenäen aufgetürmt; hinter diesem liegt der tiefe Gra-
ben des Ebrobeckens, welchem wiederum das eigentliche Iberische
Tafelland seinen höchsten Teil als Steilrand zukehrt. So betritt
man zu Land die Halbinsel nur auf den Wegen um die Enden
der Pyrenäen, von denen sich der eine durch das baskische, der
andere durch das katalonische Bergland, wie über Brücken zum
Tafelland selbst fortsetzt. Im Norden schließt das hohe kanta-
brische Gebirge vom Verkehr über das stürmische Biscayische
Meer mit schon ferneren Gegengestaden, etwa mit der Bretagne,
England und Irland ab; am Südrand, welchem das nahe, aber
auch durch hohe Bergketten abgeschlossene Gegengestade von
Kleinafrika gegenüberliegt, erhebt sich das noch höhere, aber
doch tiefere Querfurchen aufweisende andalusische Faltungssystem.
So kehrt die ganze Halbinsel sozusagen Europa und den Nach-
barländern den Rücken und vermag nur schwer die Vermittler-
rolle zwischen Europa und Nordwestafrika, zu der sie doch auf
den ersten Blick berufen erscheinen möchte, zu spielen. Nur
einmal, in der Blütezeit der mohammedanischen Herrschaft, hat
sie derselben entsprochen. Aber um so innigere Beziehungen
unterhält sie vielleicht zum Ozean? Zu diesem neigt sie sich ja,
diesem sendet sie ihre großen Ströme zu? Auch dies nicht;
— 238 -
denn letztere sind wasserarme, echtafrikanische Hochlandströme,
die das Innere nicht erschließen. Ohne Inselbegleitung, ohne
Gegengestade, ohne eigentliches Hinterland, wenn auch nicht
gerade arm an Häfen, vermochten die meist steilen und schmalen
Küstensäume keine seetüchtige Bevölkerung großzuziehen. Nur
in Katalonien mit den Balearen, und später wohl auch im Basken-
lande, war dies geschehen; an den Ozeanküsten mußte Seever-
kehr von außen eingebürgert, die Bevölkerung von Fremden zu
Seefahrern erzogen werden. Es ist urkundlich bezeugt, daß
wiederholt zu Beginn des 12. Jahrhunderts genuesische SchifTs-
bauer und Seeleute nach Galizien berufen wurden, um die Be-
wohner dieser doch so fischreichen Küsten gegen maurische See-
räuber zu schützen. Ähnlich erscheinen Genuesen als Admiräle
und Kapitäne der Flotten von Kastilien im Kampf gegen die
Mauren im 13. und 14. Jahrhundert; noch im 16. Jahrhundert
lag in Spanien die wissenschaftliche Leitung des Seewesens, die
Prüfung der angehenden Steuermänner, die Ausarbeitung von
Segelanweisungen ganz in den Händen von Italienern. In Por-
tugal betrieben umsichtige Herrscher die nautische Erziehung
ihres sich sehr langsam aus einem durchaus festländischen, meer-
scheuen in ein seefahrendes verwandelnden Volkes ganz syste-
matisch. Noch liegen uns die Urkunden vor, durch welche ein
genuesischer Admiral, Emmanuel Pessagno, 13 17 in die Dienste
Portugals trat und sich verpflichtete, stets zwanzig des Seewesens
kundige Genuesen als Kapitäne und Piloten im Dienst des Königs
zu halten. Hundert Jahre lang waren Italiener mit der Leitung
des portugiesischen Seewesens betraut, wie solche ja auch später
noch trotz der nationalen Eifersucht als Entdecker in portu-
giesischen Diensten auftreten; denn noch im 15. Jahrhundert
waren, nach dem Zeugnis des Barros, des zeitgenössischen por-
tugiesischen Geschichtschreibers des Entdeckungszeitalters, die
nautischen Keimtnisse der Portugiesen so gering, daß sie ihnen
nicht erlaubten, die Küsten außer Sicht zu verlieren. So sehen
wir, daß sorgsame, lange andauernde Schulung der Ozeananwohner
durch auf dem Mittelmeer ausgebildete Seeleute die Halbinsel
erst aus ihrer Vereinsamung gerissen hat. Wie Italiener schon
vorher, wie einst im Altertum die Phöniker auf ihren Fahrten
nach Flandern und England die Häfen der Halbinsel, besonders
Lissabon, mit ihren Flotten belebt hatten, so haben Italiener den
— 239 —
Grund gelegt zur Entwicklung Portugals zur Welthandels- und
Kolonialmacht, so hat ein Italiener der Halbinsel erst ihr fernes
Gegengestade gegeben, das wir mit Recht auch nach einem Ita-
liener benennen. Durch die Entdeckungen an der Westküste
Afrikas, durch die Entdeckung Amerikas, deren Gedenkfeier ja
soeben die ganze gesittete Welt begangen hat, ist die Halbinsel
erst in eine günstigere Weltstellung gerückt worden. Denn unter
allen Ländern Europas liegt sie Zentral- und Südamerika wie
Westafrika am nächsten, sie streckt sich denselben förmlich ent-
gegen, und Cadiz, Sevilla und Lissabon erscheinen wie zu Aus-
gangspunkten des Verkehrs nach jenen Ländern bestimmt. Es
haben so die geographischen Verhältnisse mitgewirkt, daß Spanien
und Portugal jene ihre fernen Gegengestade so lange beherrscht
und unter Ausschluß aller andern Völker ausgebeutet, auf die-
selben den tiefgreifendsten Einfluß ausgeübt haben. Freilich
dauerte diese Zeit größter Blüte nicht lange; denn sie war nicht,
wie etwa bei England, in der gesamten Landesnatur begründet,
sondern bis zu einem gewissen Grade künstlich herbeigeführt.
Die in Portugal auch ethnische, die Portugiesen von den Spaniern
differenzierende Rückwirkung jener fernen, übergroßen, auf einer
tiefen Gesittungsstufe stehenden Länder, die ihre Schätze, fast
ohne eigene, erziehende Arbeit ihrer Bewohner, über die Halb-
insel ergossen hatten, trug zu dem schon mit dem 17. Jahrhundert
beginnenden Verfall bei; die Vereinsamung trat nun um so mehr
wieder hervor, als die Bewohner der Halbinsel, die all ihr Denken,
alle ihre Spannkraft auf die Behauptung jener großen über-
seeischen Staatsdomänen zu richten hatten, sich Europa mehr und
mehr entfremdeten. Die Beziehungen zu jenen Ländern sind
Spanien und Portugal somit geradezu verhängnisvoll geworden;
zurückgeblieben, verarmt, entvölkert, wiegt die Halbinsel, obwohl
sie an Größe das Deutsche Reich beträchtlich überragt, heute
recht leicht in der Wagschale der europäischen Politik, und ihre
Bewohner haben auf die Entwicklung der menschlichen Gesittung
in den letzten Jahrhunderten fast gar keinen Einfluß auszuüben
vermocht.
Wenn wir die Ursachen dieser Erscheinungen bis zu ihren
letzten Wurzeln verfolgen, so liegen dieselben sämthch in der
Landesnatur, vor allem in der Oberflächengestalt der Halbinsel,
und diese wird gekennzeichnet durch den alles beherrschenden
— 240 —
Gegensatz eines großen zentralen Gebiets und der sich rings-
um anlagernden schmalen Randlandschaften. Ein Meister
unserer Wissenschaft hat uns zuerst ein tieferes Verständnis des
Erdteils Asien erschlossen, indem er vor allem den Gegensatz
zentraler und peripherischer Gebiete klar darlegte. Einen ähn-
lichen Gegensatz, wenn auch im kleinen und gemildert, auf den
sich auch die Begriffe zentral und peripherisch nicht in voller
Schärfe anwenden lassen, haben wir auf der Iberischen Halb-
insel. Diesen alles beherrschenden Gegensatz, der jeden Reisen-
den, wo immer er aus den Randlandschaften zu den zentralen
emporsteigt, in seiner Unvermitteltheit in Staunen versetzen
muß, gestatten Sie mir wohl hier etwas eingehender zu beleuchten.
Zu diesem Zweck wäre es nötig, ein Bild der Oberflächen-
gestalt der Halbinsel selbst zu entwerfen. Das wäre aber nur
möglich unter Eingehen auf die geologische Geschichte und die
Tektonik, so daß ich fürchten müßte, Ihre Aufmerksamkeit zu
lange in Anspruch zu nehmen. Ich bescheide mich daher mit
einem Entwurf in großen Zügen, etwa als legte ich Ihnen eine
Karte aus einem kleinen Schulatlas vor.
Der Kern derselben und reichlich drei Viertel ihres Flächen-
inhalts wird gebildet von der alten Iberischen Scholle, einem der
ältesten Stücke des europäischen Festlandes. Aufgebaut aus
archäischen und paläozoischen Felsarten, war dieser Teil der
festen Erdkruste zu Ende der Karbonzeit zu einem gewaltigen
Gebirge von alpinen Verhältnissen zusammengefaltet worden.
Heute ist von demselben, nachdem fast ringsum Randstücke auf
sich nahezu rechtwinklig schneidenden Systemen von Bruchlinien
in die Tiefe gesunken sind, und der Rest einer lange dauernden
Abtragung, teils durch die Brandungswoge des Meeres, teils durch
die zerstörenden Kräfte des Luftkreises ausgesetzt gewesen ist,
nur noch das Grundgerüst vorhanden. Aber selbst dieses tritt
nur am Westrand der Halbinsel unverhüllt zutage, sonst trägt es
überall eine mächtige Decke wagerecht liegender Schichten,
welche aus den Trümmern des alten Gebirges im mesozoischen
Zeitalter auf dem Grund des über die alte Scholle hinüber-
greifenden Meeres, in der Tertiärzeit in ungeheuren, dieselbe
zum Teil bedeckenden Süßwasserseen gebildet wurden. Die
weiten Ebenen von Alt- und Neukastilien auf der einen, von
Aragonien auf der andern Seite entsprechen den großen tertiären
— 241 —
Seen, zu denen noch eine Anzahl kleinerer hinzukommt; das
beide voneinander scheidende Gebirge besteht aus den nur durch
Bruchlinien zerstückten und durch die rinnenden Wasser ge-
gliederten, wagerecht liegenden Schichten jener mesozoischen
Transgression , die durch eine wohl zu Ende der Tertiärzeit er-
folgte Hebung zur Hauptwasserscheide der Halbinsel und zur
größten INIassenanschwellung derselben wurde, ein Gebiet, welches
in einer Ausdehnung von mehr als 55 000 qkm eine mittlere
Höhe von mehr als 1000 m hat. Auch wo das Grundgerüst der
Iberischen Scholle der jüngeren Decke entbehrt, erscheint es glatt
abgeschliffen wie im südUchen Portugal in großer Ausdehnung als
Ebene; in andern Gegenden ist die Faltung ähnlich wie in un-
serem Rheinischen Schiefergebirge, an welches man vielfach er-
innert wird, in niederen, dem Taunus zu vergleichenden Höhen-
zügen erkennbar, und wiederum anderwärts, namentlich in Nord-
westen, haben Granitdurchbrüche in einer Ausdehnung von etwa
50 000 qkm ein unregelmäßiges Berg- und Hügelland hervor-
gerufen. Überall aber sind die relativen Höhen gering, außer in
dem zentralen Scheidegebirge, über dessen genetische Beziehungen
wir noch nicht hinreichend aufgeklärt sind, das aber doch wohl
als eine Reihe von Horsten aufzufassen ist. Da somit der größte
Teil der alten Scholle eine jüngere Decke tafellagernder Schichten
trägt, auch die unbedeckten Teile vielfach zur Form der Ebene
abgeschUffen sind, so glauben wir die Oberflächengestalt am besten
zu kennzeichnen, wenn wir, nach A. v. Humboldts Vorgang die
einheimische Bezeichnung Meseta übertragend, von einem Ibe-
rischen Tafelland sprechen.
Diesem gewaltigen Hauptbau der Halbinsel sind nun später
zwei Anbauten hinzugefügt worden, so grundverschieden nach
Plan und Stil, wie es etwa Baumeister früherer Jahrhunderte
fertig brachten, fast als hätte man an einen alten massigen do-
rischen Tempel, die Iberische Scholle, als Seitenflügel zwei reich
gegUederte, himmelanstrebende luftige gotische Dome angebaut:
das andalusische Faltensystem im Süden, das pyrenäisch-kanta-
brische im Norden. Beide haben ihre Ausgestaltung erst in der
zweiten Hälfte der Tertiärzeit erfahren und sind durch seitlichen
Druck gegen die alte, tief verfestigte Scholle hingepreßt und
emporgefaltet worden, die sie nun als hohe Wälle vom Meer ab-
schließen. Hier haben wir es also mit parallelen, durch Längs-
Fischer, Mittelmeerbilder. l6
— 242 —
und Quertäler gegliederte Gebirgsketten zu tun, welche ihrer
Höhe nach in Europa nur von den Alpen übertroffen werden
und somit das Tafelland weit überragen, Gebirge von großer
Mannigfaltigkeit des inneren Baues und überaus wechselvollen
Oberflächenformen.
Die dem zentralen Tafelland an- und vorgelagerten Rand-
landschaften besitzen somit als Faltenlandschaften eine zum Teil
schon in ihrer Entstehung begründete, von diesem völlig ver-
schiedene Oberflächengestalt; zum Teil ist dieselbe, wo es sich
nur um die Abdachung der alten Scholle zum Meere handelt,
durch die rinnenden Wasser geschaffen bzw. weiter ausgebildet
worden. Das hohe, gegen das Meer fast ringsum durch noch
weit höhere Gebirgswälle abgeschlossene zentrale Gebiet beeinflußt
nämlich zunächst in hohem Grad die klimatischen Verhältnisse
und gibt auch diesen im kleinen einen Anstrich, welcher an Asien
erinnert. Namentlich entwickelt sich während des Sommers hier
ein Gebiet bedeutender Erhitzung und Auflockerung der Luft,
welches Luftströmungen von den umgebenden Meeren, nament-
lich aber von N und NW und damit besonders große Nieder-
schläge an der ganzen hohen Nordseite hervorruft. Die Rand-
landschaften zeichnen sich daher ringsum, da sie vom Innern
abgeschlossen und mit steilem Anstieg dem Meer zugekehrt sind,
durch maritimes Klima aus, also ziemUch gleichmäßigen Gang
der Wärme, milde Winter, reichliche Niederschläge und so große
Luftfeuchtigkeit, daß an einzelnen Punkten alles Eisen sofort
rostet und das Kochsalz zerfließt. Vor allem zeigen sich die
Niederschlagsverhältnisse, die ja durch G. Hellmann vor wenigen
Jahren eine mustergültige Darstellung erfahren haben, boden-
plastisch beeinflußt. Die Niederschlagshöhe sinkt in den Rand-
landschaften nirgends unter 60 cm, ja von der Tejomündung um
den West- und Nordrand bis zur Bidassoa nicht unter 80 cm,
und steigt in größeren Gebieten auf 160 cm, ja an der portu-
giesischen Serra da Estrella auf 3,5 m, eine Niederschlagshöhe,
die in Europa selten wiederkehrt. Und diese Niederschlags-
mengen verteilen sich überall am Nordrand auf drei Jahreszeiten,
ja selbst der Sommer ist dort nicht niederschlagsarm zu nennen.
Nur die südöstlichen Randlandschaften von Südvalencia und
Murcia, die in jeder Hinsicht in den engsten Beziehungen zum
Tafelland stehen, sind infolge ihrer Lage und Oberflächengestalt
— 243 —
unter den Randlandschaften verhältnismäßig niederschlagsarm, in
dem Maße, daß dort vielfach das Land, wo es nicht künstlich
bev^rässert werden kann, im Angesicht des Mittelmeers völligen
Steppencharakter annimmt. Vom Meer abgeschlossen, haben die
inneren Landschaften der Halbinsel wesentlich festländisches
Klima, heiße Sommer und kalte Winter, bei großer Veränderlich-
keit der Temperatur und großer Trockenheit. Hier liegen die
niederschlagsärmsten Landschaften Europas.
Diese Gegensätze des Klimas verschärfen nun noch mehr
die Gegensätze der Oberflächengestaltung. In den auch petro-
graphisch und tektonisch mannigfaltigeren Randgebieten besitzen
die reichlich genährten Flüsse und Bäche bei der Steilheit des
Abfalls außerordenthche Erosionskraft, überall ist das Land von
meist engen und tiefen Tälern zerschnitten, das Relief ein wechsel-
volles. In Asturien hatte man die größte Mühe, eine ebene
Strecke von nur i km Länge zu finden, um eine Standlinie
für die Landestriangulation zu messen! Auf dem Tafelland da-
gegen ist bei den geringen Niederschlägen und den geringen
Höhenunterschieden die Erosionskraft des Wassers gering, ja es
dürften dort die Bewegtheit des Reliefs mildernde Staubablage-
rungen nicht ganz wirkungslos sein. Bei der weiten Verbreitung
der losen tertiären und quartären Ablagerungen, der großen, das
ganze Jahr herrschenden Trockenheit und der Hitze des Sommers
sind Staubstürme dort keine Seltenheit; wochenlang lagert sich
im Sommer eine Art Hitznebel über die weiten Ebenen, gebildet
durch feinste Staubteilchen, welche mit der überhitzten Luft auf-
steigen. Die Erscheinung ist so gewöhnlich, daß man einen
eigenen Namen, Calina, dafür hat. Sie ist oft so intensiv, daß
die Sonne als blasse Scheibe erscheint, in die man ungeschützten
Auges sehen kann. Erst wiederholte heftige Regengüsse im
Herbst vermögen diese Staubmassen niederzuschlagen und die
Luft zu reinigen. Während so an der Nordküste auch im Som-
mer alles frisch und grün ist, erscheint die Landschaft in KastiUen
grau in grau; alle Wege verwandeln sich in tiefe Staubbetten,
Staub bedeckt die Reste der verdorrten Vegetation, die Felder,
die Häuser, die Menschen.
In den Randlandschaften also ein reich gegliedertes Relief,
hohe Berge mit lange ausdauernder Schneebedeckung, ja selbst
mit Gletschern noch in Andalusien, tiefe, gewundene, nicht selten
i6*
— 244 —
kanonartige Täler, die alle zum Meer ausmünden, oftmals viel-
verzweigte, ausgedehnte, aber in sich abgeschlossene und schw^er
zugängliche Talschaften fast mit alpinen Verhältnissen, auf dem
Tafelland überall ebenflächige Ausbreitungen, wie schon die immer
wiederkehrenden Bezeichnungen Meseta, Paramo und Muela er-
kennen lassen, höchstens zu flachwelligem Hügelland gegliedert,
ja einförmige, baumlose, tischgleiche Ebenen, in denen man sich,
wie in der Mancha, auf hunderte von Kilometern vorwärts be-
wegen kann, ohne seine Meereshöhe auch nur um 50 m zu ändern.
Dort gefällreiche, gewerbliche Anlagen treibende, zum Teil vom
Hochland durchbrechende Flüsse, murmelnde Bäche, von Forellen
belebt, grüne Wiesen auf den Talsohlen wie in Deutschland,
grüne, frische Wälder aus Buchen, Eichen, Eschen, Kastanien
und dergleichen an den Berghängen, wo der Boden von Heidel-
beergestrüpp oder üppigem Farnkraut bedeckt ist, efeuumrankte
Felsen und Ruinen; hier wasserarme, träge dahinschleichende
Flüsse, die keine Täler zu bilden vermocht haben und sich
streckenweise in Sümpfen verlieren; Bäche, die nur selten Wasser
führen, aber häufig stehende Gewässer, die zwar flach, aber oft
seeartig ausgedehnt, im Sommer nicht selten ganz verdunsten
oder salzhaltig werden; selbst Salzseen in kleinen abflußlosen
Becken in Einsenkungen der Ebenen kommen vor; jede flache
Bodenschwelle ist als Ersatz der fehlenden Wasserkraft von den
klassischen Windmühlen Don Quixotes besetzt; bald herrscht,
namentlich auf dem jungen Deckgebirge völlige Baumlosigkeit,
und erscheinen unabsehbare Flächen bei dem geringen Anbau
als dürftige Gips- und Salzsteppe, bald sind die flachen Wellen
des alten Gebirges mit niederen, dürftig belaubten, aber vielfach
aromatischen und blütenprächtigen Gestrüppdickichten bedeckt.
Meist liegen diese Gegensätze so dicht beieinander, daß sie um
so drastischer wirken, mag man von Katalonien oder Valencia
oder vom Kantabrischen Meer dem Hochland zustreben. Denn
ringsum steigt man, die Eisenbahnen benutzend, durch zahllose
Tunnels und Überbrückungen von den Küsten zum Tafelland
empor. Am größten und unvermittelsten sind die Gegensätze
allerdings am Nordrand. Die Eisenbahn, um nur ein typisches
Beispiel zu nennen, welche Asturien und Altkastilien verbindet,
hat in 60 km Luftlinie vom Meeresufer fast Brennerhöhe zu er-
klimmen und vermag zuletzt einen Steilanstieg von 280 m nur
— 245 —
zu überwinden, indem sie eine gerade Entferung von nur 1 1 km
zu 43 km in 60 Tunneln auszieht. Aus dem La Perruca-Scheitel-
tunnel, welcher unter dem Puerto de Pajares in 1283 m Höhe
hindurchgeführt ist, hervortauchend, sieht der Reisende unabsehbar
die einförmige Ebene von Altkastilien zu seinen Füßen liegen.
Diese Schwierigkeiten des Landverkehrs bewirken, daß auch heute
noch Schiffahrtslinien rings um die Halbinsel, von Bilbao bis
Barcelona, in Betrieb sind und einen beträchtlichen Teil des
Güterverkehrs vermitteln.
Ebenso groß sind auch die Gegensätze in der Boden-
verwertung und im Ertrag des Bodens. Die Randlandschaften
sind überall der Sitz eines blühenden, auf hoher Entwicklungs-
stufe, nicht bloß nach spanischem Maßstab, stehenden Acker-
baues, der mehr mit der Hacke oder hackeähnlichen Geräten
betrieben, bei vorherrschendem Kleinbesitz oder Kleinpacht mehr
den Charakter der Gartenwirtschaft trägt, in den nördlichen
Randlandschaften mit geringer oder ganz fehlender, in den medi-
terranen unter ausgiebigster Anwendung eines wunderbar ent-
wickelten Systems künstlicher Bewässerung. Die Mannigfaltigkeit
der angebauten Gewächse, die Fülle von Fruchtbäumen der ver-
schiedensten Art geben der Landwirtschaft der Randlandschaften
ein eigenartiges Gepräge und rufen den Eindruck ungeheurer
Gartenlandschaften hervor, so daß ich das ganze mediterrane
Randgebiet von Katalonien bis Andalusien geradezu den Gürtel
des Huertas (von hortus, Garten) nennen möchte. Die künstliche
Bewässerung erhöht dort den Wert des Bodens und die Erträge
in dem Maße, daß überall selbst die großartigsten, kostspieligsten
Anlagen, Terrassierungen der Berghänge, bis hoch hinauf, Fels-
sprengungen, Kanäle, welche weit hin bald an den Berghängen
entlang, bald in Tunneln durch die Berge, bald in staunens-
werten Überbrückungen über tiefe Schluchten dem fruchtbaren
Boden das Wasser zuführen, sich noch lohnen. Ganze Flüsse
werden durch Stauwerke, wie sie in Europa nirgends wieder-
kehren und sich etwa nur noch in Indien finden, zu Seen an-
gespannt, welche die Berieselungskanäle das ganze Jahr speisen.
Das berühmte Berieselungssystem der Huerta von Valencia, das
als Muster für den ganzen Gürtel der Huertas gelten kann, ist
ja bekannt genug. Düngung, abgesehen von der schon vom
Rieselwasser gegebenen, mit Guano und anderen künstlichen
— 246 —
Mitteln, ja mit allen irgendwie erreichbaren Abfallstoffen, wie in
China, wird dort im reichsten Maße angewendet, der Straßen-
schmutz, der Kehricht selbst, wird teuer bezahlt. So trägt der
Boden in den Huertas auch mindestens zwei Ernten im Jahr,
meist mehr, und zieht man besonders hohen Ertrag gebende Ge-
wächse, wie Zuckerrohr, Baumwolle, Reis, Apfelsinen u. dgl. In
den Huerta von Valencia kann man die wichtigste Futterpflanze,
Luzerne, sechs Jahre lang 10 — I2mal im Jahre schneiden. In
Murcia gibt bewässertes Land den 3 7 fachen Ertrag des un-
bewässerten, und der Wert des Bodens steigt dort auf 10 000
Pesetas (Franken) für den Hektar, ja für Apfelsinenland zahlt
man in der Huerta von Alcira, in der südlichen Küstenebene
von Valencia, 18 — 24000, ausnahmsweise bis 30000 Pesetas!
Solche Preise lassen auf eine sehr hoch gestiegene Bodenkultur
schließen und zeigen, daß in den Randlandschaften von Trägheit
und Zurückgebliebenheit der Bevölkerung keine Rede sein kann.
Bewundernd sieht man, wie vielfach, namentlich im südlichen
Katalonien, mit Pulver der Felsboden, meist wohl nur eine der
nordafrikanischen ähnliche Kalkkruste, gesprengt und mit schweren
Hämmern zerkleinert wird, um ihn mit guter Erde gemischt trag-
fähig zu machen, oder wie die Felsbrocken zu breiten, hohen
Wällen aufgetürmt werden, die dann zugleich Windschutz ge-
währen. In solcher Weise ist ein großer Teil des Campo de
Tarragona allmählich in reiches Fruchtland verwandelt worden,
und zwar schon seit römischer Zeit, wie es andererseits auch
irrig ist, die Bewässerungsanlagen ausnahmslos auf die Araber
zurückzuführen. Auch da können die christlichen Spanier bis in
die Gegenwart sich großer Leistungen rühmen. Ein großer Teil
des Campo de Tarragona war gebildet aus einer i m mächtigen
Travertinschicht, auf welcher nur die allerbescheidensten Vertreter
der Mediterranflora Nahrung finden; unter derselben liegt aber
sandiger oder kalkiger Ton. Durch Sprengen und Zermalmen
des Travertins und Mischung desselben mit dem Ton, durch Be-
rieselung der so gewonnenen fruchtbaren Erde, namentlich aus
gebohrten Brunnen, dehnt sich so vor unsern Augen noch heute
dies Fruchtgefilde immer weiter aus. Nur in Norwegen, wo aber
dem eisernen Fleiß kein so reicher Lohn winkt, kann man ähn-
liches beobachten. Freilich von dem Lohn der Arbeit empfängt
hier der Arbeiter, der das Land mit seinem Schweiß düngt, einen
— 247 —
gar zu bescheidenen Teil. Er lebt als kleiner Pächter des über-
großen, geschichtlich gewordenen, namentlich früher in der Hand
der Kirche angehäuften Großgrundbesitzes meist in kläglicher
Annut und nährt sich, oft mitten in der üppigsten Huerta, recht
dürftig. Daher ist es hier in rein oder überwiegend landwirt-
schaftlichen Provinzen schon häufig zu sozialistischen und kom-
munistischen Aufständen gekommen. Die Behandlung mancher
Erzeugnisse, wie Wein und Öl, ist freilich auch noch eine so
schlechte, daß dieselben minderwertig bleiben. Unter den Aus-
fuhrgegenständen Spaniens stehen die Erzeugnisse der Pflanzen-
welt bei weitem obenan; sie allein machen etwa 66^: ^^ der Ge-
samtausfuhr aus: die Randlandschaften sind es, welche sie fast
allein liefern!
Aber die Randlandschaften, und fast sie allein, bergen auch
innere Schätze. Wie schon die Phönizier hier ihre Schatz-
kammern füllten — es sei nur an Tartessos erinnert — , nach
ihnen Karthager und Römer, so ist die Halbinsel heute wiederum
eines der ersten bergbauenden Länder der Erde, in bezug auf
Mannigfaltigkeit der bergbaulichen Erzeugnisse vielleicht von
keinem übertroffen. Dieser Reichtum mag wohl vorzugsweise
darauf beruhen, daß in den Randlandschaften Schichtenstörungen
am intensivsten und häufigsten waren, daß dort die archäischen
und paläozoischen Felsarten vielfach von Verwerfungen zerstückt
und von den verschiedenartigsten Eruptivgesteinen durchsetzt sind.
Die Schätze Amerikas hatten den Erzreichtum des eigenen Landes
ganz in Vergessenheit gebracht; erst nach dem Verlust der
amerikanischen Kolonien erinnerte man sich derselben wieder.
Aber fremder Unternehmungsgeist, fremdes Geld, fremdes Können
und Wissen hat den spanischen Bergbau wieder zur Blüte ge-
bracht. Engländer, Franzosen, Deutsche, Belgier, ziehen daher
bis heute den größten Vorteil aus demselben. Wie oft findet
der deutsche Reisende in den öden Gebirgslandschaften des
Südostens gastliche Aufnahme bei einem deutschen Bergmann,
der dort als Leiter eines großen Betriebes ein einsames, ent-
behrungsreiches und freudenarmes Dasein führt. Den Randland-
schaften des Nordens gehören jene überreichen Vorkommen der
vortrefflichsten Eisenerze im Baskenlande, besonders in der Um-
gebung von Bilbao an, wo dieselben in Tagebauen, meist dicht
am Meer, gewonnen werden. Eigene Dampfer führen von dort
— 248 —
aus eigenen Bergwerken den Kruppschen Werken in Essen die
Erze zu. Auch Asturien ist reich an Eisen, noch reicher aber
an Steinkohlen, die ebenfalls dem Meer nahe billig gewonnen
werden. Die Römer betrieben im westlichen Asturien jahrhunderte-
lang auch einen großartigen Goldbergbau, dessen Spuren noch
allenthalben zu erkennen sind, der aber heute nicht mehr lohnen
würde. Das wichtigste Bergbaugebiet liegt heute am Südwest-
rand der Iberischen Scholle in der Provinz Huelva, wo 22 — 24^0
des Kupfergewinnes der Erde, ebenfalls in Tagebauen und billig,
gefördert wird. Ich nenne nur den allbekannten Namen Rio
Tinto. Blei und Silber werden vornehmlich in dem archäischen
und paläozoischen inneren Gürtel des andalusischen Falten-
systems, in der Umgebung von Almeria und Kartagena, gewonnen.
Sonnenverbrannte, wild zerrissene, wasserarme, völlig menschen-
leere Gebirge sind dort seit 50 Jahren erschlossen worden, die
schmale silurische Sierra Almagrera, dicht am Meer, in der
Mitte zwischen den beiden genannten Seestädten, eines der
erzreichsten Gebirge der Erde, hat dem kalifornischen Gold-
fieber ähnliche Erscheinungen hervorgerufen, als man 1838 ihren
Silberreichtum wieder entdeckte. Auch in Katalonien wird Berg-
bau auf Blei und Silber getrieben. Die 130 — 150 Mill. Pes.,
welche dem Wert der jährlichen Ausfuhr Spaniens an Erzeug-
nissen seines Bergbaues entsprechen, kommen so ebenfalls fast
ausschließlich auf die Randlandschaften. Nur etwa die Queck-
silberbergwerke von Almaden verdienen auf dem Hochland Er-
wähnung.
Bergbau und Ackerbau liefern nun aber auch die RohstoiTe
für die spanische Gewerbtätigkeit, die somit ebenfalls ihre
Sitze lediglich in den Randlandschaften hat, wo sie überdies
durch die vorhandenen Wasserkräfte, die vom Innern Hochland
oder aus den Faltengebirgen herabstürzenden Bäche und Flüsse
wesentlich gefördert wird. So beleben gewerbliche Anlagen die
Täler des Baskenlandes oder Asturiens, oder in Katalonien be-
fruchtet dasselbe Wasser, welches eben noch Triebkraft war, als
Rieselwasser den Boden. Und aus dieser bodenständigen Ge-
werbtätigkeit konnte sich in den über das völkerverbindende
Meer schauenden Randlandschaften leicht eine mit überseeischen
Rohstoffen arbeitende entwickeln. Die Randlandschaften wurden
somit auch die Sitze des Handels. Ihre Bewohner traten mit
— 249 —
anderen Völkern in häufigeren Verkehr; größere geistige Regsam-
keit, rascheres Fortschreiten auf allen Gebieten des materiellen
und geistigen Lebens, größerer Wohlstand mußte hier Platz greifen,
alles freilich, um das Bild nicht zu verlockend erscheinen zu
lassen, mit spanischem Maßstab gemessen! Am meisten mußte
dies der Fall sein im Baskenlande und in Katalonien, die ge-
wissermaßen als Brücken zugleich auch den Landverkehr mit
Frankreich und dem übrigen Europa vermitteln. Das wirtschaft-
liche Schwergewicht liegt somit heute auf den Randlandschaften.
So mußte sich also in diesen auch die Bevölkerung in einem
für die menschenarme Halbinsel ungewöhnlichen Maße auf das
Doppelte und Dreifache der mittleren Dichte verdichten. Dem-
nach liegen alle Großstädte der Halbinsel, bis auf die Hauptstadt
Madrid, in den Randlandschaften. Bei etwa 45% ^^^^ Flächen-
inhalts kommen (yd^/^ der Bevölkerung auf diese.
Den Gegensatz des zentralen Gebietes in allen seinen
Verhältnissen den Randlandschaften gegenüber kann man sich,
trotzdem die größte Meerferne nur etwa 300 km beträgt, kaum
grell genug denken. Größte Einförmigkeit der Oberflächengestalt,
der Bodenarten, die gleichen klimatischen Verhältnisse und Be-
dingungen des Anbaus, die gleichen Erzeugnisse, die gleiche
Unterlage des wirtschaftlichen und des geistigen Lebens überall.
Die Decke mesozoischer und tertiärer Gesteine entbehrt der
inneren Schätze völlig, und da zugleich in den unabsehbaren
Ebenen und bei der großen Trockenheit des Klimas die Wasser-
kräfte und Brennstoffe, wenigstens bis jetzt, fehlen, so fehlen
auch alle Bedingungen zur Entwicklung der Gewerbtätigkeit.
Ackerbau und Viehzucht beschäftigen die Bewohner daher aus-
schließlich, sind aber so einförmig wie das Land selbst; jener
erstreckt sich nur auf Weizen, diese auf Schafe (Merinos), aber
auch die Schafzucht ist in Verfall, im Süden auch auf Schweine.
Die Beziehungen zu den Randlandschaften, und durch deren
Vermittelung mit der übrigen Welt, sind erschwert durch die
hohen Randgebirge, durch welche erst spät und unter ungeheuren
Kosten Verkehrswege gebahnt werden konnten. Besitzt doch das
arme Spanien nächst den Alpen die großartigsten, freilich in den
Händen fremder, besonders französischer Gesellschaften befind-
lichen Gebirgsbahnen in Europa. Ungeheure Strecken des Tafel-
landes entbehren des Anbaus ganz; abgeerntet gleichen die
— 250 —
Weizenfelder auch ihrerseits im Spätsommer öden Steppen.
Kein Wald, kein Fruchthain belebt das einförmige Land-
schaftsbild, meist ohne einen Kranz von Gärten, freudlos und
reizlos sind die Siedelungen mitten in die kahle Ebene hinein-
gestellt, oft 20 — 30 km voneinander; denn kleine Ortschaften,
Dörfer in deutschem Sinn, Weiler und Einzelhöfe gibt es nur
in den Randlandschaften, wo denselben die herrlichen Frucht-
haine, in welchen sie fast verschwinden, noch besondere Reize
verleihen.
An geschichtlichem Wert, an anziehenden Bauwerken fehlt
es diesen Städten allerdings fast niemals; aber überall sieht man
die Spuren des Verfalls, ganze Straßen, ganze Viertel sinken in
Trümmer, fast allein in der rasch emporgeblühten Hauptstadt
sieht man Neubauten. Einzelne, wie Toledo, Avila, Teruel
gleichen Museen mittelalterlicher Kunst. Der fruchtbarste Boden
wird aufs lässigste bebaut und bringt geringen Ertrag; Düngung
und künstliche Bewässerung, die in weit größerer Ausdehnung
möglich wären, als sie angewendet werden, sind in ganzen Land-
schaften unbekannte Dinge. Alle Versuche, sie einzubürgern,
scheitern an den Vorurteilen und, nach dem Ausspruch eines
spanischen Patrioten, an der an Stumpfsinn grenzenden Trägheit
der Bewohner. Weite Strecken, oft zusammenhängend Tausende
von Quadratkilometern, im SW von Toledo z. B. eine ganze Pro-
vinz von etwa 5000 qkm, liegen völlig unbewohnt da, die be-
rüchtigten Despoblados. Stillstand, ja Rückgang, Verödung, Ent-
völkerung treten uns fast überall in den zentralen Landschaften
entgegen; auch hier geben die ackerbauenden, d. h. die zentralen
Gebiete ihre Bewohner an die Bergbau und Gewerbe treibenden,
d. h. an die Randlandschaften, ab und entvölkern sich noch
mehr. Selbst die Provinzhauptstädte der zentralen Gebiete, außer
Madrid, zeigen eine Abnahme der Bevölkerung, deren Dichte
schon heute in vielen Provinzen auf 14 — 15 Köpfe, also unter
die Hälfte Spaniens, etwa auf ein Drittel des dünnstbevölkerten
Regierungsbezirks von Preußen, Köslin, gesunken ist. Die zentralen
Landschaften sind es vorzugsweise, welche trotz sehr geringer
überseeischer Auswanderung die Bevölkerung Spaniens überaus
langsam zunehmen machen.
Diese Erscheinungen erklären sich zunächst aus der Ge-
schichte des Landes, in welcher selbst wir aber überall die Wir-
— 251 —
kungen der geographischen Verhältnisse erkennen. Die zentralen
Landschaften, namentlich die durch die Sierra de Guadarrama
nicht wirksam voneinander geschiedenen beiden Kastilien, bilden
das größte einheitUche Gebiet der Halbinsel, das, wenn auch fast
ausschließlich auf Ackerbau angewiesen, doch nach Boden und
Klima einer sehr bedeutenden Verdichtung der Bevölkerung fähig
wäre und jedenfalls so ausgedehnt ist, daß es auch heute noch
wirklich die ihm nach seiner Stellung zukommende Rolle zu
spielen vermag. In diesen Ebenen wogte Jahrhunderte hindurch
der Kampf zwischen Christentum und Islam hin und her, er ent-
völkerte das schutzlos offene Land, nur Städte und feste Burgen,
die ihm den Namen gegeben, gewährten Schutz. Hinter den
zurückweichenden Mauren stiegen auch die im Kampf empor-
gekommenen Adelsfamilien mit ihren Hintersassen in die Rand-
landschaften, namentlich nach dem reichen Andalusien hinab, wo
sie, mit großen Gütern ausgestattet, sich dauernd als Grenzhüter
niederließen. Ihre alten Feudalsitze und die Grenzfesten auf
dem Hochland begannen zu veröden. In den langen Kämpfen
war der kriegerische Sinn so erstarkt, daß die bürgerlichen Be-
rufe in Mißachtung gerieten. Kastilien lieferte so vorzugsweise
die Heere, mit welchen Spanien seine Kriege in zwei Welten
führte, jene Scharen von Abenteurern, welche die Neue Welt
hispanisiert haben. Nach Kastilien vorzugsweise flössen aber
auch die Schätze der Neuen Welt, hier wurden damit auch die
zahlreichsten und größten Klosterpaläste gebaut und ausgestattet.
Das zeitweilig riesig angewachsene Mönchswesen und der religiöse
Fanatismus, dem es hier in den offenen Landschaften gelang,
die jüdische und maurische Bevölkerung völlig auszutilgen oder
zu vertreiben, vollendeten die Verödung. Hier feierte der Jesui-
tismus seine allergrößten Triumphe, und verzehrten die Scheiter-
haufen der Inquisition, was an unabhängigem Bürgersinn und
Tatkraft noch übrig geblieben war. In den zentralen Land-
schaften tritt uns daher der Verfall ganz Spaniens am grellsten
entgegen; sie und ihre Bewohner sind es somit, welche uns vor-
zugsweise spanisch vorkommen. Hier zweifelt man zuweilen, ob
die Behauptung eines spanischen Patrioten heute noch richtig ist,
daß Spanien das reichste Land der Erde sei, da die Spanier
seit 3000 Jahren bemüht seien, dasselbe zu ruinieren, ohne bis-
her ihr Ziel erreicht zu haben.
— 252 —
Die großen Gegensätze der Landesnatur, die namentlich
orographisch begründete Gliederung der Halbinsel in zahlreiche
Sonderlandschaften, mußte notwendig von jeher auch in der
politischen Geographie zum Ausdruck kommen. Wohl niemals,
außer als Glied des Römerreiches, ist die Halbinsel völlig pohtisch
geeint gewesen. Dem wirkte vor allem entgegen das Vorhanden-
sein vieler abgeschlossener Gebirgslandschaften, in welchen sich
auch besiegte und schwache Völker gegen einen übermächtigen
Gegner zu behaupten vermochten. Die Faltengebirge, die im N
und im S dem Tafelland angelagert sind, bieten solche Herde
des Widerstandes, solche Ausgangspunkte neuer Staatenbildungen:
das Baskenland, Asturien, die Wiege des Staates Leon und
Kastilien, Sobrarbe in den Pyrenäen, diejenige von Aragon.
Ihnen läßt sich in gewissem Sinn auch das Bergland von Nord-
portugal anschließen. In der Vielheit der Ausgangspunkte war
auch die Vielheit der Staaten begründet. Andrerseits vermochten
im Süden im andalusischen Faltenland, namentlich in der tief ins
Gebirge eingebetteten, nur durch Engpässe wie bei Loja und Jatin
zugänglichen Hochebene von Granada die besiegten Mauren ein
volles Vierteljahrtausend dem Ansturm der Christen zu wider-
stehen! Nur ein einziger jener Staaten hat sich bis heute der
beherrschenden Stellung Kastiliens gegenüber zu behaupten, bzw.
seine schon auf 60 Jahre verloren gegangene Selbständigkeit
wieder zu erlangen vermocht: Portugal. Auch in dieser Tatsache
wird, so wenig es auf den ersten Blick scheinen will, die Wirkung
geographischer Faktoren greifbar.
Portugal ist die selbständigste aller Randlandschaften, die-
jenige, welche am meisten individualisiert ist. Es verhält sich
zur übrigen Halbinsel, also zu Spanien, wie Holland zum übrigen
Deutschland. Holland ist innerhalb des norddeutschen Flach-
landes der einzige völlig maritime Teil desselben, vom Meer
durchsetzt, zum Teil dem Meer abgerungen — seine Bewohner
sind ja im Kampf mit dem Meer groß geworden — und durch
Wasserstraßen bis an seine innere Grenze mit dem Meer ver-
bunden. Und diese innere Grenze, der fast ungangbare Gürtel
von Mooren, nordwärts und südwärts vom Rhein, schied das
völlig maritime Land derartig von dem festländischen, in sich
zerrissenen Deutschland, daß die völlige politische Loslösung
geographisch begründet erscheint. Ähnlich ist Portugal, wie die
— 253 —
größte, so auch die einzige bis an ihre innere Grenze dem Meer
erschlossene, hafenreiche und völHg maritime Randlandschaft,
also im grellsten Gegensatz zu den landeinwärts angrenzenden
spanischen Landschaften. Und während der Rhein als große
Straße noch Holland an Deutschland knüpft, sind die großen
aus dem Innern der Halbinsel kommenden Flüsse nur in ihren
untersten Laufstrecken, bis an die innere Grenze Portugals, schiff-
bar; weder sie noch ihre Täler bilden Straßen aus dem Innern
ans Meer. Im Gegenteil, sie sind tiefe Grenzgräben, welche die
zentralen Landschaften auch von dieser Randlandschaft wirksamer
scheiden, als sonst die Randgebirge. Der portugiesische Tejo
und Douro sind anthropogeographisch fast in dem Maße als vom
spanischen Tajo und Duero verschiedene Flüsse aufzufassen, wie
die Alten lange Zeit Danubius und Ister als verschiedene Flüsse
ansahen. Die Landgrenze von Portugal von der Mündung des
Guadiana bis zu der des Mino wird auf der Hälfte ihrer Länge
von engen, aber steilen und tiefen Tälern gebildet, welche die
Flüsse kanonartig in die festen, namentlich granitischen Gesteine
der Iberischen Scholle eingenagt haben. Den großartigsten dieser
Kanons hat der Duero dort, wo er die Grenze auf iio km unter-
halb Zamora bildet, in das Granitmassiv des Sayago eingeschnitten;
200 — 400, streckenweise 500 m tief braust er stromschnellenreich
durch eine Schlucht dahin. Das Zuckerrohr und die Dattelpalme
gedeihen an seinem Ufer, wo Raum zum Anbau ist, während oben
auf der Hochfläche nur der Weizen, kaum noch die Rebe fort-
kommt. Die andere Hälfte der Grenze liegt in menschenleeren
Gebirgen. Einzig das Tal des Guadiana bildet eine Straße von
Kastilien nach Portugal, die vom Knie des Stromes bei Badajoz
gerade auf die Hauptstadt Lissabon und die Tejomündung zielt.
Auf dieser Linie haben sich die fast ausschließlich kriegerischen
Beziehungen beider Staaten vorzugsweise bewegt, hier liegen
daher Portugals wichtigste Festungen. Portugal besitzt auch neben
Lissabon und Porto gute Häfen, nur haben diese beiden den
Vorzug großer Hinterländer, die ihnen auf von der Natur vor-
gezeichneten Wegen ihre Erzeugnisse zuführen. Dadurch werden
sie zu wichtigen Sitzen des Handels und des Weltverkehrs, nament-
lich ist Lissabon zugleich die europäische Kopfstation für den
Schnellverkehr mit Südamerika. Aber, wiederum einer jener
wunderlichen Gegensätze, selbst der Eigenhandel Portugals wird
— 254 -
heute noch überwiegend von fremden, besonders englischen
Schiffen vermittelt. Es ist heute, wie im Mittelalter, ein vorwiegend
ackerbauendes Land. Portugal bringt alle Erzeugnisse der ganzen
übrigen Halbinsel hervor, namentlich auch, und diese allein unter
allen Randlandschaften, Brotstoffe für den eigenen Bedarf; es ist
also auch in dieser Hinsicht von Kastilien unabhängig. Es fehlen
somit die Bedingungen eines Handelsverkehrs zwischen beiden
Ländern so gut wie ganz, und tatsächlich besteht auch, abgesehen
von etwas Schmuggel, fast gar kein Verkehr zwischen denselben.
Portugal schaut über die Meere, am Meer hegen alle seine wich-
tigsten Siedelungen und verdichtet sich seine Bevölkerung am
meisten, es kehrt Spanien den Rücken. Die politische Grenze
beider Länder bildet auch eine so scharfe Grenze in der Sprache,
den Sitten, dem Charakter, der Lebensführung, der Zu- und Ab-
neigung der Bewohner, daß sich jedem Reisenden diese wunder-
baren Gegensätze aufdrängen. Haß ist das Gefühl, welches die
beiderseitigen Grenzanwohner vorzugsweise einander entgegen-
bringen.
Wohl noch niemals sind selbst im Land der Gegensätze die
Gegensätze der zentralen und der Randlandschaften so groß ge-
wesen wie heute, im wesentlichen weil auch die Iberische Halb-
insel spät und langsam und zunächst in den Randlandschaften,
während die zentralen noch in rückläufiger Bewegung sind, der
rascheren Entwicklung Europas in unseren Tagen gefolgt ist.
Doch scheint uns darin, wenigstens solange die monarchische
Staatsform aufrecht erhalten und nicht etwa durch die RepubUk
ersetzt wird — das Schlagwort Förderativrepublik hört man ja
oft genug, — keine Gefahr zu liegen, daß sich nach dem Bei-
spiel Portugals die Sonderlandschaften auch wieder politisch selb-
ständig machen könnten, so groß und allgemein die Abneigung,
ja der Haß ihrer Bewohner gegen die Kastilianer auch ist, und
so sehr z. B. der Karhsmus darin seine Wurzeln hat. Die Rand-
landschaften sind jede für sich kleiner und schwächer als Kasti-
lien, sie vermögen, zum Teil weit voneinander entlegen, alle nur
durch Kastilien Beziehungen zueinander zu unterhalten; Kastilien
ist der große Saal, — um das Bild zu gebrauchen, durch welches
uns die Bedeutung der großen chinesischen Ebene für China durch
Ferd. von Richthofen veranschaulicht worden ist, — um welchen
alle anderen Landschaften wie Kammern ringsum liegen; sie bilden
— 255 —
auch ihrerseits Gegensätze und haben nur wenig gemeinsame wirt-
schaftliche Interessen, während Kastilien ihnen allen Brotstoflfe
liefert und der nächste Abnehmer ihrer Erzeugnisse ist. Mehr als
jemals liegt aber heute auch Kopf und Herz Spaniens in Kastilien.
Wenn wir Philipp II. nicht schon aus anderen Gründen für einen
scharfsichtigen Staatsmann halten müßten, so unbedingt darum,
daß er Madrid zur Hauptstadt Gesamtspaniens gemacht hat. Fast
im geometrischen Mittelpunkt der Halbinsel gelegen, in der Mitte
Kastiliens, aber ohne provinzielle Erinnerungen, ohne geschicht-
liche Zu- und Abneigungen, hat Madrid erst in den letzten Jahr-
zehnten, wo nachgeholt worden ist, was die Nachfolger Philipps
versäumt hatten, als Knotenpunkt des ganzen spanischen Straßen-
und Eisenbahnnetzes , durch Herbeileitung herrlichen Wassers
weither aus den innersten Tälern der Sierra de Guadarrama,
trotz der armen, wenig verlockenden Umgebung, einen erstaun-
lichen Aufschwung genommen. Alle Provinzen liefern ihm, trotz
des ungünstigen Klimas, Bewohner; es ist heute unbestritten der
Hauptsitz und der Brennpunkt aller geistigen und wirtschaftlichen
Bestrebungen, der Kunst, der Wissenschaft, der Geldmächte,
Madrid vermag heute die Verödung Kastiliens, alle provinziellen
Gegensätze mehr und mehr auszugleichen. Und schließlich hat
doch der lange, gemeinsam durchgekämpfte Kampf gegen die
Ungläubigen, die gemeinsam durchlebte große Zeit des i6. Jahr-
hunderts ein so festes Band um alle Spanier geschlungen, daß
gegen einen äußeren Feind jeder Spanier nur Spanier ist.
2. Skizzen aus Südspanien.0
Wer Spanien in erster Linie ästhetischer Genüsse halber
besucht und nachdem er vorher schon Italien kennen gelernt hat,
was beides wohl von der überwiegenden Mehrzahl der Reisenden
gilt, wird immer eine gewisse Enttäuschung erfahren. So reich
das Land an Kunstdenkmälern jeder Art ist, so viel es auch land-
schaftlich hier und da bietet, es steht doch in beiden Hinsichten
l) Als Schilderung einer im Jahre 1888 durchgeführten Reise in Wester-
manns Monatsheften erschienen.
— 256 —
Italien nach. Spanien hat nur zwei Blütezeiten gehabt, die ara-
bische und die zu Beginn der Neuzeit, während in Italien aus
griechischer, aus römischer, byzantinischer, normannischer und
vor allem aus der großen Zeit um den Übergang des Mittelalters
zur Neuzeit, wie namentlich aus der Zeit der Wiedergeburt der
Künste und Wissenschaften eine Fülle von Kunstschätzen auf-
gestapelt ist, die sich mit der Erleichterung des Verkehrs, mit
der immer innigeren Verwachsung auch der abgelegeneren Gegen-
den des Landes mit dem Kreise europäischer Gesittung immer
mehr als Schätze, als eine der reichsten Einnahmequellen des
Landes erweisen. Es war wohl unserer Zeit vorbehalten, die
griechischen Tempel, die römischen Amphitheater, die herrlichen
Dome usw. vom volkswirtschaftlichen Standpunkte nach ihrem
Werte als zinstragende Kapitalanlagen anzusehen. Wenn man
schätzungsweise annehmen kann, daß jährlich eine halbe Million
Fremder Italien besucht, die etwa 250 Millionen Mark ins Land
bringen, so bilden doch in erster Linie die Kunstschätze, nur
nebenbei die Reize der Landschaft und des Klimas die Lock-
mittel, welche diesen Goldstrom herbeilenken. Das wären also
die Zinsen eines auf die Schaffung und Erhaltung jener Schätze
verwendeten Kapitals von fünf Milliarden Mark, die Zinsen von
ungefähr der Hälfte der italienischen Staatsschuld. Wie trefflich
haben die alten Römer, als sie mit den Steuern unterworfener
Völker das Kolosseum, wie trefflich die Päpste, als sie mit den
„Pfennigen" der ganzen Christenheit St. Peter erbauten, für die
Nachkommen gesorgt! Verfolgen wir diese Reichtümer Italiens
aber weiter, so erkennen wir den Einfluß, welchen auch in dieser
Hinsicht geographische Gesetze ausgeübt haben. Die Vielseitig-
keit der Beziehungen, welche Italien nach seiner Weltstellung
innerhalb des Mittelmeergebiets kennzeichnet, prägt sich eben in
diesen Denkmälern aus griechischer, römischer, byzantinischer,
arabisch -normannischer Zeit usw. aus. Diese Vielseitigkeit der
Beziehungen fehlt Spanien. Als eine gewaltige, hohe, von den
Küsten, die auch ihrerseits nur an wenigen Punkten bequem zu-
gänglich sind, meist schwer zu ersteigende Felstafel ist es dem
äußersten Südwesten Europas angeschweißt, lag es an der west-
lichen Peripherie der gesitteten Welt des Altertums und des
Mittelalters, nur schwach brandeten an seinen Gestaden die von
den Gesittungsherden Phönikiens, Griechenlands und von Rom
— 257 —
ausgehenden Wogen. Von Frankreich trennt es der Wall der
Pyrenäen so scharf, daß man sich dort in dem Satze gefällt:
„Hinter den Pyrenäen beginnt Afrika", was aber ebensowenig wie
vieles andere den Spanier hindern würde, in den Franzosen die
,, sympathische" Nation zu sehen — wenn es für ihn nämlich außer
dem Spanier oder richtiger außer dem Kastilianer, Aragonesen,
Katalanen usw. überhaupt sympathische Nationen gäbe.
Nur in zwei Richtungen unterhält die Iberische Halbinsel,
geographisch bedingt, innigere Beziehungen: zu Nordafrika und
zu Amerika. Und diese Beziehungen prägen sich in der Ge-
schichte des Landes, in der Gesittung und dem Charakter seiner
Bewohner aufs schärfste aus. Die Beziehungen zu Afrika, dessen
nächster Punkt der Südspitze Europas an der Meerenge fast auf
Kanonenschußweite (14 Kilometer) gegenüber liegt, kennzeichnet
die arabisch-berberische Überflutung am besten, welche zahlreiche
herrliche Denkmäler und tiefe Spuren in den körperlichen Eigen-
schaften und im Charakter der Bewohner, wie im Anbau des Landes
hinterlassen hat. Der während sieben Jahrhunderten, ja fast wäh-
rend eines Jahrtausends — denn er fand mit der Eroberung von
Granada keineswegs seinen Abschluß — im Vordergrunde stehende
Kampf gegen die Ungläubigen verlieh hier dem christlichen Be-
wußtsein, der katholischen Kirche besondere Macht, und es ent-
standen im Gegensatz zu den Moscheen des Islam prächtige
Kirchen und Klöster, zu denen dann die Beziehungen zur Neuen
Welt immer reichere Mittel Ueferten. Auch dort galt es ja Kampf
gegen Heiden und Bekehrung derselben. Durch die Entdeckung
Amerikas, die bezeichnenderweise zwar von Spanien aus erfolgte,
aber durch einen Italiener, die im ganzen Mittelalter die Träger
und Vervollkommner aller seemännischen Erfahrungen waren,
rückte die Halbinsel, wie ähnlich die britischen Inseln, vom Rande
der gesitteten Welt sozusagen in die Mitte derselben. Zum Ozean
dacht sich dieselbe ja vorzugsweise ab, zum Ozean leiten seine
Ströme; wer aus dem Mittelmeer kommend nach Nordwesteuropa
oder in die Neue Welt hinüber wollte, mußte spanische Häfen
anlaufen, und ebenso wer von Norwesteuropa dorthin strebte;
denn bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts lagen die Länder der
Sehnsucht der Europäer südlich vom Wendekreis des Krebses,
von Spanien aus kreuzte man den Ozean.
Die Weltstellung der Iberischen Halbinsel ist somit im ganzen
Fischer, Mittelmeerbilder. I7
— 258 —
unbedingt weit ungünstiger als die des viel kleineren Italien.
Aber auch die Oberflächengestaltung ist eine ungünstigere, der
Bildung einer politischen Einheit im höchsten Grade hinderliche.
Auf ihr beruht es, daß die Halbinsel, wenn wir von der römischen
Eroberung absehen, niemals ein einziges Staatswesen für sich ge-
bildet hat und eine Vereinigung der beiden Reiche Spanien und
Portugal wohl nie zu erwarten ist. Wenn auch durch das Meer
und den Wall der Pyrenäen zusammengehalten, ist doch die
Halbinsel ihrer Oberflächengestaltung nach überaus reich gegliedert
und zerfällt in eine ganze Anzahl von Sonderlandschaften, welche
wesentlich verschiedene Züge der Landesnatur und abweichende
Wechselbeziehungen zwischen Land und Bewohnern aufweisen.
Das ist der Hauptgrund der jahrhundertelangen politischen Zer-
splitterung und der erst mit Beginn der Neuzeit erreichten Ver-
einigung all der ehemaligen einzelnen Reiche zu einem Reiche
Spanien. Diese frühere politische Autonomie und die verschiedene
ethnische Mischung der Bewohner der einzelnen Sonderland-
schaften, die geringen Beziehungen derselben untereinander noch
heute, trotz der Eisenbahnen, erklären die allenthalben vorhan-
denen höchst auffälligen Unterschiede im Volkscharakter, in den
Mundarten, ja das Vorhandensein verschiedener Sprachen, die
gegenseitige Abneigung der einzelnen Landschaften untereinander,
aller aber gegenüber den Kastilianern. Die landschaftlichen, in
letzter Ursache auf die Oberflächengestaltung zurückzuführenden
Gegensätze sind in Spanien weit, weit größer als in Deutschland,
die innere nationale Verwachsung der Bewohner des Reiches ist
noch weit entfernt von der bei uns gottlob! längst erreichten.
Das sind Dinge, die man außerhalb Spaniens, eben weil das
Land wenig besucht wird, kaum kennt. Den spanischen National-
charakter zu schildern, ist unmöglich, einen solchen gibt es eben
nicht; was man gewöhnlich darunter versteht, bezieht sich wesent-
lich auf die Kastilianer, von denen aber die Andalusier, die
Katalanen, die Gallegos z, B. sehr verschieden sind. Erst vor
kurzem, viel zu spät, hat man einen entscheidenden Schritt getan^
die nahezu im geometrischen Mittelpunkt des Landes gelegene
Hauptstadt zum wirklichen politischen und geistigen Mittelpunkt
zu machen und ihr als Hauptknoten aller Verkehrswege auch
wirtschaftlich Gewicht zu verleihen.
Es ist ein Irrtum, Madrid als eine Gründung Philipps IL zu
— 259 —
bezeichnen. Während des ganzen Mittelalters bestand dort eine
namhafte, schon vor dem Jahre looo wichtige Stadt, die wieder-
holt Sitz der Cortes und Krönungssfadt war. Zur Hauptstadt hat
Philipp sie allerdings gemacht, und wir möchten das als einen
der wichtigsten Belege seiner hohen staatsmännischen Einsicht
bezeichnen. Wie er eigentlich der erste König von Spanien ist,
so schuf er auch eine neue Gesamthauptstadt im Gegensatz zu
Toledo, Sevilla usw., den Hauptstädten der alten Teilreiche. Er
hoffte aus Aragonesen, Andalusiem usw. Spanier zu machen.
Noch heute ist dies Ziel nicht ganz erreicht. Es fehlte der Stadt
zu einem größeren Aufschwünge an Hilfsquellen in der unmittel-
baren Umgebung. Diese ist zwar durchaus nicht so arm und
dürr, wie man es zu schildern liebt, im Gegenteil, man sieht
jetzt überall wohl angebautes Land und freundliche Ortschaften
mit baumreichen Gärten an den Eisenbahnen in der Umgebung
von Madrid, aber immerhin steht die reizlose Hochebene mit
ihrem wechselvollen Klima an Lockmitteln und inneren Hilfs-
quellen, stehen ihre Bewohner an Rührigkeit und Wohlstand allen
Landschaften Spaniens nach. Madrid hat bis auf die neueste
Zeit keinen Einfluß auf die Provinzen ausgeübt, im Gegenteil, es
unterlag dem Einfluß der Provinzen. Es wurde nicht zum Sitze
des geistigen Lebens erhoben, man versäumte durch gute Ver-
waltung, durch Herbeiführung von Wasser die spröde Natur zu
bekämpfen. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten erst ge-
ändert, wo Madrid einen bedeutenden Aufschwung genommen
hat: Madrid ist heute Sitz einer blühenden Universität und zahl-
reicher sonstiger Lehranstalten, es besitzt im Königlichen Museum
eine der herrlichsten Kunstsammlungen Europas, ausgedehnte
Gärten und Spaziergänge und verfügt durch einen 70 km langen,
1859 vollendeten Kanal, welcher das Wasser des Lozoyaflusses
durch großartige Überbrückungen aus der wasserreichen Sierra
de Guadarrama herbeiführt, über eine Fülle von Wasser bis in
die höchsten Stockwerke der Häuser. Eine selbständige Gewerb-
tätigkeit und der Handel erlangen immer größere Bedeutung, alle
großen Eisenbahnlinien der Halbinsel, nicht weniger als fünf,
laufen hier radienförmig zusammen und verbinden Madrid auf
möglichst kurzem Wege mit allen namhaften an der Peripherie
gelegenen Orten, mit der französischen Grenze östlich und west-
lich der Pyrenäen, mit Barcelona, Valencia, Alicante, Cartagena,
17*
— 26o
Malaga, Cadix, Huelva, Lissabon, Oporto, Coruiia, Santander und
und San Sebastian. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
Madrid eine größere Entwicklung und einen die provinziellen
Gegensätze im Laufe der Zeit mildernden Einfluß erlangen wird.
Diese, wie wir sahen, vor allem in der Oberflächengestaltung
begründeten Gegensätze sind so groß wie in keinem anderen
Lande Europas. Sie äußern sich zunächst im Klima. Afrika-
nischer Trockenheit und Hitze, wie sie im Südosten, in Murcia,
herrscht, wo fast aller Anbau auf künstliche Bewässerung an-
gewiesen ist, steht der mitteleuropäisch feuchte Nordrand mit
zwar milden Wintern, aber nicht sehr heißen Sommern; dem
inneren Tafellande, das durch hohe Gebirgswälle ringsum und
hohe Lage dem Einfluß des Meeres etwas entrückt ist und daher
ziemlich trockenes, kontinentales Klima hat, steht die Südküste
Andalusiens gegenüber, welche bei reicher winterlicher Benetzung
die mildesten Winter in Europa hat und Erzeugnisse der Tropen
im großen hervorbringt. Das ganze Gestadeland am Mittelmeer
ist der in jeder Hinsicht begünstigste Teil Spaniens, der am besten
angebaute, der am dichtesten und von rührigen, in Ackerbau,
Gewerbtätigkeit, Handel, wie im geistigen Leben vorangehenden
Menschen bewohnte. Während es sonst in Spanien noch weite
Striche gibt, die wohl anbaufähig, aber mit Gestrüpp bedeckt
kaum als Weideland brauchbar und weithin menschenleere Ein-
öden sind, gehören die kleinen Ebenen und die unteren Hänge
der Gebirge am Mittelmeer zu den dichtest bevölkerten Gegen-
den Europas. Was dort im Laufe der Jahrtausende seit kartha-
gischer und römischer, aber namentlich in arabischer Zeit geleistet
worden ist in Urbarmachung des Felsbodens und Wasserzuführung,
das ist staunenswert. Und noch immer wächst dort die angebaute
Fläche, immer weiter wird die nach Vernichtung der Wälder den
Boden bedeckende Vegetationsformation der Macchien, der aus
Zwergpalmen und aromatischen immergrünen Sträuchern, Myrten,
Lavendel, Cistusrosen, Lentiscus usw. bestehenden Gestrüppe
zurückgedrängt. Im südlichen Katalonien zwischen Taragona und
Tortosa besteht die bald ganz schmale, bald auf mehrere Kilo-
meter verbreiterte Küstenebene meist aus festen tertiären Konglo-
meraten, auf denen selbst dies Gestrüpp nur dürftig gedeiht.
Unter unsäglicher Mühe werden die Felsen gesprengt und teils
weggeführt, teils zu hohen Wällen aufgetürmt oder zu Terrassen-
— 201 —
mauern venvendet, teils auch zerkleinert und herbeigeführte gute
Erde darunter gemischt, ähnlich wie ich es hier und da, aber
in weit kleinerem Maßstabe, in Norwegen sah. Ganze Hügel-
gehänge fand ich so ganz neuerdings auf weite Strecken in sauber
und geschickt angelegte Terrassen verwandelt; anderwärts grenzten
breite und hohe Steinwälle die so dem Felsboden abgewonnenen
Felder ab, welche nun mit Ölbäumen, Reben oder Johannisbrot-
bäumen bepflanzt sind. In ähnhcher Weise hat man an der
Südküste von Andalusien die kleine, ebenfalls aus festen tertiären
Konglomeraten bestehende Küstenterrasse von Nerja dem Anbau
zu gewinnen begonnen. Dieses mehr als 7000 Einwohner zäh-
lende Städtchen liegt mitten in einer Steinwüste auf dem etwa
15 m hohen Steilrande der Küstenterrasse, aus welcher hier die
Brandung eine kleine, durch ein Vorgebirge geschützte Bucht
ausgewaschen hat. An dieser siedelten sich wohl zuerst Fischer
an, da die ganze Küste an natürlichen Zufluchtsstätten selbst
für kleine Fahrzeuge sehr arm ist. Vor kurzem fand auch noch
aller Verkehr zur See statt, jetzt ist wenigstens eine fahrbare
Straße nach Westen hin, nach Velez Malaga und Malaga vor-
handen, nach Osten aber führt heute noch nach dem noch etwas
größeren, 25 km entfernten Nachbarstädtchen Almunecar nur ein
Saumpfad beständig auf und ab über die steil zum Meere ab-
brechenden Bergspome und in so schlechtem Zustande, daß man
mir, sehr mit Recht, in Nerja allgemein riet, lieber zu Fuß zu
gehen und meine Habe einem Eselchen anzuvertrauen. Diese
Weltabgeschiedenheit, die im Winter, wenn es draußen auf dem
Meere stürmt, eine vollständige sein mußte, mag die Bewohner
von Nerja zuerst dazu gedrängt haben, den Felsboden um die
Stadt urbar zu machen und das Wasser der am inneren Rande
der Ebene am Fuße der Kalkberge hervorbrechenden Quellen
herbeizuleiten. Heute ist bereits ein großer Teil des trostlosen
Karstfeldes aufgearbeitet und bringt reiche Zuckerrohremten her-
vor, nur im Norden reicht dasselbe noch unmittelbar an die
Stadt. Auch die Hänge der Berge, die von fem kahl und tot
erscheinen, sind bis hoch hinauf, bis zu Höhen von 1200 bis
1500 m terrassiert und angebaut, zahllose kleine weiße Häuschen,
sogenannte Cortijos, meist Wohnungen ärmerer Pächter, sind über
die Berghänge und durch die Täler verstreut. Besonders zahl-
reich sind diese Cortijos an dem hohen Bergwalle, welcher die
— idz —
kleine Küstenebene von Velez Malaga im Halbkreise umschließt,
so daß sie der Landschaft einen höchst eigentümlichen Charakter
verleihen. Von dem Fleiß, dem von Geschlecht zu Geschlecht
vererbten Geschick in Bearbeitung der steinigen, steilen Gehänge,
der Befestigung des Bodens durch Steinmauern, der Herbeileitung
von Wasser, wie andererseits von der Anspruchslosigkeit, Genüg-
samkeit und Armut der Bewohner kann man sich erst eine Vor-
stellung machen, wenn man mit ihnen gelebt hat.
Am häufigsten ist die Fruchtbarkeit, der treffliche Anbau
und die sorgsame Bewässerung der Huerta von Valencia ge-
schildert worden. Es handelt sich dort in der Tat um eine
große herrliche Gartenlandschaft, die aber doch meinen vielleicht
zu hoch gespannten Erwartungen, möglicherweise auch infolge
des selbst hier strengen Winters von 1887/88 nicht ganz ent-
sprochen hat. Die freilich weit kleinere, von wunderbaren Berg-
formen umrahmte Conca d'Oro von Palermo entspricht in weit
höherem Maße mit ihren dichten, fast die ganze Ebene füllenden
Fruchthainen den Vorstellungen südlicher Üppigkeit. Die Huerta
von Valencia ist im Grunde nur ein Teil der langen schmalen
Küstenebene, welche den flachen Golf von Valencia auf 170 km
vom Kap St. Antonio im Süden bis Kap Oropesa im Norden
umsäumt. Die Ebene besteht keineswegs, wie man auf den
ersten Blick annehmen möchte, aus jungem, von den zahlreich
hier mündenden Flüssen angeschwemmtem Lande, solche Bil-
dungen spielen eine ganz untergeordnete Rolle; es sind vielmehr
tertiäre marine Ablagerungen, die durch eine neuere Hebung des
Landes in eine sich sehr sanft zum Meere neigende Küstenebene
verwandelt worden sind. Der Boden ist demnach an und für
sich auch nicht besonders fruchtbar, die Bearbeitung und Be-
wässerung bei sorgsamer Düngung und günstigem Klima macht
ihn erst dazu. Durch diese Hebung ist selbst eine ehemalige
Küsteninsel verlandet worden, sie bildet heute das ganz insel-
artig aus der Ebene gegen das Meer vorgeschobene Kap Cullera.
Andererseits ist das Haff (die Albufera) von Valencia ein noch
nicht ausgefüllter Meeresrest. Die Breite dieser Küstenebene ist
sehr verschieden, am größten ist sie etwas südlich von Valencia,
wo sie sich am Jucar und seinem rechten Zufluß Albaida tiefer
ins Innere erstreckt. Die mittlere Breite mag etwa 8 km be-
tragen, ihr Flächeninhalt etwa 1200 — 1400 qkm. Diese ganze
— 203 —
Fläche ist gartenartig angebaut, eine Huerta grenzt an die andere,
sie ist meist künstlich bewässert und bringt vielfach mehrere
Ernten im Jahr. Doch würde man irren, wenn man das Ganze
für einen großen Fruchthain hielte, nur im Norden und im Süden
herrschen Baumpflanzungen vor, bei Valencia schon überwiegt
offenes, wenn auch sehr baumreiches Land, um den Strandsee
und am Jucar liegen die berühmten Reisfelder, die überaus reichen
Ertrag geben. Um Valencia herrscht der Anbau von Weizen,
Mais, Hülsenfrüchten, Melonen und einer Fülle von Gemüsen
wie Futterkräutern vor, Fruchtbäume, namentlich Orangen, Feigen,
Granaten, Pfirsiche und Maulbeerbäume sind in großer Zahl da-
zwischen gepflanzt, auf unbewässertem Lande pflanzt man 01-
und Johannisbrotbäume, an den Hängen Reben. Die Bewässe-
rungsanlagen, deren Schöpfer wohl die Araber waren, sind
wunderbar entwickelt, die die Küstenebene durchströmenden
Flüsse, die eigentlichen Schöpfer dieses Reichtums, der Mijares,
der Palancia, Turia, Jucar, Serpis, werden durch zahlreiche Ka-
näle, zum Teil schon innerhalb der Berge, angezapft und liegen
den größten Teil des Jahres in ihrem untersten Laufstück trocken.
Kunstvoll wird das Wasser über die ganze Ebene verbreitet, die
sich kaum merkbar in völlig wagerechten, ganz unter Wasser zu
setzenden Terrassen ausgelegt zum Meere hinabsenkt. Am größten
ist der Wasserbedarf für den Reis- und Orangenbau. Letztere
zieht man nicht wie in Sizilien in meist ummauerten Gärten auf
hochstämmigen, fünf bis sechs Meter Höhe erreichenden Bäumen,
sondern mehr auf niederen Bäumchen von kaum drei Meter Höhe
auf offenen Feldern, die aber immerhin gegen Beginn des Früh-
lings mit ihrer unglaublichen Fülle goldener Früchte, die fast aus
dem Eisenbahnwagen greifbar sind, einen herrlichen Anblick ge-
währen. Der nördliche Teil der Ebene bei Castellon de la
Plana, Burriana und Villareal ist eine wenig unterbrochene un-
geheure Apfelsinenpflanzung. Noch reicher ist aber der südliche
Teil der Ebene, am Jucar und im unteren Albaidatale, um
Alcira, Carcagente und das wasserreiche Jativa. Dort ist auch
die Mannigfaltigkeit der Fruchtbäume viel größer, der Granat-
baum wird im großen gezogen, und die Dattelpalme, die weiter
nach Süden in der Provkiz Murcia ganze Oasen büdet, tritt hier
schon in so großer Zahl auf, daß sie den Landschaftscharakter
bestimmt. Da die Berge hier ziemlich kahl sind, die Bauart der
— 264 —
Häuser, die Gesichtszüge und die Kleidung der Bewohner noch
vielfach an die Araber erinnern, so fand ich die Ähnlichkeit
dieser Gegend mit den schon hochgelegenen Oasenlandschaften
am Nordrande der Sahara, die ich zwei Jahre früher bereist
hatte, sehr groß. In der echten Palmenoase von Elche in der
Provinz Murcia gibt es Punkte, wo man, nach der Umgebung
urteilend, glauben müßte, man befinde sich in einer Oase der
nördUchen Sahara. Leider zeigte im Frühjahr 1888 diese para-
diesische Landschaft ein recht trauriges Ge.sicht, die Apfelsinen-
haine waren von Alcira bis Jativa bis in die Wurzeln erfroren,
mit verbrannten Blättern, zum Teil ganz laublos standen sie da,
Massen verfaulter Früchte bedeckten den Boden, auch die Jo-
hannisbrotbäume, hier und da selbst die Ölbäume waren erfroren,
die Dattelpalmen dagegen nicht überall. Es war im Februar
Schnee gefallen und ein paar Tage liegen geblieben, er hatte
die üppiggrünen Bäume bedeckt, die so am meisten gelitten
hatten, während er an den hängenden Fiedem der Dattelpalmen
weniger haftete. Bei Castellon hatten zur Zeit meines Aufent-
haltes die Apfelsinen, die zum großen Teil auch schon abgeerntet
waren, noch nicht gelitten, ich erfuhr aber, daß wenige Tage
nachher ein Nachtfrost, Mitte März, durch einen mehrere Taü;e
wehenden Mistral verursacht, auch dort großen Schaden getan
hat. Im Süden der Provinz Valencia ist der Wohlstand einer
ganzen Landschaft auf vielleicht ein Jahrzehnt vernichtet, bis neue
Pflanzungen wieder herangewachsen sind. Überhaupt ist der
Winter 1887/88 auch in Spanien sehr heftig aufgetreten, der
Verlust an Eigentum durch Frost und Schnee, die Not der meist
armen Bewohner, die wochenlang nicht in den Feldern arbeiten
und ihren dürftigen Tagelohn (i bis 1,25 Franken) verdienen
konnten, war dort weit größer als bei uns. Noch an der warmen
Südküste Andalusiens fand ich das Zuckerrohr an vielen Punkten
völlig erfroren und auch damit die einzige Ernte vieler Grund-
besitzer verloren. Schon ein Besuch des berühmten botanischen
Gartens in Valencia zeigte trotz schützender Matten und Zypressen-
hecken furchtbare Verheerungen des Frostes. Doch kehren kalte
Winter zum Glück hier nur in langen Zeitabschnitten wieder.
Der Gegensatz zwischen diesem Gebiete intensivster Boden-
verwertung und den angrenzenden nicht bewässerbaren Land-
schaften im Gebirge und auf dem Hochlande ist ein überaus
— 205 —
scharfer: hier ein Gebiet höchsten Boden wertes, bedeckt von
zahlreichen Städten, Dörfern, Weilern und einzelnen Häusern,
dort fast wertlose Einöde mit weit verstreuten, dann aber immer
ihre Bewohner nach Tausenden zählenden Ortschaften. Von der
Provinz Valencia ist eigentlich nur die Küstenebene bebaut, reich-
lich die Hälfte ihrer Bodenfläche ist unangebaut, womit aber
durchaus nicht gesagt sein soll, daß sie nicht anbaufähig sei.
So drängen sich die Bewohner in den Huertas zusammen.
Man kann im Gestadelande Spaniens am Mittelmeere nach
den vorwiegend gebauten Gewächsen vier verschiedene Gebiete
unterscheiden: in Katalonien herrscht die Rebe und der Ölbaum
vor, in Valencia die Apfelsinen, in Murcia in noch schärfer aus-
geprägten Berieselungsoasen die Dattelpalme, daneben Apfelsinen,
schließlich in Andalusien das Zuckerrohr. Der Zuckerrohrbau in
Andalusien ist in den letzten Jahrzehnten wieder zu großer Be-
deutung gelangt, steht aber jetzt im ganzen Mittelmeergebiet
einzig da. Im Mittelalter und noch im i6. Jahrhundert versorgten
die Mittelmeerländer allein Europa mit Zucker, der steigende
Anbau in der Neuen Welt ließ denselben aber bald nicht mehr
lohnend erscheinen, zuletzt, in der Zeit, als er in Andalusien
wieder auflebte, erlosch er auch in Sizilien. Daß die Araber
erst den Anbau des Zuckerrohrs, das von Indien nach Oman
und dem unteren Mesopotamien verpflanzt worden war, über die
Mittelmeerländer verbreitet haben, unterliegt keinem Zweifel. In
Ägypten, wo es ja heute wieder im großen gebaut wird, in Syrien,
auf Cypern, Rhodus, vor allem auf Sizilien fand im Mittelalter
Zuckerrohrbau im großen statt. Von da kam es nach Andalusien,
Madeira, den Azoren und den Kanarischen Inseln und dann in
die Neue Welt, wo es erst seine große Bedeutung erlangte.
Handel mit Zucker spielte im Mittelalter in den Mittelmeerländern
eine wichtige Rolle, von Damaskus und Alexandria, von Anda-
lusien kamen im 15. Jahrhundert besonders große Mengen in den
Handel, im südlichen Marokko wird schon im 10. Jahrhundert
bedeutender Zuckerrohrbau erwähnt. Ebenso alt und jedenfalls
durch die Araber eingeführt dürfte er in Sizilien sein, sicher
nachgewiesen ist er dort seit dem 1 1 . Jahrhundert. Namentlich
bei Palermo und anderwärts an der wohlbewässerten Nordküste
wurde viel Zuckerrohr gebaut; bis gegen Ende des 16. Jahr-
hunderts blüht dieser Anbau, dann aber beginnt er dem amerika-
— 266 —
nischen Wettbewerb zu erliegen. Bis in den Beginn dieses Jahr-
hunderts hatten sich noch einige Reste, die letzten bei Avola,
südlich von Syrakus, erhalten. Jedenfalls ist das Zuckerrohr so-
fort bei der ersten Besiedelung (1435) auch nach den Azoren
verpflanzt worden, Prinz Heinrich belehnte dort den Christus-
orden mit der Hälfte des Ertrags der Zuckerrohrpflanzungen.
Auch Behaim gedenkt derselben dort auf seiner Weltkarte. Es
kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Zuckerohrbau Anda-
lusiens im 15. und 1 6. Jahrhundert vorzugsweise dieselben Gegen-
den umfaßte wie heute. Ob derselbe ganz zum Erliegen gekommen
war, ist nicht sicher festzustellen, aber wahrscheinlich. Als Moritz
Willkomm 1844 und 1845 diese Küstengebiete bereiste, fand er
die heute ein großes Zuckerrohrfeld bildende, von einer schönen
Straße durchschnittene Ebene der Mündung des Guadalhorce bei
INIalaga noch als wüsten Sumpf, den man landeinwärts umging.
In der Ebene von Motril und bei Almunecar erwähnt er saftig
grüne Zuckerrohrfelder, aber nur nebenbei, sie waren off'enbar
ohne größere Bedeutung, während wir heute hier einen geradezu
großartigen Zuckerrohrbau haben. Nur bei Velez Malaga wurde
derselbe damals wieder im großen betrieben und war ein Spanier,
Ramon de la Sagra, der ehemals Direktor des botanischen
Gartens in Havana gewesen war, im Begriff, eine große Zucker-
fabrik und Raffinerie zu bauen. Seine Versuche hatten ergeben,
daß der spanische Zucker dem westindischen nicht nachstehe.
Er scheint Erfolg gehabt zu haben, und seitdem hat sich der
Zuckerrohrbau, nur noch einmal während des amerikanischen
Bürgerkriegs, der auch hier wie im ganzen Mittelmeergebiet einen
wahren Baumwollenschwindel -hervorgerufen hatte, unterbrochen,
gewaltig ausgedehnt. Alles in den kleinen Küstenebenen von
Tarifa im Westen bis Adra im Osten, ja selbst an den Berg-
hängen, nur irgendwie bewässerbare Land, eine sehr bedeutende
Fläche, ist mit Zuckerrohr bestellt, alle Grundbesitzer, große wie
kleine, bauen dieses am reichsten, selbst noch vor den Apfelsinen
lohnende Gewächs, viele setzen alles auf diese eine Karte. Zu
Dutzenden sind Zuckerfabriken entstanden, ihre hohen Schlote
bilden im Landschaftsbilde eine ebenso ungewohnte wie häufige
Erscheinung wie im Niltale am Fuße der Pyramiden. Viel Land
ist für diese gewinnreiche Pflanze urbar gemacht worden, das
ohne sie wohl noch lange des Bearbeiters geharrt hätte, groß-
— 267 —
artige, kostspielige Wasserleitungen sind angelegt worden, welche
tiefe Täler auf hohen Brücken überschreiten und weitab von
jedem Flusse oder jeder Quelle gelegene Flächen, die vorher
mit Gestrüpp bedeckt waren oder höchstens Weizen hervor-
brachten, überaus ertragreich gemacht haben. Bei Nerja fand
ich die Hügel bis zu bedeutender Höhe mit Zuckerrohr bestellt,
teils terrassiert, teils derartig in Furchen angelegt, daß das hinein-
geleitete Wasser den Boden gründlich durchfeuchten muß. Also
ähnlich wie man auf Madagaskar und in Südostasien vielfach
Reis an Berghängen baut. Es ist dort eine mächtige Quelle, ein
sogenannter Nacimiento, der bei dem Dorfe Maro am Fuße der
Sierra de Almijara aus dem Kalkgebirge in wunderbarer Fülle
und Klarheit, einen kleinen Fluß bildend, hervorbricht, in eine
Leitung gefaßt und 6 km weit bis Nerja geführt, wo sich das
zum Zuckerrohrbau geeignete Land in größerer Ausdehnung fand.
Eine 50 m tiefe Schlucht mußte in vierfacher Bogenstellung über-
einander dabei überbrückt werden. Hier, wo das hohe Küsten-
gebirge sich steil über dem Meere erhebt und Schutz gewährt,
war das Zuckerrohr nicht erfroren; aber weiter westwärts, wo dieser
Schutz geringer ist, bei Velez Malaga und in der Ebene von Ma-
laga selbst, war auf weite Strecken die ganze Ernte verloren.
Ich habe im März und April 1888^) fast das ganze anda-
lusische Zuckerrohrgebiet bereist, es gehört zu den malerisch-
sten Gegenden Spaniens, wie es das klimatisch begünstigste ist.
Nur gegen Gibraltar zu Lande an der Küste entlang von Malaga
aus vorzudringen, war unmöglich. Ich hatte den Versuch gemacht,
die zweitägige Strecke, die zur Hälfte nur zu Pferde gemacht
werden kann, zurückzulegen und war eines Morgens mit dem
Poststellwagen von Malaga aufgebrochen. Es regnete heftig; wie
auch in Andalusien und Nordmarokko, wohin ich später über-
setzte, diese Monate überaus regnerisch und verhältnismäßig kühl
waren; die sogenannte Straße, die man in Deutschland kaum als
Feldweg bezeichnen würde, geht steil bergauf und bergab und
besteht bald aus vom Wasser zerrissenem Felsboden, bald aus
unergründlichem Schlamm. Die aus dem Gebirge kommenden
Gießbäche, die meist trocken liegen, entbehren natürUch der
l) Ich betone, daß diese Schilderung des spanischen Zuckerrohrbaus
sich auf 1888 bezieht. Die Einführung des Zuckerrübenbaus in den letzten
Jahren ist nicht ohne Einfluß geblieben.
— 268 —
Brücken, im günstigsten Falle hat man ihr Bett verbreitert, flach
ausgetieft und gepflastert, so daß das Wasser rasch darüber-
schießt, Geröll, Gestrüpp usw. mitreißt und man ohne Gefahr
hindurchfahren oder reiten kann. Wir waren in dieser Weise
bereits glücklich über mehrere dieser Ramblas hinüber, über die
letzte, die einen solchen Übergang bereits zum Teil zerstört hatte,
nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr, als uns nach sieben-
stündiger Fahrt der Fluß von Fuengirola Halt gebot. Er war so
stark geschwollen und so reißend, daß selbst ein Reiter, der die
beste Furt erkunden sollte, sich nicht hineinwagte. Es war
übrigens an demselben Tage in der Nähe von Gibraltar ein des
Landes im hohen Grade kundiger Engländer bei dem Versuche,
auf der Heimkehr von der Jagd einen geschwollenen Gießbach
zu durchreiten, umgekommen. Ich hatte nun die Wahl, zu warten
bis der Regen aufhörte und das Wasser sich verlief, was zuweilen
in wenigen Stunden der Fall ist, oder nach Malaga umzukehren.
Ich entschloß mich rasch zu letzterem und langte nachts nach
mühseliger Fahrt wieder in Malaga an. Der Guadalhorce, der
westlich von Malaga mündet und von einer schönen Eisenbrücke
überspannt wird, war inzwischen gewaltig gestiegen und reichte
fast bis an die Brücke: wenige Stunden später riß er sie weg.
Wäre ich nicht sofort umgekehrt, so wäre ich für vier Tage zwi-
schen den beiden Flüssen in dem armseligen Fuengirola gefangen
gewesen, denn auch das Meer war so stürmisch, daß sich keine
Barke hinauswagen konnte.
Geringer waren die Schwierigkeiten des Küstenwegs in öst-
licher Richtung, obwohl auch dort, wie schon erwähnt, die Strecke
von Nerja nach Almuüecar zu Fuß zurückgelegt werden mußte.
Es war ein zwar anstrengender sechsstündiger Marsch in glühen-
der Sonne, aber landschaftlich überaus lohnend. Durch die
riimenden Wasser in zahlreiche senkrecht zur Küste streichende
Bergrücken zerschnitten, bricht hier die Sierra de Almijara steil
am Meere ab, eine tiefe Schlucht bildet die Grenze zwischen
den Provinzen Malaga und Granada. Von hier führt der Pfad
auf eine kurze Strecke durch einen lichten Wald von Aleppo-
kiefern, länger durch immergrünes, duf'Jges, hochgewachsenes
Gestrüpp von Rosmarin, Salvien, Lavendel, Lentiscus, Ginster,
Immergrüneichen, Zwergpalmen und dergleichen. Sonst sind
auch hier, wo es nur irgend möglich war, die steilen Hänge an-
— 26g —
gebaut, namentlich mit Tomaten, die in dieser sonnigen Lage
(am 31. März nach kaltem Winter!) schon ziemlich reif waren.
Die vereinzelten Cortijos liegen meist an höchst malerischen
Punkten, aber nur ein einziges Dorf findet sich, Herradura, am
Rande einer mit Zuckerrohr bebauten Ebene an einer kleinen
hufeisenförmigen Bucht, daher der Name des Ortes, die durch
eine kleine Küstenfeste verteidigt wird. Solche Festen, meist
noch in brauchbarem Zustande erhalten, finden sich an der
ganzen Küste an jedem Punkte, der nur einigermaßen eine Lan-
dung möglich erscheinen läßt. Sie galten vorzugsweise den See-
räubern der Berberei. Almunecar liegt sehr hübsch auf und an
einem vereinzelt aus einer kleinen Bucht mitten aus einer kleinen
Ebene sich erhebenden Kalkfelsen, dessen höchster Gipfel dicht
über dem Strande eine alte Feste trägt.
Die Entstehung dieser kleinen buchtenartigen Küstenebenen
wie bei Herradura, Almunecar, Motril, Malaga usw. ist eine be-
sonders anziehende Frage, deren Lösung einer der Hauptzwecke
meiner Reise war, wie ich mit ähnlichen Zielen zwei Jahre früher
die ganze Küste Nordafrikas von Cherchel in Algerien bis zur
Syrte und 1888 von Andalusien aus die marokkanische Küste,
stückweise wenigstens, von der Meerenge bis Oran in Algerien
bereist habe. Ich habe mir die Ansicht gebildet, daß an Stelle
dieser kleinen Ebenen sich in naheliegender geologischer Ver-
gangenheit, bis zum Begiim der Quatärzeit, Meeresbuchten be-
fanden, die wohl vorzugsweise durch die Tätigkeit der Brandungs-
welle, welcher große, das , ganze Gebirge durchsetzende Quer-
brüche, wie bei Malaga und Motril, bequeme Angriffspunkte
gewährten, ausgespült worden waren. Seitdem trat eine an der
ganzen Mittelmeerküste Spaniens nachweisbare aufsteigende Be-
wegung des Landes (nicht Zurücksinken des Meeresspiegels) ein,
und infolgedessen begannen die in diese Buchten mündenden
Flüsse, unterstützt von Brandungswelle und Küstenströmung, welche
die an den Vorgebirgen abgenagten Massen in den Buchten ab-
lagerten, dieselben auszufüllen. Dieser Vorgang ist schon so weit
gediehen, daß nur noch sehr flache iVusbuchtungen übrig sind.
Die Hauptarbeit fällt dabei den Flüssen zu. Diese sind zwar die
meiste Zeit wasserlos, namentlich da sie auch für künstliche Be-
wässerung verbraucht werden, aber sie haben breite geröllreiche
Betten, die sogenannten Ramblas, für gewöhnlich die bequemsten
— 270 —
Wege ins Innere, und führen nach heftigen Regengüssen, wie sie
hier die Regel sind, unglaubUche Massen Geröll dem Meere zu.
Diese Geröllführung ist teils auf das Klima zurückzuführen, indem
in der langen trockenen Zeit der Boden ausdörrt, in Spalten auf-
reißt, gelockert wird, so daß die dann plötzlich eintretenden
Regengüsse ihn um so leichter angreifen und die Massen in Be-
wegung setzen können, teils auf die petrographischen Verhältnisse
des Gebirges, das zum großen Teil aus leicht verwitternden Kalk-
und Tonglimmerschiefern besteht. Der Zugang zu diesen heutigen
Zuckerrohrgefilden aus dem Inneren erfolgt meist über ziemlich
hohe und schwierige Pässe, da die Flüsse in ungangbaren tiefen
Schluchten, ähnlich den Klammen unserer Kalkalpen, das Küsten-
gebirge durchbrechen. Die kürzeste Straße von Granada ans
Meer bei Motril folgt zwar nach Überschreitung der unter dem
Namen Sospiro del Moro bekannten Paßhöhe dem Tale des
Guadalfeo abwärts, wird aber schließlich gezwungen, den west-
lichen Rücken der Sierra de Lujar zu übersteigen, um Motril zu
erreichen. Das Tal des bei Malaga mündenden Guadalhorce
ist erst durch die Eisenbahn dem Verkehr dienstbar gemacht
worden, die bei dem Knotenpunkt Bobadilla in ca. 450 m Meeres-
höhe den dort auf dem Hochlande in breitem, flachem Tale
dahinfließenden Fluß erreicht. Die Straßen übersteigen weiter
östlich von Antequera und Loja aus in Pässen bis zu 1285 m
Höhe, an denen in arabischer Zeit wiederholt blutig gekämpft
worden ist, das Küstengebirge. Von Bobadilla aus hat sich der
Fluß, dem off"enbar ein großer Querbruch und starke Schichten-
störungen die Arbeit erleichterten — an der engsten Stelle der
Klamm stehen die Kalkbänke ziemlich senkrecht — , ein immer
tieferes Bett gegraben und eine der großartigsten Schluchten, den
sogenannten Hoyo von Chorro gebildet, der, da der Fluß stets
Wasser führt, auf eine Strecke ganz unzugänglich ist. Ich selbst
mußte mich von der Unmöglichkeit überzeugen, wie schon früher
unternehmungslustige junge Deutsche von Malaga, daß die Strecke
zwischen den Eisenbahnstationen Chorro und Gobantes durchaus
ungangbar ist, wenn man nicht einen Weg in die Felsen hauen
läßt. Der Fluß stürzt in einem Wasserfall drei Kilometer ober-
halb Chorro wie aus einem Tore aus einer 150 m hohen senk-
rechten Felswand hervor. Der Eisenbahnbau hat hier ein volles
Dutzend Tunnel erfordert, zwischen denen zum Teil eiserne
— 271 —
Brücken über Querschluchten geschlagen werden mußten. Hier
findet einer der raschesten und darum überraschendsten Über-
gänge zwischen dem Hochlande und der Südküste statt. Bei
Bobadilla trägt die Landschaft einen rauhen, fast nordischen
Charakter, Weizenfelder und Weideland dehnt sich weithin aus,
nur der Ölbaum und Zwergpalmengestrüpp erinnert an den Süden.
Ist man aber durch die Tunnel von Chorro hindurch, so er-
weitert sich das Tal sehr rasch, die Hänge werden sanfter, kleine
Dörfer, Städtchen mit den Trümmern maurischer Burgen und den
Villen reicher Kaufleute von Malaga treten auf, umringt von
Pflanzen der Tropen. Das ganze Tal ist ein herrlicher Frucht-
garten voll größter Mannigfaltigkeit: die Apfelsinen, hier in mäch-
tigen alten Bäumen, herrschen vor, die Dattelpalme breitet
schützend ihre Krone über sie aus, hier und da dunkle Zypressen,
unten am Fluß Silberpappeln und Dickichte hohen Rohres, an
der Eisenbahn hoch aufgeschossene bläuliche Eukalypten, die
schon ganze Haine bilden, an den Berghängen dunkle Johannis-
brotbäume und graue Oliven, auch rötUch schimmernde Granat-
bäume sind häufig, selbst Birn- und Pflaumenbäume fehlen nicht,
auffällige Erscheinungen neben den saftstrotzenden Opuntien und
Agaven der Neuen Welt. Alles prangt in frischem Grün des
Frühlings, der Feigenbaum und der Weinstock haben schon voll
entwickelte Triebe am 24. März! Weiterhin mündet das Tal in
die Vega von Malaga aus, die Fruchtbäume werden seltener,
das Zuckerrohr herrscht vor.
Wie schon der Name erkennen läßt, ist Almunecar ein Ort
mit noch ganz arabischem Gepräge, rings von Zuckerrohrfeldern
umgeben, die sozusagen in die Stadt selbst eindringen. Der
Burgfelsen war gewiß einmal eine Insel, die ihr Dasein der
großen Festigkeit des marmorartigen blauen Kalksteins verdankte,
den die Brandungswelle nur langsam abzutragen vermochte. Daß
er zum Teil dennoch abgetragen wurde, zeigt eine Klippenreihe,
die ihm ins Meer hinaus vorgelagert ist und so den Schiß"en
etwas Schutz bietet. Dieser Umstand, wie die natürUche Festig-
keit des Burghügels und die wohlbewässerte fruchtbare kleine
Ebene sind die drei Ursachen, welche hier wohl sehr früh eine
Siedelung haben entstehen lassen. In arabischer Zeit hat Almu-
necar eine gewisse Rolle gespielt; hier landete im Jahre 755
— 272 —
Abderrahman, der Sohn Moawias, einer der wenigen der Ver-
tilgung ihrer Familie durch die Abbasiden zu Damaskus ent-
ronnenen Ommijaden, der Begründer des Kalifats von Cordova.
Daß der Ackerbau auf so beschränktem Gebiet, neben welchem
Fischerei wenig ins Gewicht fällt, die 8000 Bewohner des Städt-
chens zu nähren vermag, läßt auch hier erkennen, welche Volks-
dichte in diesem glücklichen KUma möglich ist. Übrigens konnte
ich hier noch eine neue Art, Schweine zu verwenden und zu
mästen, kennen lernen: man führt sie am Seil durch die Straßen
und läßt diese so reinigen, gewiß gründlicher, wie es die Ziegen
tun, die ich anderwärts in Spanien dies Geschäft besorgen sah.
Wie viel praktischer sind doch die wackeren Bürger von Almu-
necar als die vorurteilsvollen Mohammedaner, welche aus religiösen
Gründen Hunde und Geier mit dem Auffressen des Unrates be-
trauen, die doch ihrerseits nicht zu essen sind.
Da ich am Ostersonnabend in Almuhecar anlangte, so genoß
ich auch da noch in der Nacht einen der großen Umzüge, in
welchen man in der Osterzeit stundenlang mit Musik und Wind-
beziehungsweise Wachslichtern meist lebensgroße Wachsfiguren,
■welche sich auf die Leidensgeschichte Chrisii beziehen, durch die
Stadt trägt, imd ganz wie am Mittwoch vor Ostern und Grün-
donnerstag in Velez Malaga, am Karfreitag in Nerja solche statt-
fanden. Selbstverständlich war von wirkUcher Andacht bei den
Tausenden von Menschen, welche an dem Umzug teilnahmen
oder von Baikonen und Fenstern zuschauten, wenig zu merken,
man sagte mechanisch Gebete her und vergnügte sich so viel
wie möglich; es war mehr ein nächtliches Volksfest. Am groß-
artigsten, aber völlig zu öffentlichen Schaustellungen ausgeartet
sind bekanntlich diese Umzüge in Sevilla, wohin jetzt, wie einst
zum Osterfeste in Rom, alle Fremden in Spanien zusammen-
zuströmen pflegen, zur großen Freude der Gastwirte, die ihre
Schafe dann gründüch scheren. Es gelang mir, Sevilla noch
rechtzeitig zu verlassen, ohne darum diesen Umzügen ganz ent-
rinnen zu können. Diese Tage vor Ostern, besonders Grün-
donnerstag und Charfreitag, sind die höchsten Feiertage in Spa-
nien, für die so strenge Vorschriften bestehen, daß der Kutscher,
der mich am Karfreitag in einer Diabola (kleiner zweiräderiger
Einspänner, anderwärts Tartane genannt) von Velez Malaga nach
Nerja gefahren hatte, dort von der Polizei deswegen in Strafe
— 273 —
genommen werden sollte. Das hinderte nicht, daß ich unterwegs allent-
halben Landleute in den Feldern beschäftigt fand. Ja, am Ostersonn-
tage herrschte in der Ebene von Motril die allerlebhafteste Arbeits-
tätigkeit, wie sie in Deutschland an diesem Tage ganz undenkbar wäre.
Von Almuhecar führt eine neue gut gebaute Straße nach
Motril; da aber das einzige, wie mir von verschiedenen Seiten
bestimmt versichert wurde, in der ganzen Stadt vorhandene Fuhr-
werk, eine Diabola, tags vorher nach Motril gefahren war, so
mußte ich die vier Stunden lange Strecke zu Pferde zurücklegen,
wobei wir die Windungen der Straße, die durch zahlreiche Quer-
täler bedingt sind, auf steilen Reitwegen abschnitten, fast ununter-
brochen in sünd flutartigem Regen. Nur für eine kurze Weile
hörte der Regen auf und brach die Sonne durch, just am schön-
sten Punkte, als beim Umbiegen um den letzten Bergsporn das
alte Felsennest Salobrena, dahinter die herrliche Ebene von Mo-
tril vor mir lag, Salobrena war in maurischer Zeit eine starke
Feste, die am Rande der reichen Vega von Motril am Meere
auf einem hohen vereinzelten Kalkfelsen thronte, heute liegt sie,
zuletzt von den Franzosen zerstört, in malerischen Trümmern da.
Um den Burgberg hat sich das gleichnamige Städtchen angesiedelt,
dessen zwei große Zuckerfabriken wenig in das Landschaftsbild
passen. Hier begann nun ein Treiben, wie es überraschender
am Ostersonntage nicht gedacht werden konnte. Die Zuckerrohr-
ernte war in vollem Gange, Tausende von Arbeitern waren da-
mit beschäftigt. Die ganze Ebene von Motril, die ehemals
mannigfachen Wechsel von Zuckerrohr-, Baumwoll-, Mais- und
Batatenfeldern, untermischt mit Hainen von Oliven und Apfelsinen,
wie Gruppen von anderen südlichen Fruchtbäumen und Dattel-
palmen darbot, ist jetzt ein einziges großes Zuckerrohrfeld, das
mitten in der Ernte mit den Tausenden geschäftiger Menschen
einem wimmelnden Ameisenhaufen glich. Schon durch die engen
Gassen von Salobrena war schwer durchzukommen, denn in langen
Zügen, zu zwanzig bis dreißig auf einmal, kamen mir Maultiere,
Pferde und Esel entgegen, zu beiden Seiten mit schweren Bürden
von Zuckerrohr beladen, das sie der Fabrik zuführten. Da andere
Züge in gleicher Richtung mit mir leer zu den Feldern zurück-
eilten, fehlte es nicht an Drängen und Stoßen, Zurufen und
Schreien der Treiber. Doch ging es stets friedlich ab, nichts
von jenen rohen Schimpfereien, wie sie bei uns unvermeidlich
Fischer, Mittelmeerbilder. l8
— 274 —
gewesen wären. So ging es fort, reichlich auf anderthalb Stunden
durch die ganze Vega, auf meist engen, grundlosen Wegen, ja
eine volle Stunde geradezu im Wasser reitend, Wasser von oben,
Wasser von unten. Der Guadalfeo nämlich, der größte der von
der Sierra Nevada nach Süden gehenden Flüsse, der in zwei
Hauptarmen, von denen zahlreiche Kanäle abgeleitet sind, die
von seinen Anschwemmungen gebildete Ebene durchströmt, war
stark angeschwollen und hatte die Ebene zum Teil überschwemmt,
namentlich aber hatten die Kanäle besonders die ausgetretenen
Wege überflutet und in Bäche verwandelt. Der Hauptarm des
Flusses war 350 m breit und bot, wenn auch nur 0,5 — 0,75 m
tief, durch die starke Kiesel rollende Strömung (eine Brücke war
selbstverständlich nicht vorhanden) den schwerbeladenen Tieren
viel Schwierigkeiten, was natürlich die eigentümliche malerische
Landschaft noch mehr belebte. Hier gewann man den Eindruck
eines tropischen Deltalandes, wie ja in der Tat die Vega von
Motril das mildeste Klima in Europa besitzt und die größte Zahl
tropischer Gewächse hervorbringt. Bei seiner Breite und Wasserfülle
machte der Fluß, der an jener Stelle, wo ich ihn durchritt, auf zwei
bis drei Kilometer durch Dämme und Flechtwerk notdürftig gerade
gelegt ist, mit seinem breiten Saume von hohem Rohr und im ersten
frischen Grün prangenden Silberpappeln einen bedeutenden Eindruck.
Im Sommer dürfte er wohl nur ein trockenes Kiesbett aufweisen.
Die Ernte hatte auch hier diesmal später begonnen und
viele Felder waren zu gleicher Zeit in Angriff genommen worden.
Scharen von fünfzig und mehr Arbeitern sah man auf den ein-
zelnen Feldern, die Männer hieben die dicken Rohre, die hier
drei Meter Höhe erreichen, ab; die Frauen und größere Kinder
befreiten sie von den Blättern. Diese werden dann aufgehäuft
und dienen zur Düngung. Aufseher, hier und da auch die Be-
sitzer zu Pferde, eilen von Trupp zu Trupp; alles kaut Zucker-
rohr, die Treiber der Lasttiere wie die Kinder in den Dörfern,
Zuckerrohrstengel werden in dieser Zeit in ganz Andalusien von
den Obstverkäuferinnen verkauft. Um das Zuckerrohr dreht sich
heute geradezu alles in diesem fruchtbarsten Teile Andalusiens.
Man zieht durch die zur Bewässerung eingerichteten Felder, nach-
dem sie tüchtig gedüngt sind, tiefe Furchen, in welche man
lange Rohrstengel legt und leicht mit Erde bedeckt. Diese
schlagen dann aus, im ersten und zweiten Jahre bleiben aber
die Stengel klein und haben wenig Zuckergehalt, vom dritten
Jahre an beginnt erst der volle Ertrag, nach weiteren acht bis
zwölf Jahren muß aber das ganze Feld gründlich umgearbeitet
und neu angelegt werden. Die Ernte beginnt meist Mitte Februar,
dies Jahr fast vier Wochen später, von da an arbeiten die Fakriken
etwa drei Monate. Dieselben gehören teils reichen Großgrund-
besitzern, eine große Zahl dem ,, Könige von Andalusien" Larios,
einem der reichsten INIänner Spaniens, wohl wesentlich durch
eigene Tüchtigkeit emporgekommen, teils Gesellschaften. Auch
die Zuckerrohrfelder gehören vielfach reichen Grundbesitzern,
doch haben die hohen Erträge, ähnlich wie in unseren Zucker-
rübengebieten, auch die kleinen Besitzer fast ausnahmslos zum
Anbau des Zuckerrohrs gebracht. Motril, drei Kilometer vom
Meere nahe dem oberen Ende der Ebene gelegen, ist durch
Zuckerrohrbau eine der wohlhabendsten Städte Spaniens gewor-
den; die stattlichen Häuser, Villen und Gärten, einzelne schöne
schnurgerade, gut gepflasterte Straßen zeugen von dem dort
herrschenden Wohlstande, trotzdem die Stadt nur 1 7 000 Ein-
wohner zählt. Natürlich hatte sich auch hier die Spekulation
breit gemacht, der Wert des Bodens war vor drei Jahren bis
auf 200^ Iq gestiegen. Seitdem ist aber auch hier ein gewaltiger
Rückschlag eingetreten; der deutsche Rübenzucker, der billiger
ist als der andalusische Rohrzucker, überflutet auch den spa-
nischen Markt, die Fabriken, außer den besonders gut geleiteten
des Larios, erzielen keinen Gewinn mehr und haben die Preise
für das Rohr so herabgesetzt, daß die Bauern behaupten, dabei
nicht bestehen zu können. Selbst\'erständlich sehen sie die Preis-
herabsetzung als einen Ausfluß der niederträchtigen Gewiimsucht
der Fabrikbesitzer an, es war kurz vor meiner Ankunft zu einem
förmlichen Aufstand in Motril gekommen, in blinder Wut waren
die Zuckerrohrfelder in Brand gi^steckt, ja der Sohn eines reichen
Grundbesitzers erschossen worden, die bewaffnete Macht mußte
einschreiten und eine Gerichtskommission hatte die Untersuchung
in die Hand genommen. Einzelne Besitzer haben infolge des
Preisrückganges schon angefangen, ihre Felder mit Baumwolle zu
bestellen, da diese heute besser zu lohnen scheint wie Zuckerrohr.
Die Verluste durch Frost werden diese Neigung noch bestärken.
Statistische Angaben über die andalusische Zuckergewinnung
zu geben ist unmöglich, es gibt keine, und gäbe es welche, so
i8*
— 276 —
wären sie, wie mir ein gründlicher Kenner Spaniens und Anda-
lusiens unter Belegen versicherte, falsch. Alles, was in Spanien
an amtlicher Statistik geliefert wird, selbst die Bevölkerungszahlen,
sind falsch, alle Aufnahmen werden von den Beamten liederlich
ausgeführt, und die gegen alles, was von dem Beamtentum aus-
geht, mit Recht mißtrauische Bevölkerung macht mit Absicht
falsche Angaben. Die Verderbtheit des spanischen Beamtentums
ist, wie ja verschiedene in der letzten Zeit durch die Tages-
presse bekannt gewordene Vorgänge gezeigt haben, eine so trost-
lose, daß selbst das magyarische Ungarn und Rußland noch
besser daran sind und ich nur in der Türkei ähnliche Zustände
gefunden habe. Es hängt das mit dem Treiben der Parteien
und dem beständigen Wechsel der Beamten zusammen. Jeder
sucht sich so rasch wie möglich zu bereichern. Auch ist die
Mißachtung, in welcher die Beamten stehen, eine große, aber
wohlverdiente. Von den Summen z. B., welche für die Über-
schwemmten in Murcia und für die durch das furchtbare anda-
lusische Erdbeben, dessen Spuren heute noch frisch sind, Heim-
gesuchten auch bei uns aufgebracht worden sind, ist tatsächlich
nur ein kleiner Teil in die Hände der Bedürftigen gekommen,
das meiste ist in den zahlreichen Beamtenhänden, durch die es
ging, kleben geblieben. Der verstorbene tüchtige König Alphonso,
der diese Zustände wohl kannte und sie mit der Zeit wohl auch
gebessert haben würde, verteilte eigenhändig Geld in dem Erd-
bebengebiet, aber da auch er sich nur ausnahmsweise an die
Geschädigten unmittelbar wenden konnte und sonst nur an die
Gemeindevertretungen, so ist selbst von diesen Gaben des Königs
ein großer Teil unterschlagen worden. Der Steuerdruck ist für
die Masse der Bevölkerung, namentlich weil sich gerade die
steuerkräftigsten Kreise der Besteuerung zu entziehen wissen, ein
ungeheurer, fast unerträglicher, selbst für ein so genügsames
Volk wie das spanische, die Mißverwaltung in allen Zweigen eine
sehr große, und man begreift so, daß in einem Lande fast von
der Größe des Deutschen Reiches, aber nur ein Drittel der Be-
völkerung, wo fruchtbares Land in Fülle für die dreifache Volks-
menge vorhanden ist, fortdauernd eine beträchtliche Auswande-
rung nach Südamerika und Algerien stattfindet. Die Masse der
Bevölkerung ist blutarm und tief verschuldet, sie lebt von der
Hand in den Mund; kann sie, wie in diesem kalten und reg-
— 277 —
nerischen Winter, nur einige Zeit nichts verdienen, so entsteht
große Not, und die Großgrundbesitzer sind dann genötigt, Vor-
schüsse zu machen oder geradezu den Hungernden Brot zu
geben. Viele Tausende hungernder Landleute waren Ende März
in Granada zusammengeströmt, um ihr Leben von Almosen zu
fristen, in Scharen standen sie, wenn einmal die Sonne schien,
an der Sonnenseite der Straßen und wärmten sich. Durch die
Verwüstungen der Reblaus sind auch in Andalusien viele Besitzer
verarmt. Das Verkehrswesen liegt sehr im argen; man hat ja
in der letzten Zeit viel Eisenbahnen gebaut und es ist den
dringendsten Bedürfnissen in dieser Hinsicht wohl genügt, aber
die Linien sind bis auf eine kleine Ausnahme — und dies ist
die einzige anständige Eisenbahn in Spanien — in den Händen
französischer Kapitalisten, die den Verkehr in noch schamloserer
Weise wie in Frankreich ausbeuten. Es gehen wenige Züge,
mit wenigen Beamten, geringer Fahrgeschwindigkeit, ohne Ein-
halten der Fahrzeit mit einem geradezu ekelhaften Wagenmaterial.
Letzteres ist allerdings zum Teil Schuld der Bevölkerung. Jeden-
falls sind die spanischen Eisenbahnen die schlechtesten Europas.
Der Bau ist allerdings teilweise, der Aufstieg von den Küsten
aufs Hochland überall schwierig und kostspielig gewesen. Es
ist nicht zu verkennen, und gute Kenner des Landes geben das
auch zu, daß auch in Spanien Fortschritte zum Besseren gemacht
sind, aber es geht damit unendlich langsam. Es fehlt an Unter-
nehmungsgeist, Arbeitslust, Zuverlässigkeit, auch die beste Regie-
rung kann nicht viel tun, wenn ihr, wie heute, die Unterstützung
durch ein tüchtiges Beamtenheer fehlt. Heute ist Spanien ein
zwar an unentwickelten Hilfsquellen reiches, aber im übrigen
armes, schwaches Land, das noch für lange Zeit in der euro-
päischen Politik, da es ganz außer stände ist, namhafte Kräfte
außer Landes zu verwenden, ohne Einfluß bleiben wird. Be-
lustigend mußte es daher wirken, daß wiederholt selbst gebildete
Spanier auf die Karolinenfrage zu sprechen kamen und der
festen Überzeugung waren, Spanien hätte es auch allein recht
wohl mit dem Deutschen Reiche aufnehmen können. Das Schul-
wesen und die Volksbildung liegt eben in Spanien tief danieder,
der Spanier reist möglichst wenig, er kennt sein eigenes Land
nicht, die ganze übrige Welt liegt ihm unendlich fem, nur selten
fällt sein Blick durch eine französische Brille auf sie.
V. Die Atlasländer.
I. Die Küstenländer Nordafrikas in ihren
Beziehungen und in ihrer Bedeutung für Europa. 0
Zu den wertvollsten und charakteristischen Seiten der von
Karl Ritter zuerst so erfolgreich angewendeten Methode, erdkund-
liche Tatsachen aufzufassen, gehören Untersuchungen über die
Küstenbeschafifenheit, sowie das Vorhandensein und den Cha-
rakter der Gegengestade irgend eines Landes mit Rücksicht auf
das Maß seiner Entwickelungsfähigkeit. So klar wie es auf der
Hand liegt, daß eine ungünstig gebildete Küste die Entwickelung
der materiellen und geistigen Kultur eines Landes hindern muß,
ebenso muß der Mangel eines Gegengestades in gleichem Sinne
einwirken. Die dem Ozean zugekehrten Landschaften der Ibe-
rischen Halbinsel und Großbritanniens lagen am Rande der be-
wohnten Erde, außerordentlich ungünstig, trotz ihrer trefflichen
Häfen, bis zu dem Augenblick, wo Europa durch Entdeckung
der Neuen Welt, damit im ursächlichen Zusammenhange der di-
rekten Verbindung mit Indien, sein Gegengestade erhielt. Das
Vorhandensein eines Gegengestades ist mindestens von gleich
hoher Bedeutung wie eine günstige Küstenbeschaffenheit, Gestade
und Gegengestade müssen notwendig in den innigsten Bezie-
hungen zueinander stehen, die größere oder geringere Ausstattung
des einen muß auf das andere den tiefgreifendsten Einfluß aus-
üben, historische Vorgänge auf dem einen ihre Schatten auf das
andere werfen. All das in um so höherem Maße, je näher beide
l) Erschienen in der Deutschen Revue 1882.
— 279 —
einander gegenüberliegen ; im allgemeinen aber wird das we-
niger reich ausgestattete dem Einflüsse des reicheren unterliegen,
nur in kurz vorübereilenden Perioden besonderer, von einer neuen
Idee getriebener oder von außen dorthin verpflanzter Kraft-
entfaltung der Bewohner kann das Umgekehrte eintreten. Die
hier allgemein ausgesprochenen Sätze finden ihre vollste Anwen-
dung auf die südlichen Gestadeländer des Mittelmeeres, die ja
in der letzten Zeit so auffallend in den Vordergrund der Er-
eignisse getreten sind und voraussichtlich noch für lange Zeit
immer und immer wieder treten werden. Es dürfte daher von
allgemeinem Interesse sein und das Verständnis nicht nur der
letzten politischen und militärischen Vorgänge in Nordafrika
wesentlich fördern, sondern auch einen Blick in die Zukunft ge-
statten, wenn wir die Vergangenheit der Beziehungen Nordafrikas
zu Südeuropa vor unserm Geiste vorübergehen lassen, insofern
dieselben sich aus geographischen Tatsachen und somit gewisser-
maßen aus Naturgesetzen herleiten lassen. Ägypten, ohne näheres
Gegengestade am äußersten Südostende des Mittelmeeres gelegen,
noch mehr als Durchgangsland als um seiner selbst willen von
Wichtigkeit, durch einen ungeheueren wüsten Küstenstrich von
den übrigen Gestadeländern Nordafrikas abgesondert, spielt eine
von diesen völlig abweichende Rolle und fällt deshalb außerhalb
des Rahmens unserer Betrachtung, Diese wird vorzugsweise auf
die Küstengestaltung, sowie auf die sonstigen wichtigeren geo-
graphischen Faktoren der nordafrikanischen Gestadeländer von
Barka westwärts, wie sich dieselben in der Geschichte spiegeln,
einzugehen haben.
Die Küsten Nordafrikas, namentlich soweit sie den Atlas-
ländern, die Karl Ritter nicht unpassend als Kleinafrika bezeichnet
hat, angehören, erscheinen auf den ersten Blick als für Afrika
ungewöhnlich günstig entwickelt. Wir sehen hier halbinselartig
Barka in das Mittelmeer vorspringen, wir sehen das Syrtenmeer
in den Rumpf eindringen, in der kleinen Syrte sogar reich an
stattlichen Inseln, wir erkennen den Golf von Tunis, der eine
kleine Halbinsel ausschneidet, und von da westwärts eine an
kleinen Buchten so reiche echt mediterrane Küste, wie sie in
Afrika nur im Kaplande wiederkehrt, kurz, das Mittelmeer, das
Meer der Halbinseln, Meerbusen und Meerengen, scheint auch
das ungefüge Afrika aufschließen zu wollen. Indes, bei näherer
— 28o —
Prüfung erweist sich auch hier der Grad der Begünstigung in
bezug auf reichere Küstengliederung als geringer, als man aus
einem Blick auf die Karte schließen darf. Jene größeren Ein-
buchtungen weisen meist geschlossene Küsten auf, die Natur
des Binnenlandes, die Verbindung desselben mit der Küste ist
eine ungünstige, diese selbst steht allenthalben unter den un-
günstigsten Windverhältnissen.
Die jetzige politische Gliederung der Gestadeländer Nord-
afrikas ist eine so tief in den geographischen Verhältnissen be-
gründete, daß sie zu allen Zeiten bestanden und nur vorüber-
gehend einer Einheit Platz gemacht hat. Selbst von der Drei-
teilung des Atlasgebiets gilt dies, nur die Grenzen haben sich
zuweilen etwas verschoben. Bei den drei östlichen, Barka, Tri-
politanien und Tunesien, hat die Natur einen einzigen Punkt so
außerordentlich bevorzugt, daß derselbe mit dem ganzen Land
mehr oder weniger identisch ist, während in Algerien und Ma-
rokko dagegen eine solche Vielzahl der Schwerpunkte von der
Natur geschaffen ist, daß es selbst der zentralisiertesten Verwal-
tung gar nicht oder nur vorübergehend gelingen kann dem einen
oder dem anderen das entschiedene Übergewicht zu geben.
Die Bedeutung der Gestadeländer Nordafrikas für Europa
ist eine doppelte, einmal insofern dieselben reich an inneren
Hilfsquellen jeder Art sind, vermöge deren sich hier im Alter-
tum, teilweise auch noch im Mittelalter, große Bevölkerungsver-
dichtung und hohe Kultur zu entwickeln vermochte, dann aber
namentlich weil sie die Eingangstore zu dem an Erzeugnissen
der verschiedensten Arten überreichen transsaharischen Afrika
bilden. Allerdings trennt sie von jenem die ungeheuere Wüste
in einer mittleren Breite von 1700 km (Entfernung Berlin-Kon-
stantinopel) und es läßt sich gegenüber einer Fülle von Tat-
sachen nicht mehr verkennen, daß die Wüstenbildung in der
Sahara, seit der Pluvialzeit, ja vielleicht bis in die geschichtliche
Zeit fortgeschritten ist, aber dennoch ist die Wegsamkeit der
Wüste größer als man gewöhnlich annimmt, auch ist sie durch
artesische Brunnen, mit deren Hilfe die Franzosen im südlichen
Algerien ganze Oasen geschaffen haben, in hohem Grade zu ver-
bessern. Selbst die Möglichkeit, eine Eisenbahn durch die
Wüste zu bauen, kann durchaus nicht bezweifelt werden, der
günstigste Ausgangspunkt derselben wäre aber unbedingt Tripolis,
der denkbar ungünstigste, wegen der größeren Oasenarmut und
des eigentümlichen Charakters der Bewohner der westlichen Sa-
hara, dagegen irgend ein Punkt der Küste von Algerien, und die
Franzosen haben sich auch bei den Stämmen der Wüste so un-
erbittlichen Haß zugezogen, daß noch für sehr lange Zeit dafür
gesorgt ist, daß auch hier die Bäume der so ausdehnungslustigen
Französischen Republik Aicht in den Himmel wachsen werden.
Seit einem halben Jahrhundert mühen sich sowohl einzelne fran-
zösische Forscher wie ganze Expeditionen ab, die Wüste von
Algerien zum Niger oder umgekehrt zu durchqueren: erst nach
fast zwanzigjährigem Bemühen ist dies dem vortrefflichen F. Fourreau
1899 gelungen. Wie gangbar aber schon jetzt die Wüstenstraßen
sind, wie wichtig sie selbst wenig fortgeschrittenen Völkern
waren, das erkennen wir deutlich daraus, daß ganze Völker-
stämme aus Nordafrika nach dem Sudan eingewandert sind,
Sudankönige ihr Gebiet bis Fezzan, Herrscher von Marokko das-
selbe bis Timbuktu ausgedehnt haben. Noch in den 40er Jahren
ist der Stamm der Auläd Soliman mit Weib und Kind und aller
Habe aus der Umgebung der Großen Syrte vor den Türken aus-
gewandert und treibt jetzt sein räuberisches Wesen in Kanem
östlich des Tsadsees. Wie Nachtigal nachgewiesen hat, gehörte im
13. und 14. Jahrhundert Fezzan bis Wadan zum sudanischen Reiche
Kanem, damals also mögen die Italiener in direkten Handels-
beziehungen zu Zentralafrika gestanden haben. Umgekehrt herrsch-
ten die Sultane von Marokko lange Zeit zu Ende des 16. Jahr-
hunderts über Timbuktu, den Schlüssel und Knotenpunkt aller
Wüstenstraßen vom Nigergebiet zu den Atlasländern und den
Mittelmeerküsten. Nicht nur für Karawanen, sondern für ganze
Völkerstämme und Heere sind die Wüstenstraßen also gangbar.
Die natürlichen Endpunkte derselben am Mittelmeere müssen
daher immer und immer wieder, mag der Handel auch durch
politische Verhältnisse, durch Verödung der Sudanländer oder
der Gestadeländer Nordafrikas eine Zeitlang oder selbst lange
Zeit auf ein Minimum herabsinken, zu der Bedeutung gelangen,
welche ihnen durch den Zug der Oasen, durch ihr näheres
Hinterland, durch die Küstenbeschaffenheit, durch die Gegen-
gestade vorgezeichnet ist. ') Diese Punkte sind Tripolis, Tunis,
i) Wenn heute die Wüstenstraßen verödet sind und der Sudan, der
irgend ein Punkt an der Küste von Algerien (Bona, Bougie,
Algier, Oran, wie wir diese Verschiebung weiter unten aus der
Küstenbeschaffenheit erklären werden), Ceuta oder Tanger und
Mogador. Von vorübergehender Bedeutung wird dagegen für
den innerafrikanischen Handel ein Punkt an der Kleinen Syrte
und Bengasi sein. Ersterer wird nur unter ganz besonderen po-
litischen Verhältnissen mit Tripolis und Tunis, letzteres mit
Alexandria in den Wettbewerb eintreten können. An der inner-
sten Kleinen Syrte mußte sich zeitweilig ein Ort zu einiger Be-
deutung erheben, da dort die Küste eine so entschiedene Wen-
dung macht und sich sowohl die von Osten, wie die von Norden
kommenden Straßen in gleicher Richtung ins Innere des Konti-
nents festsetzen, südwärts über Rhadames in transsaharische
Räume. So hat Gabes, das jetzt fast nur von dem Ertrage
seiner Oase lebt, im Altertum und wieder im Mittelalter eine
große Rolle gespielt. Nach Strabons Zeugnis erreichten hier die
Waren aus dem inneren Afrika die Küste, ja die Griechen be-
nannten die ganze Umgebung der Kleinen Syrte eben der Wich-
tigkeit für den Handel wegen Emporia. So hat femer seit den
40er Jahren der Handel von Bengasi etwas Leben erhalten da-
durch, daß durch die Ägyptischen Eroberungen im oberen Nil-
gebiet der Handel sich von der bequemen Nilstraße ab und di-
rekt nordwärts zum Mittelmeere gewendet hatte und er auch
neuerdings wiederum seit der Eroberung von Darfor von Wadai
aus diese Wüstenstraße nach Bengasi aufgesucht hat. Doch wird
dies immer nur vorübergehend der Fall sein, da Bengasi eines
Hafens ermangelt und diese Wüstenstraße zu den wasserarmsten
gehört. Dennoch aber wird es immer eine gewisse Wichtigkeit
behaupten, da es der bei weitem am günstigsten gelegene Ort
von Barka, ja geradezu mit Barka identisch ist. Sein Besitz
schließt stets denjenigen dieses Landes ein, das, im Rücken, im
Osten und im Westen die Wüste, von den zunächst liegenden
Tripolitanien und Ägypten scharf getrennt als eine Mittelmeer-
insel anzusehen ist, von der man in wenigen Stunden das natür-
liche Gegengestade Morea oder Kreta erreicht. Von dort empfing
vom Beginn geschichtlicher Überlieferung an nach Norden, nach dem medi-
terranen Kulturkreise geblickt hat, heute sein Gesicht nach dem Golf von
Guinea gewendet hat, so kann auch das sich wieder ändern.
- 283 -
das Land seine griechischen Bewohner und Kultur, mit Griechen-
land fand im ganzen Altertum der engste Verkehr statt, mit
Kreta verbanden auch die Römer, die Meister einer wohlgeord-
neten Verwaltung, die Kyrenaike zu einer Provinz. An Stelle
der Griechen sind die Italiener getreten, ihre Sprache ist die
des Verkehrs, der seit dem Mittelalter fast nur mit Italien und
Malta stattfindet. Erschwert wird derselbe aber ungeheuer da-
durch, daß an der ganzen steil zu großen Meerestiefen hinab-
sinkenden, heftigen Nord- und Nordweststürmen ausgesetzten
Felsenküste weder ein Hafen existiert, noch, wenigstens nicht
ohne große Kosten, herzustellen ist. Wochen-, ja monatelang
darf zuweilen im Winter kein Schiff diesen Gestaden nahen und
dadurch wird die überaus günstige Lage dieser mächtigen in
das Mittelmeer an die große Straße von Gibraltar nach Alexan-
dria und Port Said vorgeschobenen Bastion sehr benachteiligt.
Dies bestimmte wohl auch die Amerikaner in erster Linie die
herrliche Küstenoase von Derna, welche sie 1815 besetzt und
sich bereits durch in den Ruinen noch heute erhaltene Be-
festigungen zu sichern begonnen hatten, wieder aufzugeben. Auch
die Franzosen hatten schon früher, 1799, bei Gelegenheit der
ägyptischen Expedition sich hier festzusetzen versucht. Anders
freilich war es in griechischer Zeit, da lagen hier blühende See-
städte, deren Ruinen noch wohlerhalten sind, da besaßen die
Kyrenäer große Flotten, mit denen sie den Karthagern die Spitze
boten, ja man schrieb ihnen die Erfindung der Lembi, einer
Art leichter, schneller Barke zu. Die gewaltige Erosion der
Meereswellen bei den Nordstürmen und eine säkulare Senkung,
welche die ganze Küste erleidet, hat die Klippen und Felsen-
inseln, welche den kleineren Schifi^en jener Zeit hinreichenden
Schutz gewährten, ganz oder teilweise unter den ^Meeresspiegel
verschwinden gemacht. Immerhin aber bleibt die Gunst der Lage
und die natürliche Begabung des, nur das anbaufähige Land in
Betracht gezogen, dem Königreich Würtemberg gleichenden, aber
nur von y^ Millionen Menschen bewohnten Landes noch groß
genug. Ist das Land auch jetzt Nomaden anheimgefallen und
verödet es unter türkischem Drucke immer mehr — man zählt
jetzt nur vier dauernd bewohnte Orte, — so ist es doch noch
immer wohlbewässert und fruchtbar, imstande reiche Ernten an
Weizen, Öl, Wein usw. hervorzubringen, treffliche Rosse und
— 284 —
Rinder und wohl mindestens l Million Bewohner zu nähren, als
eine wertvolle Provinz eines zivilisierten Staates. Und derjenige
Staat, dem naturgemäß das Land zufallen müßte, Italien, scheint
denn auch sein Auge darauf gerichtet zu haben. Im vergange-
nen Frühjahr hat eine italienische Expedition — wir wollen gern
glauben, nur mit kommerziellen Hintergedanken — in Mai-
land organisiert, das Land durchzogen und es sehr schön ge-
funden.')
Weit größer sowohl an sich wie hinsichtlich des inner-
afrikanischen Handels ist aber die Bedeutung von Tripolitanien.
Für letzteren, der jeden denkbaren Aufschwungs fähig ist, ist zu
allen Zeiten die Küste von Tripolitanien die günstigste gewesen.
Sie liegt Sizilien und Malta in geringer Entfernung gegenüber am
Syrtenmeere, das hier tief in den Rumpf Afrikas eindringt, so
daß die Entfernung von dem Tsadsee geringer ist als von irgend
einem anderen Punkte der Küste, und zwei verhältnismäßig kurze
Wüstenstraßen, die von einer Reihe von Oasen vorgezeichnet
sind, endigen hier. Die eine führt über Rhadames, Rhat und
Air in das Haussagebiet, die andere über Murzuk und Kawar
nach Kuka und an den Tsadsee. Ja selbst der Handel mit
Wadai hat sich seit 1873 vorzugsweise hierher gezogen. Der Ver-
kehr mußte sich an demjenigen Küstenpunkte festsetzen, welcher
sich am frühesten entwickelt hatte, aber schließlich mußte der
Punkt die Oberherrschaft erlangen und behaupten, der den besten
Hafen hatte. Verhältnismäßig wasserreich und fruchtbar ist der
ganze Küstensaum von Masrata am westlichen Eingange in die
Große Syrte bis an die jetzige tunesische Grenze, Oase reiht
sich dort an Oase, der Steilrand der großen Wüstentafel des
Binnenlandes verdichtet den dazu nötigen Wasserreichtum, aber
doch waren es drei Örtlichkeiten, — daher der Name Tripolis,
der schließlich an der mittelsten haften blieb und auch mit
Recht auf die ganze Landschaft übergegangen ist — drei
Punkte, an welchen sich durch besonderen Wasserreichtum und
Fruchtbarkeit die größten Oasen zu entwickeln vermochten und
deren Wichtigkeit daher schon die Phöniker erkannten. Es waren
I) Barka hat seitdem eine gründliche Bearbeitung durch einen meiner
Schüler erfahren : Dr. G. Hildebrandt : Cyrenaika als Gebiet künftiger Besiede-
lung. Bonn 1904.
- 285 -
von West nach Ost Sabratha, Oea und Leptis magna. Letztere
war am reichsten durch den Kinyps bewässert, der eine Oase
schuf, in welcher angebUch der Weizen dreihundertfältige Frucht
gab. Daher entwickelte sich Leptis früh zu einer bedeutenden
Stadt, die sich auch das Meer durch einen entweder ganz
künstlich gegrabenen oder wenigstens verbesserten Hafen erschloß.
In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war es eine
der größten und prächtigsten Städte des Römerreichs, die Haupt-
stadt Tripolitaniens, der Ausgangspunkt für alle Handels-, For-
schungs- und kriegerischen Unternehmungen in das Innere des
Kontinents. Die Blüte von Leptis sank mit derjenigen des Römer-
reichs, sein künstlicher Hafen versandete und an seine Stelle ist
seitdem und für alle Zeiten Tripolis (Oea) getreten, das eben-
falls eine wasserreiche Ebene hinter sich und die gleich günstige
Verbindung mit dem Hinterlande und dem Sudan, überdies
aber eine von der Natur selbst geschaffene auch größeren
Schiffen schuzbietende und leicht zu verbessernde Rhede hat, die
einzige zwischen Alexandria und dem Tunesischen Golfe! Darauf
beruht auch seine Bedeutung in der Zukunft, nicht nur als
Hauptstadt Tripolitaniens, sondern als wichtigstes Tor des Sudan!
Eine Klippenreihe löst sich dort von der ziemlich steilen Küste
ab und setzt sich in nordöstlicher Richtung mehr als eine See-
meile, durch Riffe sogar drei Seemeilen weit ins Meer hinaus
fort, und schafft dadurch einen ziemlich sichern und tiefen leicht
zu verteidigenden Hafen, der, wenn man, wie es zum Teil schon
der Fall ist, die Klippen noch weiter durch Steindämme ver-
bände, ein geräumiges fast gegen alle Winde geschütztes Becken
bilden würde. Hier in dem nächsten, sichersten Hafen wird sich
der Verkehr immer wieder konzentrieren und je mehr derselbe
wachsen wird, je mehr Innerafrika erschlossen, die Wüstenstraßen
gesichert werden, um so größer wird die Wichtigkeit von Tripolis
werden. Trotz ungünstiger Verhältnisse im Sudan, trotz der
trostlosen Zustände des Türkenreiches macht sich im letzten
Jahrzehnt in Tripolis fortschreitende Entwickelung, Aufblühen der
Stadt, mehr als Verdoppelung des Hafenverkehrs bemerkbar. Zum
Teil beruht dieser Aufschwung mit auf der Gewinnung von Alfa
im Hinterlande, das ausgedehnter und gewiß nicht weniger frucht-
bar ist als das von Bengasi und noch heute vielleicht des glei-
chen Kulturzustandes fähig ist wie in römischer Zeit. Eine dichte
— 286 —
hoch zivilisierte Bevölkerung saß damals in den reich bewässer-
ten Küstenebenen, wo sich noch heute eine Dattelpalmen-Oase
an die andere reiht, wie auf dem noch heute olivenreichen
Hochlande, bzw. an dem niederschlagsreichen von Tälern ge-
furchten Steilabsturze der großen Kreidetafel der Wüste. Rö-
mische reich verzierte Monumentalbauten finden sich noch heute
wohlerhalten in dem meist Nomaden anheim gefallenen Innern
des Landes, als Denkmäler dessen, was das Land einst war und
was es wieder werden wird. Bei einer Ausdehnung, die der-
jenigen des Deutschen Reiches ungefähr gleich gesetzt werden
kann, hat das Land jetzt doch nur etwa ^3 Million Bewohner,
vermöchte aber unter geordneter Verwaltung mehrere Millionen
zu nähren. Noch in den letzten Jahrzehnten ist die Bevölkerung
beständig zurückgegangen, die türkische Besitzergreifung im Jahre
1835 hat auch hier ihre unheilvolle Wirkung nicht verfehlt, aber
in den Händen einer zivilisierten Nation, unter geordneter Ver-
waltung würde das Land sich rasch wieder heben, es würde die
kürzeste Straße nach dem Sudan gesichert und Tripolitanien da-
durch, obwohl es an sich von der Natur weniger reich ausge-
stattet ist als die Atlasländer, die wertvollste Landschaft Nord-
afrikas werden. Jene werden niemals, selbst Marokko nicht, den
Wettbewerb um den innerafrikanischen Handel mit Tripolis aus-
zuhalten vennögen. Tripolitanien wird an Bedeutung im inter-
nationalen Handel gleich nach Ägypten kommen. Noch mehr
wie Barka ist Tripolitanien auf Italien hingewiesen, da es eben-
falls durch Wüsten auf allen Seiten isoliert, mit seinem Gegen-
gestade von jeher in lebhaftesten Beziehungen gestanden hat.
Die Beziehungen zu den Phönikern scheinen nicht tief gedrungen
zu sein, römische Kultur um so tiefer, und seitdem sind die Be-
ziehungen zu Italien nicht mehr unterbrochen worden. Die euro-
päische Kolonie in Tripolis besteht heute fast ganz aus Italienern
und Maltesern. Schon 1 2 1 6 schlössen die Genuesen einen
Handelsvertrag, der ihnen die ganze Küste bis Barka öffnete und
das ganze Mittelalter hindurch hatten sie am ganzen Syrtenmeere
das Monopol des Handels. Schon auf den ältesten uns erhalte-
nen italienischen Seekarten, aus dem Anfange des 14., wahr-
scheinhch aber der Mitte des 13. Jahrhunderts erscheinen die
Umrisse des Syrtenmeeres , mit den Namen zahlreicher Küsten-
plätze bedeckt, sehr genau dargestellt, genauer als auf unseren
- 287 -
modernen Karten bis zu den englischen Aufnahmen in den
zwanziger Jahren.
Anderer Art ist die Wichtigkeit von Tunis und Tunesien;
sie beruht weniger auf dem Handel mit Innerafrika als auf den
eigenen Hilfsquellen und der Lage an der großen das östliche
Mittelmeer mit dem westlichen verbindenden Straße, die sehr
viel enger ist als jene zwischen Barka und Kreta und an welche
Afrika nicht wie dort in der Gestalt einer hafenlosen Hochlands-
bastion, sondern mit einem tiefen Meerbusen heranreicht. Die
Breite dieser Straße, die wir am besten nach dem mitten darin
in der tiefsten Rinne aufgebauten Inselvulkan von Pantelleria
benennen, beträgt 150 km, aber die Strömung geht die afrika-
nische Küste entlang und die nördlich vom Golf von Tunis
liegende Skerki Bank wie die Adventure und andere Bänke zwi-
schen Pantelleria und Sizilien drängen den Verkehr nach Afrika
hinüber. Die Beherrschung der Meerenge wäre weit leichter von
Pantelleria aus, wenn diese Insel nicht gegen Malta dadurch
zurückstände, daß sie an ihren steil aus großen Tiefen aufstei-
genden Küsten auch der kleinsten Bucht entbehrt und selbst
künstliche Hafenanlagen schwierig sind. Um so größere Wichtig-
keit hat aber dadurch der Golf von Tunis, an dem naturnot-
wendig stets ein wichtiger Handels- und Kulturmittelpunkt liegen
muß. So folgen hier aufeinander Utika, Karthago, dann wieder
Utika, dann Neukarthago, schließlich nach kurzer Unterbrechung
Tunis. Diese Unterbrechung fällt in die ersten Jahrhunderte der
arabischen Herrschaft, in die Zeit, wo der Haß zwischen Christen-
tum und Islam so groß war, daß nicht einmal Handelsbeziehungen
zwischen beiden stattfanden, zugleich die Zeit, in welcher die
Araber selbst noch vor dem Meere zurückschreckten. Darum
hatten sie Kairwan weiter südwärts im Binnenlande gegründet,
das wohl durch Industrie und Landhandel emporblühte, aber doch
als mehr oder weniger künstliche Schöpfung von dem Augenblicke
an wieder sinken mußte, wo der Seeverkehr in Nordafrika wieder
auflebte und die alten Beziehungen zu Italien sich wieder gel-
tend machten. Von diesem Augenblick an trat der Golf von
Tunis wieder in seine ihm von der Natur verliehenen Rechte,
welche der Mensch nur vorübergehend zu schmälern vermag. Für
mehrere Jahrhunderte wurde Tunis nun auch Endpunkt der
großen innerafrikanischen Handelsstraßen, die sich damals in
— 288 —
Wargla, in der jetzt französischen Sahara vereinigten. Selbst
die türkische Besitzergreifung im i6. Jahrhundert machte dem
noch nicht völHg ein Ende und noch heute gilt Tunis den
Wüstenbewohnern als eine große, reiche und überaus prächtige
Stadt. Daß hier an der Westseite des Golfs jeder Zeit eine
Großstadt blühen muß, erklärt sich aber nicht allein aus der
Lage dieses Golfs am nordöstlichsten Vorsprunge der Atlasländer
und an der Meerenge, sondern auch daraus, daß hier die Natur
die Lage der Hauptstadt des ganzen östlichen Atlasgebietes,
etwa in der Ausdehnung des heutigen Tunesien, vorgezeichnet
hat. Hier mündet nämlich der Medscherda, nicht der größte,
aber jedenfalls einer der wasserreichsten Flüsse des Atlasgebietes,
dessen ausgedehntes, wohlbewässertes und außerordentlich frucht-
bares Gebiet, einst die Kornkammer Roms, die einzige größere
geographische Einheit im östlichen Atlasgebiet bildet. Die Haupt-
stadt des Medscherdagebiets muß am Meere liegen, sie verfügt
über seine Hilfsquellen und erlangt daher bald in ähnlicher Weise
das Übergewicht über die östliche Abdachung Tunesiens wie
etwa Paris, der Mittelpunkt des einheitlichsten und geschlossen-
sten der Flußbecken Frankreichs über die übrigen, um so mehr
als an der ganzen Ostküste sich kein einziger Naturhafen findet
und im Altertum daher Schiffahrt erst künstlich an diese Küste
verpflanzt werden mußte. Noch allenthalben findet man die
Spuren der Hafenbecken, welche hier zuerst von den Karthagern
gegraben wurden. Nur derjenige Küstenplatz vermochte in mo-
derner Zeit eine gewisse Bedeutung zu erlangen, der bei Pro-
duktenreichtum der Umgebung den Schiffen einige Sicherheit
gewährt, Sfaks nämlich mit seiner durch die vorliegenden Kar-
kenahinseln etwas geschützten Rhede. Hier in Tunesien hat also
die Natur in ähnlicher Weise einen Punkt des Landes bevorzugt
wie in Tripolitanien, der Besitz der Medscherdamündung und
des Golfs bedeutet den von Tunesien. Eine Naturkraft, eben
der Medscherda, ist es aber auch, welche die beständige Ver-
schiebung der Hauptstadt von Utika bis Tunis verursacht hat.
Der Medscherda ist ein mächtiger Deltabauer, er arbeitet rüstig
an der Zuschüttung des Golfes, mehrere Inseln hat er schon
landfest gemacht. Buchten und Landseen geschaffen, die er aber
ebenso sicher nach und nach in Land verwandelt. Kein Hafen
im Bereiche seiner Anschwemmungen, so sehr dieselben Grabung
— 289 —
künstlicher Hafenbecken erleichtern, ist vor Verlandung geschützt.
So wurde das alte Utika auf einer felsigen Küsteninsel gegründet,
welche jetzt trümmerbedeckt 11 km vom Meere liegt; auch die
Stätte von Karthago lag ursprünglich auf einer solchen nur etwas
größern und höhern Küsteninsel, die aber wohl schon bei Grün-
dung der Stadt zur Halbinsel geworden war und seitdem immer
mehr verlandet ist. Nördlich und südlich lagern ihr noch flache
Seen an, abgeschnittene Meeresteile, welche der Verlandung rasch
entgegengehen. Der See von Tunis wird immer seichter und
sperrt die Stadt immer mehr vom Meere ab, statt sie mit dem-
selben, wie es einst der Fall war, zu verbinden. Am besten
können wir die Verlandung eines solchen ehemaligen erst durch
den Fluß gebildeten Küstenhaffs am nördlichen Eingange des
Golfs verfolgen. Dort finden wir das Haff von Porto Farina,
welches noch zu Anfang das ig. Jahrhunderts einen trefflichen
Hafen, ja den Hauptkriegshafen des Bey bildete, noch liegen
alte Galeeren im Schlamme vergraben da, seitdem aber hat der
Medscherda seine Mündung etwas verschoben und sendet bei
Hochwasser einzelne Arme in die Bucht, deren Grund sich da-
durch in kurzer Zeit um 10 Meter erhöht hat, so daß sich jetzt
nur noch i — lYg Meter Wasser findet, Porto Farina bald das
Schicksal von Utika teilen, im Binnenlande liegen und der Pflug
über die Stätte gehen wird, wo vor i — 2 Jahrhunderten die
größten Kriegsschiffe ankerten. Diese gefährliche Nachbarschaft
des Medscherda, welcher selbst Tunis und Goletta noch nicht
völlig entrückt sind, wird unzweifelhaft in nicht femer Zeit den
Schwerpunkt von ganz Tunesien an den Außenrand des Golfes
rücken, nach Biserta. Die Lage dieses in neuester Zeit viel ge-
nannten Ortes ist in der Tat eine ungewöhnlich günstige. Es
Liegt Biserta zur Medscherdamündung genau so wie Alexandria
und Marseille zu denen des Nil und des Rhone, es ist mit der
Mündung und dem Tale des Flusses auf ebenem Wege ver-
bunden, ohne von ihm gefährdet zu sein; es liegt so günstig zur
Meerenge wie Tunis oder Karthago und hat einen der herrlich-
sten Naturhäfen, der noch überdies sehr leicht zu verteidigen ist.
Biserta liegt nämlich an einer flachen gegen Westwinde durch
i) Daß Tunis jetzt durch einen Kanal wieder zum Seehafen gemacht
ist, möge hier nur erwähnt werden.
Fischer, Mittelmeerbilder. I9
— 290 —
das vorspringende Weiße Vorgebirge, das gewöhnlich, wenn auch
nicht ganz mit Recht als Nordspitze von Afrika bezeichnet wird,
geschützten Bucht am Eingange eines engen Kanals, welcher in
einen geräumigen und meist 10 — 12 Meter tiefen See führt,
der zu einem vorzüglichen Hafen geschaffen ist und auch im
Mittelalter und Altertum, wo Biserta (Arab. Bensart, durch Ver-
derbung aus dem alten Namen) als Hippo Zarytos eine be-
deutende Seestadt war, als solcher gedient hat. Allerdings hat
der Kanal, von dem Schutt der Jahrtausende gefüllt, jetzt nur
2 — 3 Meter Tiefe und vor seiner Mündung findet man teilweise
den Grund schon bei 2 Meter, aber er würde ohne große Mühe
und Kosten gereinigt und damit der See wieder zugänglich ge-
macht werden. Gewiß werden die Franzosen über kurz oder
lang diesen einzigen sichern, wie einst Tunis nicht unmittelbar
vom Meere aus angreifbaren Hafen an der ganzen Küste der
Atlasländer, das einzige den Verhältnissen der modernen Schiff-
fahrt genügende Tor von Tunesien, wieder reinigen und be-
festigen, sie werden dann von Biserta aus den Engländern in
Malta die Spitze zu bieten vermögen.^) Auch die nähere Um-
gebung der Stadt ist überaus fruchtbar, der schon genannte
salzige See, wie ein zweiter flacher, der mit ihm in Verbindung
steht, aber süß ist, sind wunderbar reich an Fischen, kurz es
vereinigt sich alles, um Biserta in europäischen Händen zum
festen Emporium der Meerenge zu machen. Biserta im Besitz
der Franzosen, bedeutet daher seiner außerordentlichen strate-
gischen und kommerziellen Wichtigkeit wegen eine beständige
Bedrohung Maltas, Siziliens und Sardiniens, es kann Toulon und
Marseille zu gleicher Zeit werden.
Was Tunesien für Italien ist, zeigt uns am besten ein histo-
rischer Rückblick auf die Beziehungen dieses Landes zu seinem
ihm hier so nahe gerückten afrikanischen Gegengestade. Vom
Ende des 2. Jahrtausend an sind die Phöniker in Sizilien wie in
Afrika Herren der wichtigsten Küstenplätze und der Meerenge;
später, als die Griechen nach Westen vordringen, wird der Besitz
von Westsizilien für die Karthager eine Lebensfrage, Jahrhunderte
hindurch wogt der Kampf über die Meerenge hinüber und her-
i) Bekanntlich haben die Franzosen jetzt Biserta tatsächlich zu einem
großen Kriegshafen ausgebaut.
— 291 —
über: es tritt damals zum ersten Male klar hervor, daß beide
Ufer durch so wichtige Interessen miteinander verknüpft sind,
daß eine starke Macht in Sizilien eine beständige Bedrohung
Tunesiens, und umgekehrt eine starke Macht in Tunesien eine
Bedrohung Siziliens ist. Friede herrscht nur, wenn auf der einen
Seite der Meerenge Verfall eingetreten und der Einfluß des
Gegengestades maßgebend ist oder beide, wie ein halbes Jahr-
tausend hindurch in römischer Zeit, politisch geeinigt sind. Wir
sehen, wie die sizilischen Griechen bald nach Afrika hinüber-
greifen, bald die Karthager Syrakus bedrohen, bis die Römer
nach langem, auch zum Teil auf afrikanischem Boden geführten
Kampfe Herren Siziliens werden. Von Sizilien aus führen dann
auch die Römer unter dem älteren Scipio den entscheidenden
Streich gegen Karthago, nachdem Hannibal vergebens in Italien
selbst dem furchtbaren Gegner den Untergang zu bereiten ge-
sucht hat. Tunesien wird der erste und dauerndste Besitz Roms
auf afrikanischem Boden. Kaum ist das Römische Reich in
Trümmer geschlagen, so beginnt auch sofort das alte Spiel. Zu-
nächst machen sich die Vandalen als Herren von Karthago auch
zu Herren Siziliens, bald aber vernichten die wieder erstarkten
Oströmer als Herren von Sizilien die indessen gesunkene vanda-
lische Macht in Tunesien. Sobald die Araber sich in Nord-
afrika befestigt haben, erobern sie auch Sizilien und bedrohen
Unteritalien, und umgekehrt als hier im jugendlichen normanni-
schen Staate alle Kraft in einer Hand vereinigt, drüben jedoch
Verfall und Zersplitterung eingetreten ist, sehen wir auch sofort
namentlich unter Roger II. in Tunesien wieder das Ziel Agatho-
kleischer Züge, an welchen sich auch schon die eben empor-
kommenden großen Handelsrepubliken Pisa und Genua beteiligen,
denen sehr bald der ganze Handel an der ganzen Küste der
Atlasländer anheimfällt. Schon im Jahre 1087 eroberte eine ita-
lienische Flotte von 400 Schiffen mit 30 000 Mann am Bord
Mehedia. Das Übergewicht der Italiener zur See und die Zer-
splitterung des Atlasgebiets in zahlreiche kleine Staaten, die
einander sogar mit Hilfe italienischer Condottieri bekämpften,
verschaffte denselben großen, ihrem Handel zugute kommenden
Einfluß. Schon 1 3 1 7 erhielten die Venetianer vom Herrscher
von Tunis vertragsmäßig die Erlaubnis, durch sein ganzes Gebiet
mit Karawanen Handel zu treiben und den Schutz der Behörden
19*
— 292 —
in Anspruch zu nehmen. Schon im 14. Jahrhundert müssen
Italiener bis Timbuktu vorgedrungen sein. Weiter westwärts be-
trieben Italiener mindestens seit dem 12. Jahrhundert die noch
heute blühenden Korallenfischereien bei Tabarka und La Calle
und war Bougie, das im 13. Jahrhundert an Tunis gefallen war,
eine der bedeutendsten Handelsstädte Nordafrikas; Geiserich hatte
es erst zu seiner Hauptstadt gewählt, im 10. Jahrhundert war es
als Hauptstadt eines selbständigen Reiches noch mehr empor-
geblüht und zugleich ein Hauptsitz arabischer Gelehrsamkeit, eine
Stadt, die in ihren Mauern nach Edrisi (im 12. Jahrh.) 20000 Häuser
umschloß. Hier hatten zuerst die Pisaner, dann Genueser und
Venetianer ihre Handelsfaktoreien, die bald auch ins Innere
nach Konstantine und Tlemsen vorrückten, bis wohin die Kara-
wanen der Wüstenstämme zu kommen pflegten. Auch Tenes
war viel von den Italienern besucht. Der wichtigste Punkt für
den Handel der Italiener scheint aber weiter im Westen Genta
gewesen zu sein, im ganzen Mittelalter nicht nur das Emporium
der Meerenge, sondern auch Haupthandelsstadt von ganz Marokko
und Endpunkt der Wüstenstraßen, ja wohl eine der bedeutend-
sten Welthandelsstädte des Mittelalters. Hier ist Handel der
Pisaner und Genueser schon im Jahre 11 6g urkundlich bezeugt
und für Ceuta wurde im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts die
sog. Maona, die älteste Handelsgesellschaft, gegründet. Die
Genueser bewohnten dort einen eigenen Stadtteil und fühlten sich
so stark, daß sie 1235 versuchten, sich der Stadt ganz zu be-
mächtigen. Als dies mißlang, belagerten sie dieselbe mit einer
Flotte von 100 Schiffen und erzwangen wenigstens Ersatz des
erlittenen Schadens. Schon im 12. Jahrhundert drangen von
Ceuta aus genuesische Kaufleute bis in die Handelsplätze der
nördlichen Sahara vor. Diese Bedeutung der Stadt ging aber
mit einem Schlage verloren, als sich die Portugiesen derselben
14 15 bemächtigten, der Handel verschwand und Ceuta ist bis
auf den heutigen Tag ganz wie Tanger, solange es in den Hän-
den der Engländer war, kaum mehr als eine Festung in perma-
nentem Belagerungszustand. Im übrigen Nordafrika trat ein Um-
schwung dieser nur vorübergehend durch Krieg gestörten Be-
ziehungen erst ein seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, als
gleichzeitig mit dem beginnenden Niedergang des italienischen
Seehandels und der Vereinigung eines großen Teils von Italien
— 293 —
mit Spanien zu einer Monarchie, der Vemichtungskampf gegen
die spanischen Mohammedaner zu einem großartigen Aufschwünge
des Seeräuberwesens an der ganzen Küste von Nordafrika, von
Tripolis bis Sla in Marokko führte. Von jener Zeit an hat fast
ununterbrochener Kriegszustand zwischen Südeuropa und seinen
nordafrikanischen Gegengestaden geherrscht, der friedliche Handel
an diesen Küsten erlosch fast völlig. Die Barbaresken waren
meist den Christen überlegen und unsagbar sind die Leiden,
welche fast drei Jahrhunderte hindurch ganz Unteritalien zu er-
tragen gehabt hat. Unter den beständigen Überfällen der See-
räuber verödeten die Küsten Siziliens, Calabriens und Sardiniens
völlig, nur die größeren Seestädte vermochten sich zu schützen,
die Bevölkerung wurde ins Innere auf die Bergspitzen zurück-
gedrängt, die Verbindung mit der übrigen Welt gestört und ein
furchtbarer, noch heute fühlbarer Rückgang der Kultur dadurch
wesentlich mit herbeigeführt. Wiederholt sind ganze Inseln, wie
die Liparischen, ausgeplündert und ihre sämtlichen Bewohner in
die Sklaverei geschleppt worden. Noch heute kann man in
Sizilien alte Leute treffen, welche in ihrer Jugend als Sklaven in
Tunis gelebt hatten, noch heute erinnern die malerischen alten
Warttürme auf allen Vorgebirgen Süditaliens und Spaniens an
jene furchtbare Zeit. Der Verfall der Barbareskenstaaten und
die Verjüngung Italiens in unserm Jahrhundert hat sofort auch
in Tunis den Einfluß Italiens ganz von selbst wieder zur Geltung
gebracht, trotzdem keine italienische Regierung, lange Zeit auch,
nicht die des geeinigten Königreichs etwas dafür, Frankreich aber
alles dagegen tat. Die Einwanderung von Italienern nach Tu-
nesien ist eine sehr bedeutende gewesen, mindestens gooo Köpfe
zählt die italienische Kolonie in Tunis selbst^), Handel und Ver-
kehr liegt zum großen Teil in den Händen der Italiener und
bedient sich ihrer Sprache; der natürliche, in den geographischen
Verhältnissen tief begründete Prozeß der Italianisierung wie einst
der Romanisierung des in jeder Hinsicht heruntergekommenen
Tunesien kann nur auf gewaltsamem Wege gestört werden. Italien
hatte daher das größte Interesse die Zustände in Tunesien fort-
dauern zu lassen wie sie waren und selbst von allgemein mensch-
lichem und Kulturstandpunkte aus war das zu wünschen, da die
l) 1904 schätzte man sie auf 130 ooo!
- 294 —
Franzosen in 50 Jahren den Beweis geliefert haben, daß sie
nicht zu kolonisieren verstehen. Wohl aber haben die Italiener,
die so viele arabisch-mohammedanische Elemente aufgesogen, die
durch ihren nach einem Jahrtausend zählenden Verkehr mit den
Völkern des Orients dem Wesen derselben weit weniger fern
stehen wie die Franzosen, gezeigt, daß sie Orientalen sich an-
zuähnlichen und damit auf eine höhere Kulturstufe zu heben ver-
stehen. Nur ein gewaltsamer Eingriff, wie er jetzt stattgefunden
hat, vermag den langsamen Italianisierungsprozeß Tunesiens auf-
zuhalten. Um so mehr aber muß dies zu Reibungen mit Frank-
reich führen. So viel geht jedenfalls aus diesen historisch-geo-
graphischen Betrachtungen hervor, daß Tunesien im Besitze
Frankreichs für dieses einen bedeutenden Schritt zur Beherrschung
des Mittelmeeres, andererseits aber einen Eingriff in den von der
Natur vorgezeichneten Wirtschafts- und Machtbereich, eine un-
erträgliche Bedrohung Italiens bedeutet. Diese Bedrohung wird
aber um so furchtbarer, wenn man die Gier der augenblicklichen
Machthaber in Frankreich sich, wo immer es sei, auszudehnen
und die gleichzeitige Bedrohung Italiens im Norden beachtet,
wo der Verlust des italienischen Nizza noch lange nicht ver-
schmerzt ist. Die Geschichte dreier Jahrtausende lehrt, daß zwei
starke, aufstrebende Mächte, die an der Straße von Pantelleria
aneinander stoßen, auf die Dauer unmöglich friedlich neben-
einander existieren können, die gesamte Politik des Schwächeren
von beiden muß sich, wenn er die Naturgesetze und die Lehren
der Geschichte nur ein wenig versteht, von da an um den einen
Punkt drehen, dem alle andern untergeordnet werden müssen:
wie schütze ich Sizilien und Sardinien?^)
Etwas anderer Art sind die Rolle und die Beziehungen
Algeriens und Marokkos ihren europäischen Gegengestaden gegen-
über. Die Küstenbeschaffenheit beider ist dafür in erster Linie
bestimmend. Sobald man, von Osten kommend, das Weiße
Vorgebirge umfahren hat, ändert sich der Charakter der Küste
völlig. Bis zur Meerenge von Gibraltar haben wir eine aus-
gezeichnete Steilküste vor uns, die auf der einen Seite zu großen
l) Bekanntlich vollzog sich bald nach Abfassung dieser Betrachtungen
der Anschluß Italiens an die mitteleuropäischen Mächte. Die Schaffung und
Dauer des Dreibunds hat ihre Wurzeln in Tunesien.
— 295 —
Meerestiefen hinabsinkt — 5 bis lo km vom Strande findet man
meist schon looo m Tiefe und mehr — auf der anderen zu den
bedeutenden Höhen des Küstengebirges emporsteigt. Auf weite
Strecken ist diese Küste geschlossen, wie z. B. zwischen Bougie
und Algier, und dunkle Felsenriffe, an denen sich die Wellen
schäumend brechen, machen sie fast unzugänglich, nur selten
sieht man hier und da im Vorüberfahren an einem der meist
kahlen Berghänge oder in einem der engen Täler Rauch auf-
steigen, der das Vorhandensein von Bewohnern verrät, noch
seltener erblickt man einen kleinen Ort am Strande. Um so
größere Bedeutung erlangen einige tiefer eindringende, durch
Durchbrechung der äußeren Küstenkette entstandene Buchten,
wie die von Bona, von Philippeville, von Bougie, Algier, Arzeu
und Oran, die alle genau dieselbe Form wiederholen und wohl
gleicher Entstehung sind. Alle sind nahezu halbkreisförmig, haben
flache von Dünen umsäumte Küsten, hinter welchen kleine, oft
sumpfige, zuweilen auch noch teilweise von Seen bedeckte frucht-
bare Ebenen liegen, durch welche ein zum Meer eilender Fluß
eine natürliche Straße ins Innere geschaffen hat, während ein am
westlichen Eingange der Bucht vorspringendes Kap eine geschützte
Stelle für eine Stadtanlage gewährt. Die Bedingungen für die
Entwicklung solch einer Seestadt sind somit überall die gleichen:
die fruchtbare Ebene, etwas Schutz gegen Winde, Verbindung
mit dem Innern; die Größe und Bedeutung der immer genau an
gleicher Stelle liegenden Stadt entspricht genau dem Maße der
von jenen drei Faktoren gewährten Begünstigung, politische Ver-
hältnisse vermögen nur vorübergehend dem einen oder dem
anderen (im Altertum Julia Cäsarea [Scherschel] und Hippo
Regius [Bone], im Mittelalter Bone und Bougie, in der Neuzeit
Algier), etwas größere Wichtigkeit zu verleihen; wie uns aber die
Gegenwart zeigt, ist selbst eine zentralisierende Verwaltung wie
die französische nicht imstande, Algier wesentlich vor Bone und
Oran zu erheben. Algier und Oran stehen der Bevölkerung nach
noch nahezu gleich, ja der Handel von Oran ist bedeutender
als der von Algier. Die Nähe des spanischen Gegengestades
und der gänzliche Mangel an Häfen weiter westwärts, zum Teil
auch die ausgedehntere und namentlich von zahlreichen spanischen
Kolonisten besetzte Ebene ermöglicht Oran diesen erfolgreichen
Wettbewerb. Lassen diese Buchten somit die Küste Afrikas hier
— 296 —
günstiger gestaltet erscheinen als irgendwo, so ist sie doch eben-
falls den hier das ganze Jahr wehenden Nord-, Nordost- und
Nordwestwinden ausgesetzt, sie bietet nirgends größern Schiffen
hinreichende Sicherheit. Wunderbar ist es daher, daß die Fran-
zosen die Herstellung künstlicher Häfen nicht sofort nach der
Besitzergreifung energisch in Angriff genommen haben. Tatsäch-
lich ist dies aber nicht geschehen. Erst 1843 wurden darauf
bezügliche Vorstudien gemacht und dann Hafenbauten, freilich
in ungenügender und oft verfehlter Weise, wie noch neuerdings
der beste Kenner der ganzen Küste, Admiral Mouchez, gezeigt
hat, vorgenommen. Der einzige freilich kleine Hafen von Algier,
der allein die Summe von 60 Mill. Fr. verschlungen hat, dürfte
allen Anforderungen genügen. Hier hat also die Natur ihre
Gunst mehreren Punkten fast gleichmäßig gewährt, kein Punkt
der Küste ist ähnlich wie in Tunesien, Tripolitanien und Barka
mit dem ganzen Lande gleichbedeutend, ja es haben sogar im
Innern Städte wie Constantine und Tlemsen stets eine gewisse
Bedeutung behauptet. Hier war es daher schwierig, das ganze
Land in einer Hand zusammenzufassen, wie es tatsächlich selten
und nie auf die Dauer in der Ausdehnung des heutigen Algerien
zusammengefaßt gewesen ist. Fast alle die genannten Städte
haben nacheinander die erste Rolle gespielt, Algier war bis in
neueste Zeit die unbedeutendste, erst unter türkischer Herrschaft
seit dem 16. Jahrhundert verdankt sie dem Umstand das Über-
gewicht, das sie seitdem behauptet hat, daß dort dicht vor dem
Strande vier kleine Felseninseln lagen, welche der berüchtigte
Seeräuber Cheir-ed-Din 1529 durch 20000 Christensklaven durch
einen Damm untereinander und mit dem Lande verbinden ließ.
Dadurch war ein freilich bei Nordstürmen noch zuweilen über-
fluteter Hafen geschaffen und die Stadt selbst hat ihren Namen
(El Dschezair, die Inseln) davon erhalten. Diese eigentümliche
Küstenbeschaffenheit, der Mangel an Häfen neben zahlreichen,
leidlich sicheren Schlupfwinkeln für kleinere Schiffe, die Gefahren,
welche in jedem Augenblicke dem mit dieser Küste, ihrem Wind
und Wetter nicht völlig vertrauten Schiffer drohten, sind es nun
vorzugsweise gewesen, welche das Aufkommen und die lange
Dauer des Seeräuberwesens ermöglicht haben. Den ersten An-
stoß dazu gab der alte Haß zwischen Christen und Mohammeda-
nern, der durch die Verjagung der spanischen Mauren neue
— 297 —
Nahrung erhielt. Wir wissen, daß diese verzweifelten Flüchtlinge
sich vorzugsweise in den Seestädten niederließen und von dort
aus den unversöhnlichen Kampf gegen ihre Feinde fortsetzten.
Dazu kam aber gleichzeitig die Ausbreitung der türkischen Herr-
schaft, welche dem legitimen Handel ein Ende machte. So wur-
den Tripohs, Tunis und all die Städte der algerischen Küste
bis Sla und Rabat in Marokko gefürchtete Seeräubernester, um
deren Bekämpfung sich namentlich im i6. Jahrhundert die medi-
terrane PoUtik der westlichen Mittelmeerstaaten Europas fast allein
drehte. Namentlich die spanische Monarchie nahm diesen Kampf
unter Kardinal Ximenes und Karl V. mit Eifer auf, führte ihn
aber unglücklich. Wohl wurde Tripolis 1510 von den Spaniern
erobert und bis 1551 von den Maltesern behauptet, wohl gelang
auch der Angriff Karls V. auf Tunis 1535, aber der auf Algier
scheiterte 1541, auch Bougie, das von 15 10 — 1555 in den Hän-
den der Spanier war, ging wieder verloren, ebenso Bone, und
nur Oran mit Mers-el-kebir blieb von 1509 — 1790 mit kurzer
Unterbrechung spanisch uud trägt noch heute, da ^3 der dor-
tigen Europäer Spanier sind, wesentlich spanischen Charakter.
Alle späteren Versuche von Spaniern, Franzosen und Engländern,
die Seeräuberei hier auszurotten, waren erfolglos, meist weil, wie
1547, 161 7 und 1682 und bei andern Gelegenheiten und schon
151 5 und 1531 vor Algier, Stürme die Flotte an den schutz-
losen Strand warfen oder das hohe Meer zu gewinnen und eine
Belagerung aufzuheben zwangen. Jeder neue Mißerfolg der
Christen gab dem Seeräuberwesen einen neuen Aufschwung, das
zur wohlgeordneten Staatseinrichtung wurde. Noch in den letzten
Jahrzehnten haben die Franzosen die Gefahren dieser Küste er-
proben können, indem wiederholt Nordoststürme in den von ihnen
für völlig sicher gehaltenen Buchten, der von Stora z. B., ganze
Flotten von Handelsschiffen und selbst Kriegsschiffe zerstört haben.
Auch wäre die Besetzung oder Zerstörung sämtlicher Küstenplätze
nötig gewesen, welche die Natur so für das Piratenhandwerk aus-
gestattet zu haben scheint. Erst durch die Eroberung von Algier
ist demselben ein Ende gemacht worden, da fast gleichzeitig
1829 eine österreichische Flotte unter Bandiera die marokka-
nische Seeräuberflotte in der Mündung des Whed el Khos bei
El Araisch vernichtete. Nur an der marokkanischen Mittelmeer-
küste, dem Rif, einer außerordentlich steilen, an kleinen Schlupf-
— 298 —
winkeln überreichen, zu Lande wie zur See schwer zugänglichen
Landschaft, welche die Spanier auch durch die zahlreichen Posten,
welche sie längs derselben seit vier Jahrhunderten besetzt halten,
nicht im Zaume zu halten vermocht haben, hat sich das an der
großen Straße von Gibraltar so lohnende Handwerk bis in die
neueste Zeit erhalten, noch 1856 wurde dort die preußische Kor-
vette Danzig von Seeräubern überfallen. Von einem innerafrika-
nischen Handel der Seestädte der Atlasländer zwischen TripoHs
im Osten und Mogador im Westen ist jetzt längst keine Rede
mehr, die französische Besitzergreifung von Algerien hat die
letzten Reste, welche die Türken noch gelassen hatten, ausgetilgt.
Auf dem Geographenkongresse zu Paris 1875 konnte die Tat-
sache konstatiert werden, daß es jetzt in Algier kein einziges
Handelshaus gebe, auch kein mohammedanisches, ja daß es nicht
einmal einen Mohammedaner in der algerischen Sahara gebe,
welcher in direkten Handelsbeziehungen zu den Negerländern
stehe. Die Wiederanknüpfung direkter Beziehungen dürfte jetzt
schwieriger sein als je. Die Bedeutung der Atlasländer, von
Marokko abgesehen, beruht daher jetzt nur auf den eigenen
Hilfsquellen.
Fassen wir diese Betrachtungen zusammen, so sehen wir,
daß Algerien vermöge seiner Küstenbeschaffenheit, der aber auch
das Innere entspricht, in sehr geringem Maße eine geographische
Einheit bildet, viel schwieriger zu erobern und einheitlich zu be-
herrschen ist, als alle andern Gestadeländer Nordafrikas. Vor
allen Dingen ist es auch nur teilweise das natürliche Gegen-
gestade Südfrankreichs, wie^ sich dies auch darin deutlich aus-
prägt, daß in der Provinz Constantine die italienische, in Oran
die spanische Bevölkerung vor der französischen überwiegt.
Durch die auch aus dem Innern schwer zugängliche Rifif-
küste, an welcher sich daher bis auf den heutigen Tag die
Berber am reinsten gehalten haben, ist Marokko vom Mittelmeer
abgesperrt, es wendet dem Ozean seine Stirnseite zu und reicht
nur mit der einen Flanke an die Straße von Gibraltar. Die
Ozeanküste ist so gut wie hafenlos, selbst das wichtige Mogador,
wo durch eine Küsteninsel ein Hafen gebildet wird, kann im
Winter oft längere Zeit von keinem Schiffe augelaufen werden
und die sämtlichen europäischen Handelshäuser, welche in all
den Küstenplätzen bestehen, sind dann auf den Postboten an-
— 299 —
gewiesen, der von Mogador ausgehend, alle Plätze berührt und
in Tanger endUch regelmäßige Post- und Telegraphenverbindung
erreicht. Um so wichtiger wird dieser Punkt, um so mehr tritt
seine Eigenschaft als Haupteingangstor von Marokko herv^or. Hier
an der Meerenge wiederholen sich die Verhältnisse der Straße
von Pantelleria, auch hier beeinflussen sich die beiden Gestade
aufs lebhafteste, auch hier hat bald westgotische, portugisische,
spanische Macht nach Marokko hinübergereicht, bald auch, wenn
auch seltener, marokkanische nach Spanien. Die günstigere
Küstenbeschaftenheit, welcher an der Küste von Südspanien zahl-
reiche leicht mit dem Hinterlande verkehrende Häfen ihr Dasein
verdanken, das nahe der Meerenge sich öffnende weite Becken
des Guadalquivir verleiht hier Spanien das Übergewicht, Marokko
reicht nur bei Tanger an die Meerenge, die Küste östlich davon
ist vom Innern abgeschlossen. Marokko wird daher immer leichter
dem Einflüsse einer starken Macht in Spanien unterliegen, als
umgekehrt. Tatsächlich zogen auch die Römer Mauritania Tin-
gitana fast immer zum Verwaltungsgebiet des südwestlichen Spa-
nien und die Portugiesen nannten dasselbe Gebiet, dessen sie
sich seit der Eroberung von Ceuta im Jahre 141 5 teilweise und
zeitweise bemächtigten — Mazagan verloren sie erst 1769 —
Algarve jenseit des Meeres. Marokko steht zu Lande mit den
übrigen Atlasländem jetzt nur in sehr loser Verbindung, hohe,
von niemals unterworfen gewesenen freiheitsliebenden und kriege-
rischen Berberstämmen bewohnte, schwer zugängliche Gebirge,
dahinter die Steppen des Mulujagebiets trennen es völlig von
Algerien, die Gefahr, daß auch dieses Land Frankreich anheim-
fallen und von dort aus Spanien bedroht werden könne, ist vor-
läufig eine sehr entfernte, so sehr wir ja den Franzosen, die in
einem halben Jahrhundert weder die Eingeborenen Algeriens
definitiv zu unterwerfen, noch sich irgend einen Kraftzuwachs in
Algerien zu erwerben verstanden haben, die Berberstämme des
Hohen Atlas gönnen würden. Eine gewaltsame Eroberung Ma-
rokkos von Osten her zu Lande hat wohl nur einmal in der
Geschichte, durch die Araber, stattgefunden, und auch da tritt
sehr früh wieder politische Absonderung ein. Weit eher aber
haben sich wiederholt mohammedanisch-marokkanische Herrscher
eines Teiles von Algerien bis Bougie im Osten bemächtigt. Die
noch heute bestehende merkwürdige Abschließung des Landes.
— 300 —
dicht an den Toren von Europa, ist somit in seinen geographi-
schen Verhältnissen, namentlich in der schwierigen Zugänglichkeit
sowohl seiner Küsten wie seiner Landgrenzen wohl begründet.
Marokko könnte daher weit leichter Spanien — wenn das eben
nicht Spanien wäre! — zufallen als Frankreich, auch hat sich
Spanien seit der portugiesischen Eroberung in Ceuta zu behaupten
vermocht, das freilich an Wichtigkeit dem Spanien viel mehr be-
drohenden und schädigenden Gibraltar weit nachsteht. Von
welcher weit größern Bedeutung Gibraltar als Tanger ist, das
prägt sich am besten in der Tatsache aus, daß die Engländer
diesen Punkt, der ihnen als Mitgift einer portugiesischen Prinzessin
zugefallen war, den sie stark befestigt und durch einen Molo mit
einer Art Hafen, den Tanger jetzt schmerzlich entbehrt — die
Landung von Reisenden geht dort auf den Schultern von Trägern
vor sich, die der Waren dementsprechend — versehen hatten,
1684 freiwillig aufgaben, um sich zwei Jahrzehnte später Gibral-
tars zu bemächtigen.
So viel dürfte aus diesen Betrachtungen erhellen, daß von
der zentralen Stellung der Franzosen in Algerien, die dem Mutter-
lande sehr bedeutende Opfer gekostet hat und noch lange keinen
Gewinn verheißt, ein Vordringen nach Marokko sehr schwierig
und wenig erfolgverheißend und selbst im Falle des Gelingens,
die Bedrohung Spaniens und Gibraltars wie des gesamten Mittel-
meerhandels durch eine Festsetzung der Franzosen an der Meer-
enge von Gibraltar eine verhältnismäßig geringe sein würde, wäh-
rend nach Osten der Anschluß von Tunesien weit leichter ist,
der Besitz des Landes durch Festsetzung in der Nähe der Med-
scherdamündung leicht behauptet und von dort aus nicht nur
Italien wirksam im Schach gehalten werden kann, sondern die
Beherrschung des Eingangs ins östliche Mittelmeerbecken der
französischen Flotte ebenso leicht ist, wie der englischen von
Malta aus. Die Aussichten, welche sich den französischen Macht-
habern von der neu errungenen Stellung aus eröffnen, sind nach
erdkundlichen und historischen Gesetzen weite, glänzende und
wohlbegründete, sie bezeichnen auch nur eine Etappe auf dem
Wege nach noch größeren Zielen. Es fragt sich nur, wenn wir
von England absehen, ob die geringe Meinung, welche die Herren
in Paris nach den Zumutungen, die sie an sie stellen, von der
italienischen Nation haben müssen, wirklich die richtige ist. Da-
— 30I —
von wird es abhängen, ob die Meerenge von Pantelleria zu einem
zweiten Bosporus, zu einem zweiten Angelpunkte der europäischen
Politik wird.
2. Zwischen Tebessa und Gabes. Reiseskizzen aus
Südtunesien. 0
Nordafrika spielt in der Weltpolitik seit einer Reihe von
Jahren eine hervorragende Rolle, mehr als je tritt die Wichtigkeit
dieser Länder sowohl an und für sich wie wegen ihrer Lage zu
den europäischen Staaten und zu den großen Straßen des Welt-
verkehrs in den Vordergrund. Die inneren Zustände derselben,
ihr tiefer wirtschaftUcher Niedergang trotz reicher natürlicher
Ausstattung, die fortwährenden Unruhen, die sie noch mehr ver-
öden, alles Folgen der überall hervortretenden, aufs engste mit
der herrschenden Religionsform verbundenen Mißregierung, for-
derten und fordern das Eingreifen der zunächst beteiligten euro-
päischen Mächte, Englands, Frankreichs, Italiens und Spaniens,
förmlich heraus, und so werden diese Länder für lange Zeit
dunkle Wolken am politischen Horizont Europas bilden. Wie die
Würfel zuerst, bezeichnenderweise, um das in dieser Hinsicht
weniger wichtige Algerien vor mehr als einem halben Jahrhun-
dert gefallen sind, so sind sie vor fünf Jahren um das wichtigere
Tunesien gefallen, so rollen sie heute um Ägypten, das wich-
tigste von allen, morgen vielleicht, um Tripolitanien, übermorgen
um Marokko, das nur der Eifersucht Spaniens, Frankreichs und
Englands die ungestörte Fortdauer unhaltbarer^ Europa zur
Schande gereichender Zustände verdankt. Daß über die Geschicke
Tunesiens endgültig entschieden ist und bei nächster Gelegen-
heit die Schutzherrschaft in völlige Einverleibung in Frankreich
verwandelt werden wird, kann für niemand zweifelhaft sein, am
wenigsten, wenn man die Franzosen im Lande selbst gesehen
hat. Wir werden später ausführen, daß dies dem Lande selbst
und seinen Bewohnern, was immer die Entwickelung Algeriens
auch lehren mag, nur zum Segen gereichen wird. Freilich be-
zeichnet Tunesien im Besitz einer starken Macht und vollends
Frankreichs furchtbare Bedrohung Italiens, wie die Geschichte
i) Erschienen in der Köln. Zeitung 1886.
— 302 —
von mehr als zwei Jahrtausenden, von unwandelbaren geogra-
phischen Gesetzen beeinflußt, lehrt: diese Bedrohung wird eine
dauernde werden. Aber Frankreichs Pläne — auch darüber ge-
winnt man an Ort vind Stelle überraschende Einblicke — gehen
bekanntlich weiter, es strebt auch nach dem Besitz von Tripoli-
tanien und Barka, um zu Lande um das so heiß umstrittene
Ägypten heranzukommen, von den inner- und westafrikanischen
Phantasien zu schweigen.^) Demgegenüber scheint aber auch
ItaUen entschlossen zu sein, um keinen Preis sich, nachdem
einmal Tunesien verloren ist, auch noch Tripolitanien entgehen
zu lassen, um wenigstens hier in den Besitz eines Gegengestades,
eines Zieles für seine Auswanderer und des Schlüssels zur
Handelsstraße nach Innerafrika zu gelangen. So stehen sich
beide Mächte lauernd gegenüber, und die Türkei beachtet jede
Bewegung derselben mit äußerstem, nur zu wohl begründetem
Mißtrauen. Wie weit dasselbe geht, ließ ein an sich höchst
harmloser Zwischenfall vom 29. März 1886 recht deulich erkennen.
An diesem Tage lief nämhch ein sonst zum transatlantischen
Dienste verwandter und darum weit größerer Dampfer der fran-
zösischen, den Verkehr an der ganzen Küste von Algerien bis
Tripolis vermittelnden Compagnie Transatiantique Tripolis an
und bedurfte, eben seines größeren Tiefganges wegen, besonderer
Bewegungen, um auf der wenig sicheren, seichten Reede vor
Anker zu gehen. Dies und das ungewöhnlich große Schiff rief
sofort bei dem türkischen Befehlshaber den Verdacht hervor, es
handle sich um den Versuch, französische Truppen zu landen.
Die Besatzung wurde unter Waffen gerufen, und nur mit Mühe
gelang es, die wahre Sachlage aufzuklären. An Zündstoff fehlt
es auch sonst nicht, zahlreiche tunesische Heerespflichtige haben
sich, um der Einreihung in das ganz in Neubildung begriffene,
eigentlich französische Heer zu entgehen, nach Tripolitanien ge-
flüchtet — ich selbst habe Leute kennen gelernt, deren nächste
Angehörige in dieser Lage sind — , und ganze Stämme sind aus
Südtunesien auf tripolitanisches Gebiet übergetreten. Dieselben
l) Es scheint, daß diese Pläne Frankreichs mit dem englisch-fran-
zösischen Vertrage vom 8. April 1904 endgültig aufgegeben sind. Die irmer-
und westafrikanischen Phantasien sind dafür inzwischen zum großen Teile
"Wirklichkeit geworden.
— 303 —
werden über kurz oder lang durch die Not, den Mangel an
Weideplätzen gedrängt, trotzdem die Türken die ganze Grenze
sorgsam bewachen und jeden Zwischenfall hintanzuhalten suchen,
zur Rückkehr gezwungen sein, kurz, Frankreich hat dort jeden
Augenblick seine Krumirs zur Verfügung. ^) Doch scheint es nach
der tatsächlichen Venninderung seiner Truppen in Tunesien
auch im Süden zunächst noch keine Verwendung für dieselben
zu haben. Wenn daher französische Zeitungen in Tunis vor
nicht langer Zeit von förmlichen Kämpfen zwischen den tune-
sischen Truppen und diesen Stämmen meldeten und sogar von
vierzig in denselben Gefallenen sprachen, so war das offenbar
aus Parteileidenschaft einfach erlogen, denn ich durchreiste ge-
rade jene Gegenden in der Zeit, wo dort diese Kämpfe statt-
gefunden haben sollten. Auch von einer steigenden Erbitterung
gegen die Franzosen habe ich nichts bemerkt, trotzdem ich
wiederholt Gelegenheit hatte, meine deutsche Nationalität zu be-
kennen. Ich bin im Grunde nur zweimal Leuten begegnet,
welche von wirklichem Haß gegen die neuen Herren erfüllt waren,
in Algerien begegnet man solchen viel öfter. ^) Überhaupt ist
jetzt von Fremden- und Christenhaß sehr wenig zu bemerken,
selbst die Bezeichnung Giaur, die ich im Orient nicht gar selten
zu hören bekam, statt der gewöhnlichen Er-Rumi, klang in Tu-
nesien nur einmal an mein Ohr und konnte da wohl kaum bös
gemeint sein, da ich von einer Frau an einem Brunnen der Oase
El Gettar so genannt wurde, deren Töchterchen ich mit süßem
Zwieback beschenkt hatte. Doch ist noch heute in ganz Tune-
sien und in Tunis selbst das Betreten einer Moschee für den
Fremden unmöglich, während ich in dem doch so selten von
Fremden besuchten algerischen Tebessa von den Arabern selbst
eingeladen wurde, die Moschee und das Grab eines großen Hei-
ligen in derselben in Augenschein zu nehmen.
Aus diesen Gesichtspunkten dürften vielleicht die nach-
folgenden Skizzen, die sich vorzugsweise auf die auch von For-
schungsreisenden sehr selten besuchten südlicheren Gegenden
1) Diese Übergangserscheinungen sind heute zum großen Teil ver-
schwunden.
2) Das hat sich seitdem völlig geändert. Der Franzosenhaß der Tu-
nesen steht dem der algerischen Mohammedaner kaum nach.
— 304 —
beziehen, nicht ganz unzeitgemäß sein.^) Es sind dies die Grenz-
gebiete zwischen den südtunesischen Hochsteppen und der tune-
sischen Sahara, die heute, von wenigen Oasen abgesehen, nur
von den nomadischen Stämmen der Freschisch, der Madjer und
Hammema bewohnt werden, von denen nur die ersteren auf
den Hochebenen noch etwas Ackerbau betreiben. Ohne eigenes
Zelt und Vorräte, überhaupt ohne vollständige Ausrüstung in
diesen Gegenden zu reisen, wie ich leider, ist sehr anstrengend
und entbehrungsreich, denn man ist dann darauf angewiesen,
gelegentlich große Tagereisen auf schlechten Pferden und noch
schlechteren Sätteln zu machen, nur um einen bewohnten Ort,
ein Zeltlager oder wenigstens einen Brunnen zu erreichen. Auf
der 68 km langen Strecke von Feriana nach Gafsa, die zum
Teil durch höchst ermüdende Sandwüste führt, findet man z. B.
nur die beiden Brunnen von Henchir Sidi Aisch, die aber brak-
kiges, kaum trinkbares Wasser haben. Dort haben die Franzosen
in kluger Berechnung nahe den Ruinen einer römischen Station,
wohl Gemellae, einen Bordsch, einen befestigten Posten, errichtet,
der bisher aber noch ohne Besatzung und überhaupt unbewohnt
ist, aber in unruhigen Zeiten von größter Bedeutung werden
muß, da dies in weitem Umkreise der einzige Brunnen ist, auf
welchen die Nomaden zum Tränken ihrer Herden von Ziegen
und Schafen angewiesen sind, so daß dieser Bordsch alle Stämme
jener Gegend im Zaume zu halten vermag. Ähnlich findet man
auf der 140 km langen Strecke von Gafsa bis Gabes, von der
nur 20 km von Gafsa gelegenen Oase El Gettar abgesehen, nur
drei Brunnen, von denen aber zwei, die von Zelludscha und
Mehamla, nur 10 km voneinander in der Mitte zwischen Gafsa
und Gabes liegen, der dritte, die Brunnengruppe von Fedschedsch,
liegt nur 2^ km von der Oasengruppe von Gabes, nahe am
Nordrande des östlichsten, gleichen Namen mit dem Brunnen
tragenden Schott. Diese Brunnen, häufig noch Werke der Rö-
mer, liegen ausnahmslos in völliger Wüste, kein Baum, kein
Strauch, noch viel weniger ein Haus belebt dieselben und läßt
sie von weitem erkennen, im Gegenteil, da hier jahraus jahrein
aus weitem Umkreise die Herden zur Tränke zusammenströmen.
i) Seitdem ist das Land durch die Phosphateisenbahn von Sfaks nach
Gafsa aufgeschlossen worden.
— 305 —
ist gerade ihre Umgebung am allerwüstesten, oft, wie um den so
überaus wichtigen Brunnen von Mehamla, völHge Sandwüste,
denn die Herden fressen dort die etwa aufsprießenden Pflanzen
bis zur Wurzel ab und zerstören selbst diese mit den Hufen, so
daß der Boden beweglich wird. Meist bestehen diese Brunnen
lediglich aus dem ausgemauerten kreisförmigen Brunnenschacht,
dessen Rand nur wenig über den Boden erhöht ist, so daß man
dieselben erst in geringer Entfernung erblickt, nicht selten steht
im Winter, da sie häufig an der tiefsten Stelle eines Beckens
liegen, die ganze Umgebung unter Wasser. Das lebhafteste
Treiben entwickelt sich um diese Brunnen am Tage, namentlich
mittags. Rastlos sind da Männer und Jünglinge beschäftigt, in
Ziegenschläuchen an Seilen Wasser emporzuziehen und damit die
neben den Brunnen häufig nur roh aus Feldsteinen gemauerten
Tröge zu füllen; ohne Unterbrechung strömen die Herden von
Durst gequälter, kläglich meckernder Ziegen und Schafe herbei,
die Hirten, selbst durstig, haben Mühe, die Herden auseinander
zu halten; Züge von Eseln mit leeren Schläuchen werden meist
von lo- bis I2jährigen Knaben oder Mädchen, die nur mit
einem leichten, vielfach zerfetzten blauen Kattunkleid, aber mit
reichem Silberschmuck an den Armen und Füßen wie an den
Ohren angetan sind, herbeigeführt, um die entfernten Zeltlager
mit dem kostbaren Naß zu versehen; Karawanen mit schwer be-
lasteten, bedächtig einherschreitenden Kamelen, denen hier, wie
ähnlich in Kleinasien, stets als bequemere Reittiere und Führer
einige der kleinen, aber klugen und erstaunlich leistungsfähigen
Esel beigegeben sind, kommen an. Bald lodert zwischen roh
zusammengetragenen Steinen abseits von den Brunnen ein von
mitgeführtem oder in der Umgebung gesammeltem Gestrüpp unter-
haltenes Feuer empor zur Bereitung der kärglichen Mahlzeit, im
günstigsten Falle die beliebte aus Weizen- oder Gerstenmehl be-
reitete Nationalspeise Kuskussu. Ringsum auf dem nackten Bo-
den, auf den allenfalls auch ein Teppich gebreitet wird, hocken
die Reisenden mit ihren Frauen und Kindern nieder zu dem
vom Hunger gewürzten Mahle oder strecken sich wohl auch im
Sande zu kurzer Rast hin, den Kopf vor den glühenden Strahlen
der Sonne durch die Sommer und Winter getragenen, dem Klima
und der Lebensweise trefflich angepaßten Wollengewänder ge-
schützt : kurz ein bewegtes, überlautes — denn ohne möglichstes
Fischer, Mittelmeerbilder. ~0
— 3o6 —
Untereinanderschreien, so daß man meinen möchte, es würde
jeden Augenblick zu Schlägereien kommen, geht es einmal nicht
ab — Treiben entwickelt sich, wahrhaft biblische Szenen rollen
sich vor dem europäischen Reisenden ab, der seinerseits mit allem,
was er um und an sich hat, der Gegenstand der Bewunderung
dieser armen Wüstenkinder ist. Noch vor Sonnenuntergang und
dem Beginn der rasch hereinbrechenden Nacht verschwindet
auch die letzte Herde vom Brunnen, das Schweigen der Wüste
lagert sich über der soeben noch so belebten Stätte. Denn nur
ausnahmsweise und nur größere Karawanen lagern in diesen
Gegenden an den Brunnen, alle, aber namentlich kleinere, suchen
stets der größeren Sicherheit wegen eine Oase zu erreichen.
Aus demselben Grunde schlagen auch die Nomaden ihre Zelt-
lager weiter ab von den Brunnen auf, womöglich in Vertiefungen
versteckt. Denn die Sicherheit, die jetzt so ziemlich hier herrscht,
ist wesentlich erst das Werk der Franzosen. Gasthäuser sind
selbstverständlich auch in den Oasen nicht vorhanden, man ist
auf die Gastfreundschaft der Landesbewohner angewiesen. Um
ganz sicher zu sein, daß solche gewährt wird, ist es gut, sich
Empfehlungsschreiben von der tunesischen Regierung an alle
Ka'ids, Khalifas, Scheichs usw. zu verschaffen. Die frühere Ein-
richtung, daß man einen Hamba (berittenen tunesischen Soldaten)
beigegeben erhielt, der von den Einwohnern alles, was der Rei-
sende bedurfte, und selbstverständlich recht viel daneben für sich
selbst, zwangsweise und unentgeltlich (angeblich wurde das später
von den Steuern abgelassen) aufnahm, ist glücklicherweise jetzt
abgeschafft. Doch habe ich die Beobachtung gemacht, daß die
Zeltaraber zuweilen dieses Empfehlungsschreiben gar nicht sehen
wollten und aus eigenem Triebe nach besten Kräften Gastfreund-
schaft, ein Abendessen und einen Platz in der Männerabteilung
des Zeltes gewährten. Von Bezahlung konnte natürlich keine
Rede sein, doch war es meist möglich, einem Knechte, der
irgendwie sich nützlich gemacht hatte, ein Trinkgeld zu verab-
reichen. Nachtruhe wird man freilich in einem solchen Zeltlager
erst bei einiger Gewöhnung finden. Mir wenigstens verlief die
erste Nacht, die ich so zubrachte, keineswegs in behaglicher
Ruhe. Es war das im Gebiet des jetzt arabisierten Berbern-
stammes der Freschisch, der nachweisbar seit 2000 Jahren dies
Gebiet bewohnt, im Zelt des reichen Scheich Abbas, der mit
— 307 —
seinem Stamm damals im Hochbecken von Fussana, 800 m hoch,
und an dem dort in seinem Quellgebiet dauernd Wasser führen-
den Wed Hathob lagerte.
Ich war am Morgen von Tebessa, der südöstlichsten Stadt
Algeriens/) abgeritten, hatte im einem waldigen Engpasse von
nahezu 1 000 m Höhe, dem Kränget INIuahad, die tunesische Grenze
überschritten und langte nach zehnstündigem Ritt abends, nach-
dem ich den Duar des Scheich Abbas suchend, lange in der
Ebene des Fussanabeckens kreuz und quer geritten war und
wiederholt den Fluß in seinem tief eingeschnittenen Bette auf
halsbrechendem Pfade hatte überschreiten müssen, gegen 5 Uhr,
eine Stunde vor Sonnenuntergang, dort an. Die Annäherung an
ein solches Zeltlager ist immer mit Gefahren verbunden und mein
Führer wich denselben daher stets, wenn eines am Wege lag,
möglichst weit aus. Diese Duars sind nämlich stets von einer
Schar höchst bissiger Hunde bewacht, bald schakalähnlicher Rasse,
grau oder gelblich, bald Bestien von stattHchem Wuchs mit
langem weißen Haar und namentlich prächtiger Löwenmähne.
Unter wütendem Gebell stürzen dieselben dem Fremden entgegen
und fallen die Pferde an, so daß diese scheu werden. Ich war
wiederholt nahe daran, aus Notwehr auf die Bestien zu schießen,
so wenig klug das gewesen wäre, und verabreichte ihnen bei
sich bietender Gelegenheit mit besonderem Vergnügen, sehr wider
meine sonstige Natur, kräftige Stockschläge, Meist stürzen frei-
lich hinter den Hunden drein einige Araber hervor und treiben
dieselben durch Steinwürfe zurück. Sich aber allein vor das
Zeltlager zu begeben und in dasselbe zurückzukehren, ist immer
eine unbehagliche Sache.
Scheich Abbas, ein hoher, stattlicher Mann in mittleren Jah-
ren, empfing mich freundhch und geleitete mich in die Männer-
abteilung des großen, aber niedrigen Zeltes, wo mir ein Platz
auf einem Teppich und zunächst zur Stillung des Durstes nach
dem langen Ritt an heißem Tage — es war der 30. März und
das beschattete Thermometer war mittags auf 25" C gestiegen
— Ziegenmilch, bald nachher eine Tasse trefflichen arabischen
Kaffees geboten wurde. Die verhältnismäßige Ruhe, die am Tage
I) Heute ebenfalls wegen der reichen Phosphatlager in der Umgebung
durch eine Eisenbahn leicht zugänglich.
20*
— 30« —
im Lager geherrscht hatte, war zu Ende mit der Heimkehr der
Herden. Erst kamen die Rinder, deren Zahl gering war, denn
schon hier sind dieselben entsprechend der dürftigen trockenen
Pflanzennahrung ziemlich klein, in Oasen am Nordrande der
Sahara wie in Gafsa werden nur wenige Rinder gehalten und
diese werden kaum einen Meter hoch, im Innern der Wüste ist
es kaum mehr möglich, Rinder zu halten. Blökend und meckernd
zogen die Schafe und Ziegen, die nun gemolken wurden, in den
schützenden Umkreis der Zelte, ihnen folgten die Esel und Pferde,
zuletzt kamen die Kamele, langsamen Schrittes, weit ausgreifend ;
das Anpflöcken ging nicht vor sich, ohne daß sie ihre scheuß-
lichen Stimmen hören ließen, bald blökend, bald grunzend, bald
heulend. Noch heute weicht, wie ich hier beobachten konnte,
die Lebens- und Ernährungsweise dieser Nomaden, die zum
großen Teil nicht wirkliche Araber, sondern nur arabisierte Nach-
kommen der berberischen Numidier sind, nur wenig von der der
alten Numidier ab, wie sie uns Sallust aus seiner eigenen, wäh-
rend seiner Tätigkeit als Prätor in Cirta gesammelten Erfahrung
schildert. Sie leben vorzugsweise von Milch und dem Fleisch
ihrer Herden, besonders der Schafe, Getreide bauen sie nur
ausnahmsweise, in besonders regenreichen Wintern, was sie an
Brotstoff", den sie jedoch meist in der Form von Kuskussu oder
höchstens dünner arabischer Fladen zu sich nehmen, brauchen,
tauschen sie meist von den Bewohnern des Teil ein. Gemüse,
Salat, Früchte u. dgl, die zur Ernährung der Städtebewohner in
einer Weise beitragen, daß wir uns kaum eine Vorstellung da-
von machen können, kennen sie selbstverständlich nicht. So-
bald sich die Kunde von meiner Ankunft verbreitet hatte, kamen
Besucher von den Nachbarduars in großer Zahl herbei, um den
Rumi zu sehen, des Fragens war kein Ende, jeder Gegenstand
meiner Ausrüstung wurde bewundert. Endlich erschien auch das
Abendessen, eine gewaltige Blechschüssel mit scharfgepfeff"ertem
Kuskussu und Hammelfleisch wurde auf eine Matte gesetzt, ein
anderes Gefäß mit Wasser zum Waschen der Hände herum-
gereicht und dann lud der Scheich mich und ein paar ange-
sehenere Araber ein, ringsum niederzuhocken, indem er mir mit
eigener Hand einige der besten Fleischstücke vorlegte. Messer,
Gabel, Teller waren natürlich nicht vorhanden und das Zu-
sammenballen des reichlich mit Milch übergossenen Kuskussu zu
— 3^9 —
kleinen Kugeln nicht ganz von der Größe eines Eies wollte mir
nicht recht gelingen. Doch versagte mir mein Gastfreund die
Ehre, mit eigener Hand den Kuskussu zusammenzuballen und
mir in den Mund zu schieben. Nachdem wir gesättigt, wurde
die noch reichlich gefüllte Schüssel den jüngeren Mitgliedern der
Familie und den Knechten zugereicht. Das unerläßUche Rülpsen
wurde von meinen Mitgästen mit großer Fertigkeit vollführt,
wollte mir aber gar nicht gelingen, so daß ich nicht imstande
war, dem Gastgeber, den Forderungen arabischer Wohlerzogen-
heit entsprechend, auszudrücken, daß ich reichlich und gut ge-
gessen habe. Dann erschien Kaffee. Bald darauf verabschie-
deten sich die Gäste, der Hausherr zog sich in die Frauenabteilung
des Zeltes zurück, in welcher nun auch der Webstuhl verstummte.
Denn auch die Frauen der Zeltaraber weben Teppiche und an-
dere Wollenstoffe. Es stand mir jetzt frei, mich zur Ruhe aus-
zustrecken. Mein Kautschukmantel diente zur IsoHerung vom
Boden, in meine große Wollendecke hüllte ich mich, mit dem
großen Reisemantel deckte ich mich zu. Neben mir lag mein
Führer und die übrigen männlichen Mitglieder des Haushalts.
An Schlafen war trotz großer Müdigkeit lange nicht zu denken,
denn wenn die Herdentiere mit Einbruch der Nacht auch stiller
geworden waren, so riefen doch die zahlreichen Lämmer und
Zicklein, die man zum Schutz gegen die Kälte in der Frauen-
abteilung der Zelte untergebracht hatte, die ganze Nacht nach
den Müttern, die ihrerseits antworteten, hier und da ließ ein
Esel seine Stimme hören und das unerträgliche Gebell der
Hunde verstummte die ganze Nacht hindurch keinen Augenblick.
Nachdem ich endlich ein wenig eingeschlummert, erwachte ich
bald wieder von Frost und Fieber geschüttelt, den Bart voll
Wasser, da ich unter dem freilich vorn offenen Zelte es für un-
nötig erachtet hatte, den Kopf zu verhüllen. An Schlaf war nicht
mehr zu denken und mit Freude begrüßte ich das Grauen des
Tages, das Thermometer stand im Zelt auf Null, dicker Nebel
lagerte über dem ganzen Hochbecken! Am i. April unter
35 Grad n. Br. So hatte ich Gelegenheit, das Klima dieser
Hochsteppen aus eigener Erfahrung kennen zu lernen. Einen
Augenblick schwankte ich in der Befürchtung, von Malaria be-
fallen zu sein, ob ich umkehren sollte, wo ich eine Tagereise
entfernt einen französischen Arzt gefunden hätte, oder ob ich
— 3IO —
vorwärts gehen sollte, wo noch mehrere gleich anstrengende Tage-
märsche meiner harrten. Ich entschloß mich zu letzterm. Nach-
dem ich mir Milch gekocht und möglichst heiß getrunken hatte,
stieg ich zu Pferde und trabte ohne Aufenthalt ^'^/^ Stunde lang
bis zu der warmen Quelle von Ain el Hammam auf der Paßhöhe
zwischen dem Hochbecken von Fussana und dem loo m tiefer
gelegenen Becken von Kasserin (Colonia Scillitana), am Nord-
fuße des Kreidekalkdoms des Dj. Chambi, 1544 m Höhe, des
höchsten Berges von Tunesien. Dort wurde gerastet. Es war
ein herrliches Plätzchen. Vortreffliches, wenn auch 30*' C war-
mes Wasser sprudelte aus dem Felsen hervor und tränkte ein
Oleanderdickicht, dem sich einige junge, den Kernen der von
dort Rastenden verspeisten Datteln entsprungene Dattelpalmen
zugesellt haben. Der Blick schweift weithin über das Becken
von Kasserin, von wo der neu errichtete Bordsch, mitten in den
Ruinen der alten Stadt, wie ein weißer Punkt herüberleuchtete.
Sonst ringsum öde, pflanzenlose Felsen. Das Fieber war offen-
bar nur eine vorübergehende Folge der Übermüdung gewesen
und die Kälte hatte mir nicht einmal einen Schnupfen hinter-
lassen. Zunächst galt es, den äußeren Menschen in dem warmen
Quell zu säubern, was auf dieser Reise immer nur möglich war,
wenn ich Wasser traf. So hielten es, wie ich mich oft über-
zeugen konnte, auch die Eingeborenen. Dann wurde den von
Tebessa mitgeführten Vorräten, so trocken sie waren, mit gutem
Appetit zugesprochen. Dann wieder zu Pferde. Nach weiteren
drei Stunden fand ich gastliche Aufnahme im Bordsch von Kas-
serin bei dem reichen, fein gebildeten und überaus liebenswür-
digen Kaid Sadok Ben Tlili. Dieser Bordsch war vor wenigen
Jahren erst erbaut und so eben vom Kaid durch italienische
Maurer, von denen noch ein einziger, der sich in seiner Verein-
samung eifrig mit der Absintflasche tröstete, anwesend und mit
dem frischen Kalkanstrich des ganzen Bauwerks beschäftigt war,
vergrößert und ausgebessert worden. Als Herr v. Maltzan 1868
hier durchkam, bestand er noch nicht. Wie alle diese an wich-
tigen Punkten der Karawanenstraßen Tunesiens errichteten Bau-
werke, die man am besten als befestigte Karawanserais be-
zeichnen kann, in Südtunesien meist auf 30 — 50 km in der
Runde die einzigen festen Menschenwohnungen, besteht derselbe
aus einem 3 — 4 m hohen, von außen nur durch ein Tor zu-
— 311 —
gänglichen Mauerviereck, an welches im Innern nur von dem so
umschlossenen inneren Hofe durch Türen , die zugleich al
Fenster dienen, zugängliche, den ganzen Hof umgebende eben-
erdige Räume angebaut sind, die mit flachen Kuppeldächern ver-
sehen teils zum Wohnen, teils für Vorräte usw. dienen. Doch
findet man häufig einzelne Räume, die nur nach außen einen
Eingang haben und mit dem inneren Hofe des Bordsch ohne
Verbindung sind. Das äußere, meist unverschließbare Tor führt
zunächst in eine Art Halle mit ringsum laufenden breiten ge-
mauerten Bänken, auf welchen Matten oder Teppiche gebreitet
werden. Erst durch ein beständig geschlossenes inneres Tor ge-
langt man in das Innere des Bordsch, das nur den FamiUengliedem
und sonst Näherstehenden zugänglich ist. Jene Vorhalle dient
als Versammlungsort für die Männer der ganzen Umgebung und
wird am Tage fast nie leer.
Die Männer der nomadischen Araberstämme — in Algier
gilt dies aber auch von den seßhaften Arabern, wenigstens außer-
halb der Städte, mehr oder weniger aber auch von den Männern
der ganzen mohammedanischen Welt — arbeiten ja sehr wenig,
alle Arbeit, der Haushalt, das Weben der Kleidungsstoffe usw.
fällt den Frauen zu, die bei den Zeltarabem kaum anders als
als Lasttiere dienen und infolgedessen früh verblühen. Nur das
Weiden der Herden, das sehr entbehrungsreich, aber nicht an-
strengend ist, fällt Männern, aber meist den jüngeren Familien-
gliedern oder Knechten zu. Die Mehrzahl der Männer ergibt
sich jahraus jahrein mit vereinten Kräften dem Nichtstun, vom
Morgen bis zum Abend sitzen sie in der Vorhalle eines Vor-
nehmen, in oder vor dem Zelt oder der Hütte, im Kaifeehaus,
wenn ein solches vorhanden ist, oder auch an einem beliebigen,
je nach der Jahreszeit sonnigen oder schattigen Platze beisam-
men, bald lebhaft plaudernd, bald stundenlang schweigend und
höchstens Zigaretten rauchend. Ihre Leistungsfähigkeit in diesem
untätigen Dahocken ist staunenswert, in Algerien größer als in
Tunesien. Nach meinen Beobachtungen ist das Nichtstun der
Männer im türkischen Orient, soviel darüber geschrieben worden
ist, nicht entfernt mit der Vollkommenheit zu vergleichen, die
der Westen in dieser Kunst erreicht hat. Ich habe Beispiele
beobachtet, wo eine Gruppe von 4 — 5 Arabern im besten Mannes-
alter, anscheinend keineswegs begütert, vor einem zerlumpten
— 312 —
Zelte oder einem Gurbi (Reisighütte) saßen, und wenn ich nach
vier, fünf oder noch mehr Stunden wieder zurückkam, sich noch
genau an derselben Stelle befanden. Es erklären sich, wie nicht
näher erörtert zu werden braucht, die wirtschaftlichen Verhält-
nisse dieser Länder aus diesen Lebensgewohnheiten zum großen
Teil, dieselben sind aber meines Erachtens außer auf die herr-
schende Religionsform und die Stellung der Frau vor allen
Dingen auf geographische Ursachen zurückzuführen. Die Landes-
natur, vor allem das Klima, macht die von den Arabern, die
dem Islam seinen Charakter aufgeprägt haben, bewohnten Länder
zu Weideländern, bzw. die nomadischen Araber haben früheres
Kulturland, wie hier in Tunesien, künstlich durch Vernichtung
aller Bäume und aller Bodenkultur in Weideland verwandelt.
Das Weiden der Herden und die Sorge für dieselben erfordert
aber wenig Arbeit, beschäftigt nur wenige, für die Mehrzahl der
Männer gibt es also tatsächlich nichts zu tun. Selbst in den
Gegenden, in welchen noch Ackerbau möglich ist und in welchen
sich Araber oder arabisches Wesen behauptet haben, wie im Teil
der Atlasländer, vermag auch der Ackerbau jene Eigentümlich-
keit nicht zu beseitigen, denn derselbe ist weit weniger mannig-
faltig als in Mitteleuropa z. B. und zwingt auch nur zweimal im
Jahre zur Arbeit, bei der Aussaat nach Beginn der Winterregen,
meist im November, und bei der Ernte nach dem Aufhören der
Winterregen, gegen Ende Mai oder Anfang Juni. Und was würde
ein deutscher Landwirt zu dieser Bestellung der Felder sagen!
Künstliche Bewässerung, also Gartenbau, der allerdings zur Ar-
beit erzieht und allein völlige Seßhaftigkeit bedingt, war in der
Urheimat arabischen Wesens nur in Jemen wichtig; was die Araber
in dieser Hinsicht in Spanien und Sizilien geleistet haben, möchte
ich wesentlich auf berberische Einflüsse zurückführen. Noch heute
sind die Berbern, da wo sie sich ihren alten Volkscharakter zu
bewahren vermocht haben, ausgezeichnete Gartenbauer, sie allein
vermehren sich bedeutend und vermochten so die für jene Vor-
gänge nötigen Menschenmengen zu liefern. Die Berbern sehen
wir heute sich europäischer Kultur in Algerien nähern, die
Araber haben dort bis heute wie anderes, so vor allem das Ar-
beiten von den europäischen Kolonisten nicht gelernt. Wenig-
stens ist schwer verständlich, wie die Masse der Männer noch
weniger hat tun können wie heute.
— 3^3 —
Mein Aufenthalt im Bordsch von Kasserin wurde leider
durch einen betrübenden, aber in mehrfacher Hinsicht lehrreichen
Zwischenfall gestört. Am Abend wurde mir vom Kaid ein glän-
zendes, aus Suppe, drei Gerichten mit Fleisch, alles scharf mit
spanischem Pfeffer gewürzt, und mannigfaltigem Nachtisch be-
stehendes !Mahl geboten, an welchem nur ein Bruder und mein
Führer teilnahmen; dann ging alles zur Ruhe. Ich schlief in
dem trefflichen Himmelbette bald ein, wurde aber des Morgens
gegen 3 Uhr wach infolge eines eigentümlichen Geschreies, das
mir von außerhalb des Bordsch zu kommen schien und das mir
den Eindruck machte, als werde vor dem Bordsch Markt ge-
halten. Daß es noch Nacht war, konnte ich nicht wissen, denn
bei geschlossener Tür war es auch am Tage in dem Räume
finster. Nach einiger Zeit wurde aber von außen heftig an die
Tür geklopft und mein Führer, der nun endlich auch erwachte,
so wie ein jüngeres Familienglied , das ebenfalls hier seine
Schlafstätte hatte, gerufen. So erfuhr ich, daß das Geschrei von
dem Wehklagen der Weiber herrühre und daß der Kaid mit
seiner ganzen Familie dem Tode durch Ersticken nahe gewesen
und schwer krank sei und man mich um meinen ärztlichen Bei-
stand bitte. Daß in Afrika jeder Europäer mehr oder weniger
für einen Arzt gehalten wird, ist ja bekannt, selbst in Tunesien
bin ich nicht weniger als dreimal um ärztlichen Beistand ange-
gangen worden. Hier lag noch ein gewisser Anhalt vor, indem
ich meinem Führer, der sich als Stadtaraber in der kalten Nacht
unter dem Zelte eine starke Erkältung zugezogen hatte, aus
meiner kleinen Reiseapotheke ein schweißtreibendes und auch
erfolgreiches Mittel gegeben hatte. Obwohl ich natürlich jedes
Eingreifen ablehnen mußte, wurde ich doch zum Kaid geführt,
trotz der Anwesenheit der Frauen und Kinder, welche letztere
namentlich schwer litten. Doch konnte ich mich überzeugen,
daß ein tödlicher Ausgang nicht zu fürchten sei, namentlich da
bald Erbrechen eintrat. Indes entsprach ich gern der Bitte, einen
Brief an den Arzt des kleinen französischen Lagers von Feriana,
das 35 km entfernt war, zu schreiben und denselben um Bei-
stand anzugehen. Ein Bote sprengte eiligst mit dem Briefe da-
von und ich erfuhr am andern Tage, als ich selbst nach Feriana
kam, daß der Arzt zwar selbst am Malariafieber darniederliege,
aber doch die entsprechenden Mittel dem Boten mitgegeben habe.
— 314 —
Von einer Karawane, die ich traf und die nach mir von Kasserin
aufgebrochen war, erfuhr ich noch, daß bald Besserung eingetreten
war. Der Unfall war dadurch veranlaßt worden, daß der Kaid
im Harem ein Kohlenbecken bei verschlossenen Türen aufgestellt
hatte, um die durch den Neubau und Neuanstrich verursachte
Feuchtigkeit zu bannen, ohne als bisheriger Zeltbewohner sich
der möglichen Gefahr bewußt zu werden. Zum Glück war der-
selbe erwacht, ehe es zu spät war. Rührend war die Anhäng-
lichkeit der Umgebung an die Familie und die Fürsorge für den
Gast, die trotz der allgemeinen, sich in den äußersten Befürch-
tungen ergehenden Bestürzung keinen Augenblick außer acht ge-
lassen wurde, ganz eines vornehmen Hauses würdig. Als ich am
andern Morgen abreisen mußte, wollte mich der Kaid noch ein-
mal sehen, und ich konnte mich mit wärmstem Dank und zu-
versichtlichen Trostesworten verabschieden. Von abergläubischem
Mißtrauen, daß der Fremde, der Christ, den Unfall verursacht
und Unglück ins Haus gebracht habe, was ich anfangs befürchtet
hatte, war keine Spur zu entdecken. Wäre dies wohl in ge-
wissen Gegenden Süditaliens oder Spaniens ebenso gewesen?
Der Bordsch von Kasserin, neben welchem sich beständig
auch einige Zelte finden, steht mitten in den ausgedehnten
Ruinen der römischen Kolonie Scillitana, das jedenfalls eine be-
deutende Stadt gewesen sein muß. Noch steht ein Triumph-
bogen und ein drei Stockwerke hohes prächtiges Grabmal eines
Flavius Secundus und seiner Frau aufrecht, die beide iio bzw.
105 Jahre alt geworden sind. Wie hier so ist auch sonst er-
staunliche Langlebigkeit der Bewohner des östlichen, heute keines-
wegs besonders gesunden Atlashochlandes in römischer Zeit aus
zahlreichen Grabinschriften bezeugt. Nach 1 2 1 Grabinschriften
der kleinen Colonia Celtianensium in der Provinz Constantine,
die untersucht worden sind, ergibt sich das Alter von 67 Ver-
storbenen zu über 50, von 27 zu über 70 und von 10 zu
über 100 Jahren; an einem andern Punkte gaben von 94 Grab-
steinen 2 1 ein Alter von mehr als 70, 1 8 von mehr als 80 und
6 von mehr als 100 Jahren an. Mindestens ebensogroß wie
Colonia Scillitana waren nach den Ruinen zu schließen Sbeitla
(Suffetula) und Feriana (Thelepte), das eine 35 km nordöstlich,
das andere ebensoweit südlich. Auch sonst sind römische Ruinen
in dieser Gegend außerordentlich häufig, ja, dieselbe ist förmlich
— 315 —
mit solchen übersäet, während heute sich dort fast nur Zeltlager
finden. Hat doch neuerdings eine Zählung festgestellt, daß jetzt
in ganz Tunesien neben 8 1 ooo bewohnten Zelten nur 5 i 000 be-
wohnte Häuser vorhanden sind. In bezug auf die vielerörterte
Frage, ob der blühende Zustand des Landes in römischer Zeit durch
günstigere klimatische Verhältnisse ermöglicht wurde, habe ich mir
die Anschauung gebildet, daß die etwa eingetretene Änderung nicht
besonders tief einschneidend ist, sie kann sehr wohl durch Ver-
wüstung der Wälder, deren Südtunesien nur nahe der Grenze von
Algerien noch einige, aber in verwüstetem Zusande besitzt, sowie
durch fortgeschrittene natürliche Entwässerung von Sümpfen und
Seen bewirkt worden sein. Jedenfalls ist wie ganz Tunesien so auch
noch dieser südliche, schon am Rande der Wüste gelegene Teil
ein reich ausgestattetes Land. Die Fruchtbarkeit des Bodens ist
wegen bedeutenden Phosphatgehaltes eine ganz erstaunliche; so-
weit die Flüsse in den ehemaligen Seebecken ihren Lauf ein-
geschnitten haben, sind Schichten von Lehm bis sechs und mehr
Meter Mächtigkeit erschlossen. Es bedarf nur des Wassers, um
hier die reichsten Ernten hervorzurufen. Und das wäre auch
heute noch so reichlich vorhanden, daß weite Strecken, wenn
auch gewiß nicht so weit wie in römischer Zeit, in Anbau ge-
nommen werden könnten. Bis zum 35. Parallel regnet es noch
heute in den meisten Wintern genug, um auch ohne künstliche
Bewässerung dem Boden reiche Ernten von Weizen und Gerste
ohne Düngung und bei schlechter Bestellung abzugewinnen. Im
Hochbecken von Fussana, das vom Wed Hathob, der hier auch
im Sommer, freilich in tief eingeschnittenem Bett, Wasser führt,
durchflössen wird, bin ich stundenlang durch die üppigsten
Weizen- und Gerstenfelder geritten, die am i. April schon fast
Yj m hoch waren und Ähren bekamen. Auch im Becken von
Kasserin finden sich noch solche. Auch große Opuntienfelder
fehlen hier nicht; ihre Früchte sind eine Lieblingsnahrung der
Araber. Dennoch hatten hier schon die Römer künstliche Stau-
werke angelegt, von denen noch Spuren vorhanden sind, um
das Wasser des nie versiegenden Wed Kasserin, der sich wenig
unterhalb in dem Becken von Kasserin mit dem Hathob ver-
einigt, aufzuspeichern und auch im Sommer größere Flächen
bewässern zu können, wie dies schon das Vorhandensein einer
so großen Stadt zu schließen zwänge. Doch stand derselben
— 3i6 —
außerdem eine herrliche, dicht unter dem Bordsch aus dem
Felsen hervorbrechende Quelle zur Verfügung. Hier endet aber
jetzt das nur mit Hilfe der Winterregen angebaute Land; Feriana,
obwohl auch noch in 8oo m Höhe gelegen, ist schon vollständig
Oase, der Boden ist dort nur so weit angebaut, als das Wasser
einer starken Quelle reicht. Schon der Name, welcher Bewässe-
rungsrinne bedeutet, läßt das erkennen, dem vom Norden Kom-
menden war in der Tat Feriana die erste Berieselungsoase. Das
alte Thelepte lag um diese Quelle herum, auf nicht bewässertem
Boden. Die über die Hochebene nördlich davon in erstaunlicher
Fülle zerstreuten römischen Ruinen lassen aber gar keinen Zweifel
aufkommen, daß dieselbe in jener Zeit angebaut war. Die For-
schungen von Bourde haben seitdem wahrscheinlich gemacht, daß
dieser blühende Zustand des Landes in den ersten Jahrhunderten
der christlichen Zeitrechnung im wesentlichen auf Baum-, be-
sonders Olivenzucht beruhte. Die seitdem unter Gaucklers Lei-
tung sorgsam erforschten Anlagen zum Sammeln und Aufspeichern
allen Wassers zeigen, daß das schon damals nötig war. Heute
ist hier nur Weideland, einzelne Felder findet man noch an ein-
zelnen besonders günstigen Stellen, aber sie standen auch nach
einem so regnerischen Winter, wie der vergangene auch hier
gewesen war, dürftig genug, und ich möchte es für geradezu
unmöglich erklären, daß diese Gegend heute wieder so angebaut
und so dicht bewohnt werden kann wie in römischer Zeit. Am
deutlichsten prägt sich aber die Unmöglichkeit, heute hier irgend-
wie ins Gewicht fallenden Ackerbau zu treiben, darin aus, daß
die Nachfolgerin von Thelepte, Feriana, 3 km weiter südlich
liegt, dort wo der von der Quelle gebildete Bach aus den Bergen
in die Ebene tritt, es also möglich war, eine größere Fläche zu
bewässern. Feriana liegt daher ganz wie die Ortschaften der
Wüste am Rande seiner Oase, in welcher freilich der Meereshöhe
wegen die Dattelpalme ihre Früchte nicht mehr reift und nur
durch einen einzigen hohen Stamm vertreten ist. Um so üppiger
aber gedeihen Weizen-, Gersten- und Gemüsefelder, beschattende
Feigen-, Granaten-, Mandel- und Ölbäume; ein Saum von Weizen-
feldern, die nur im Winter, wo Wasser reichlicher vorhanden ist,
bewässert werden, umgibt auch diese Oase. Die niedern, meist
aus Lehm errichteten Häuser des 600 Einwohner zählenden
Dorfes haben ganz die Bauart der Oasenstädte und lassen er-
— 317 —
kennen, daß es hier sehr wenig regnet. Die Franzosen haben
auch hier, verständigerweise oberhalb des Dorfes, ein kleines
Lager, aus kleinen steinernen Kasernen bestehend und von einem
niedem Wall und Graben umgeben, errichtet und den Bach
durch dasselbe geleitet, so daß sie jeden Augenblick der Oase
das Wasser abschneiden können. Auch haben sie, was aller-
dings unerläßlich war, um die Truppen mit Gemüse u. dgl. zu
versehen, neben dem Lager eine ziemlich bedeutende Fläche
unter Anbau und Bewässerung genommen. Um so knapper
dürfte nun freilich der Wasservorrat für die Oase werden. Da-
neben haben aber die Franzosen doch für nötig erachtet, auf einem
Hügel dicht neben dem Lager eine Zisterne einzurichten. Die
kleine Nachbaroase von El Kis wird ebenfalls von einer dorthin
geleiteten Quelle bewässert, deren Wasser jedoch brackig ist. Sie
bildet einen dichten Olivenhain. Feriana liegt tatsächlich am Rande
der Wüste, weiter südwärts werden auch die römischen Ruinen weit
seltener und dürftiger. Doch sind noch heute Reste einer römischen
Straße, welche Thelepte mit Capsa (Gafsa) verband, vorhanden.
Die Entfernung von Feriana nach Gafsa beträgt 68 km und
man muß dieselbe in einem Tage zurücklegen, da unterwegs nur
der schon erwähnte eine Brunnen von Henchir-Sidi-Aisch vor-
handen ist. Ein zweiter, Bir Medkides, liegt nur i6 km davon,
ist aber 50 m tief und daher schwer benutzbar. Der Weg führt
zunächst, nachdem man die langgestreckte Oase verlassen, durch
eine weite, von niedem Bergen umwallte wagerechte, sandige
Hochebene, die wohl auch ein ehemaliges Seebecken sein dürfte,
aber nur mit vereinzelten Büschen, niederm Gestrüpp, namentlich
Rtem (Retama monosperma) und Passerina hirsuta, auf weite
Strecken auch mit Haifa bedeckt ist. Schih (Artemisia herba
alba), das auf dem Hochlande eine so große Rolle spielt und
weite Strecken fast ausschließlich bedeckt, dieselben unter den
Strahlen der Sonne in würzigen Duft hüllend, kommt hier seltener
vor. Die Kamele fressen es gern. Am untern Ende der Ebene,
wo sich ein paar Wasserlöcher finden, hat der Wed Feriana in
wasserreichem Tagen die sanft gefalteten Kalksteinschichten (wohl
der Kreideformation) eines niedem SW — NO streichenden Höhen-
rückens, den Dschebel Ogeff, durchbrochen und das 50 m breite,
von tiefem Sande gefüllte Bett des stets trockenen Flusses bildet
den Weg durch diesen Engpaß, den Kränget Ogeff. In kurzem
— 3i8 -
weitet sich das Tal, der Weg folgt dem Ufer des Wed. dessen
Bett und Ufer etwas reichlicher mit Rtem, Tamarisken (Tamarix
africana) und Sadr (Zizyphus lotus) bewachsen sind, erstere beiden
die Hauptnahrung der großen hier weidenden Ziegen- und Schaf-
herden, infolgedessen kläglich zugerichtet. Die Herden, außer
Ziegen und Schafen kommen hier nur noch Kamele in Betracht,
sind fast lediglich auf diese niedern, dürftig belaubten oder der
Blätter ganz entbehrenden Holzgewächse angewiesen, die mit
ihren tief dringenden Wurzeln hier noch ihr Dasein zu fristen
imstande sind. Saftreichere, frischgrüne Pflanzen, namentlich
Gräser finden sich nur im Winter hier und da, wo der Boden
feuchter ist. Den Sadr rühren aber selbst die Ziegen nicht an,
denn er ist am reichlichsten unter diesen meist dornigen Steppen-
pflanzen bewehrt, seine kleinen zarten Triebe, die hier sich eben
erst zu Anfang April zu entwickeln begannen, sind gut "mit Dor-
nen besetzt und noch weiter durch die meist abgestorbenen vor-
jährigen, stark bedornten Triebe geschützt. Die elliptischen Blätt-
chen erreichen nur eine Breite von 5 und eine Länge von 8 mm.
So vermag dieses Holzgewächs allein hier und da die Höhe eines
Baumes zu erreichen. Meist bildet es jedoch niedere, aber un-
durchdringliche Gestrüppe, die sich regelmäßig auf einem Hügel
erheben, der seine Entstehung meist dem um die Sadrbüsche
aufgehäuften Sande (sog. Neulinge), zuweilen aber auch dem Um-
stände verdankt, daß die Wurzeln den Boden festhielten und
sich so bei fortschreitender Verwitterung und Davonführung der
abgelösten Stoff'e durch den Wind allmählich ein Hügel (sog.
Zeugen) herausmodellierte. In weniger öden Gegenden sind diese
Hügel dann häufig der geschützte Wohnsitz der Djerboaratte und
von deren Löchern siebartig durchbohrt. Dieser Nager, hier an
den Grenzen der großen Wüste seltener, tritt in den Steppen
des ganzen südöstlichen Tunesiens massenhaft auf und man muß
häufig Umwege machen, damit das Pferd nicht in den völlig
unterhöhlten Boden einbricht und Schaden leidet. Mit seiner
reichen Bedornung und dürftigen Belaubung veranschaulicht der
Sadr, in welchem wir noch einen der üppigsten Vertreter der
Pflanzenwelt zu sehen haben, der an Stellen gebunden ist, wo
noch im Boden sich etwas Feuchtigkeit findet, so recht die außer-
ordentliche Ungunst eines trocknen Klimas, mit welchem hier die
Pflanzenwelt zu kämpfen hat.
— 319 —
Gruppen verwilderter Ölbäume, die sich noch an der Ein-
mündung des Wed Bugena und des Wed Erseuf in den Wed
Feriana in der Nähe einiger Ruinen aus römischer Zeit erhalten
haben, bezeugen aber, daß doch auch hier im Altertum feste
Ansiedelungen sich fanden. Auch Wild, flüchtige Gazellen, die
sich in größerer Entfernung zeigen, namentlich aber Rebhühner,
die hier so gut wie gar nicht gejagt werden, sind nicht selten.
Durch einen Engpaß zwischen dem Dschebel Nadur und dem
Dschebel Sidi Aisch hindurch hat sich der Fluß einen Weg in
eine weite, sich sanft nach Süden abdachende Hochebene ge-
bahnt, an deren oberm Ende die schon oben erwähnten Brunnen
von Henchir-Sidi-Aisch am Fuße des nahen Gebirges liegen.
Fast I km breit ist hier das Flußbett und mit tiefem Sande
gefüllt, während die Hochebene in ihren nördlichen Teilen als
Hammada auftritt, als Steinwüste, deren Oberfläche mit lauter
eckigen, bis faustgroßen Steinen bedeckt ist, als sei man im Be-
griff", sie zu makadamisieren. Der südliche Teil der Hochebene
von Sidi Aisch ist sandig und im Südosten befindet sich eine
ausgedehnte Dünenregion. Der Wasserbedarf des Körpers zum
Ersatz des Verdunstungsverlustes ist schon hier am Nordrande
der Wüste und in dieser Jahreszeit ein sehr bedeutender, ich habe
manchen Tag drei bis vier, vielleicht auch mehr Liter getrunken,
während ich in Deutschland zuweilen während eines halben Jahres
kein Wasser trinke. Fast täglich kamen auch arabische Hirten,
die uns vorüberreiten sahen, heran und baten um Wasser, das
ihnen zu verweigern ein schwerer Verstoß gewesen wäre. Nach-
dem sie sich satt getrunken, füllten sie meist noch, wenn unser
eigner Vorrat es erlaubte, einen kleinen, höchstens ein Liter
fassenden Lederschlauch, den sie mit sich führten.
Als die Sonne gegen 6 Uhr unterging und die Nacht rasch
hereinbrach, war ich, da ich in dem bald steinigen, bald tief
sandigen Wege kaum mehr als 5 km in der Stunde zurück-
zulegen vermochte, noch 20 km von Gafsa entfernt, doch kannte
mein Führer den Weg so ziemlich, da er ihn vor Jahren öfter
gemacht hatte. Die Gegend galt als sicher, doch war es nicht
gerade erfreulich, daß drei Wochen vorher eben dort ein Araber,
welcher die Post der französischen Besatzung in Gafsa nach
Tebessa beförderte, überfallen und ausgeplündert worden war.
Die Nacht war ziemlich hell und wir verfügten über drei Revolver.
— 320 —
Endlich tauchte im Südwesten ein Bergrücken auf, es konnte nur
der Dschebel Ben Yunes sein, hinter welchem Gafsa liegt, ein
breites, trocknes Flußbett, das wir bald darauf, von Nordwesten
kommend, durchschritten, gab mir Gewißheit. Und kurze Zeit
nachher erhielt ich die sicherste Botschaft, daß die Oase nahe
sei, der Südostwind trug uns den mir aus den Zibanoasen der
algerischen Sahara, die ich vierzehn Tage früher besucht hatte,
so wohl bekannten, kaum dem der Apfelsinen an Würzigkeit
nachstehenden Blütenduft der Dattelpalmen zu. Auf 6 km Ent-
fernung! Eine halbe Stunde später hörten wir die Signale des
auch hier am Nordende der Oase errichteten französischen Lagers
und um gYg Uhr langte ich glücklich in Gafsa an und fand in
der Baracke eines französischen Marketenders, da ich die Gast-
freundschaft des tunesischen Kaids nur im Notfalle in Anspruch
zu nehmen wünschte, für teures Geld eine schlechte Unterkunft,
aber nach dem vierzehnstündigen Ritte die wohlverdiente Ruhe.
Die Oase Gafsa, mit welcher ich die eigentliche tunesische
Sahara und das Beled el Djerid, das tunesische Dattelland, be-
trat, ist nur selten von Reisenden besucht worden. Der fran-
zösische Archäologe Viktor Gu6rin, der deutsche Reisende
H. V. Maltzan, die französischen Tirant und Rebatel sind meines
Wissens die einzigen gebildeten Europäer, die in den letzten
Jahrzehnten diese Oase besucht haben. ^) Die Lage von Gafsa ist
in verschiedener Hinsicht eine ausgezeichnete. Es liegt auf der
Grenze der Wüste und des noch hier und da anbaufähigen
südtunesischen Steppenlandes, es vermittelt also zwischen zwei
verschieden ausgestatteten Gebieten und muß schon deshalb ein
wichtiger Verkehrsknoten sein. Es ist dies aber um so mehr,
als die Oberflächenformen des Landes außer an der Meeresküste
entlang nur hier einen bequemen Durchgangspunkt geschaffen
haben. Gafsa liegt nämlich an dem einzigen Tore in dem West-
ost streichenden Gebirgsrücken, welcher hier die Hochsteppen
Mitteltunesiens vom wüsten Schottgebiet scheidet, dem also alle
Straßen vom südöstlichen Algerien wie von Kairuan und Sfaks
her zustreben, um jenseits wieder radienförmig auszustrahlen.
Geschaffen ist diese Pforte wohl erst vom Wed Baiasch, wie der
i) Heute ist sie mit der Eisenbahn von der Küstenstadt Sfaks aus
bequem zu erreichen und im Begriff, sich als Winterstation zu entwickeln.
— 321 —
unmittelbar oberhalb derselben mit dem Wed Kebir vereinigte
Wed Feriana hier heißt, der sich jetzt einen i km breiten Weg
zwischen dem Dschebel Orbata (1170 m) und dem Dschebel Bu
Ramü (1200 m) gebahnt hat.
Man kann sich allerdings jetzt nicht leicht veranschaulichen,
daß der nur nach jahrelangen Zwischenräumen einmal Wasser
führende Wed eine solche Tätigkeit ausgeübt habe. Aber wenn
man den ganzen Südrand des Atlashochlands etwas näher kennen
lernt, so schwinden diese Zweifel, denn es dürfte kaum ein zweites
Gebiet mit so großartigen, allerdings zum Teil in die Pluvialzeit
zurückreichenden Erosionswirkungen geben wie dieses. Allent-
halben begegnet man wild zerrissenen Schluchten, tief aus-
gewaschenen Tälern, in Gebirgsland umgestalteten Hochebenen,
zugeschütteten Seebecken. Der innere Bau des Landes, die leicht
zerstörbaren Gesteine, der stete Wechsel zwischen großer, die
Felsen ausdehnender Hitze und rascher Abkühlung, die lange
Trockenheit, die den Boden allenthalben aufreißen macht und
dann von vereinzelten, aber um so heftigem Regengüssen gefolgt
ist, erklären diesen Vorgang voUkonmien. Sind uns ja Fälle
genug von großartiger, erodierender Tätigkeit in Jahrzehnten nur
einmal gefüllter Weds von guten Beobachtern bezeugt. Süd-
tunesien bietet allenthalben das Bild eines so vollkommenen
Terrassenbaues wie nur das Wasser solchen schaffen kann. Das
ganze Land besteht lediglich aus weiten Becken mit fast wage-
rechtem Lehm- oder Sandboden jüngster Entstehung, die durch
meist kurze, elliptische Bergrücken aus festerem Gestein, meist der
Kreideformation, voneinander getrennt sind und die man, wenn
die Flußbetten zu eng und zu felsig sind, auf Seitenpfaden über-
schreiten muß, um von einem Becken ins andere zu gelangen.
Die heute nur selten gefüllten Flüsse erreichen jetzt das Meer
sämtlich nicht, sie enden entweder in der langgestreckten De-
pression der Schotts, die sich von der Kleinen Syrte bei Gabes
auf 400 km landeinwärts erstreckt, oder in den Sebchas (flachen,
im Sommer vertrocknenden Salzbecken) Südosttunesiens, welche sie
allmählich, jetzt aber jedenfalls viel langsamer wie früher in
Ebenen verwandeln. Der seinen Namen wie alle diese Flüsse
oft ändernde Wed Hathob z. B., dessen Quellen an dem noch
mit Aleppokiefern bedeckten (daher der Name holztreibender
Fluß) eine gute Naturgrenze zwischen Algerien und Tunesien
Fischer, Mittelmeerbilder. 21
— 322 —
bildenden Dschebel Zebissa liegen, durchfließt nicht weniger als
sechs solcher Becken und findet schließlich sein Ende in dem
bei Kairuan gelegenen, die tiefste Stelle der noch weithin sumpfigen
Ebene von Kairuan bezeichnenden See Kelbia, der nur mehr
15,5 m über und 22 km vom Meere liegt, aber nur selten Wasser
an dieses abgibt.
So liegt Gafsa auch wieder am obern Ende einer Ebene,
deren nordwestlichste wie südöstlichste Bucht, die recht bezeich-
nend am weitesten vom Wed Baiasch abliegen, noch heute im
Winter sich mit Wasser füllen, die Garaat el Aglat und die
Sebcha von El Gettar. Dazu brechen an diesem Engpasse, vom
Gebirgsbau bedingt, zwei sehr starke 31 bis 33^ C warme Quellen
hervor, zu welchen noch mehrere kalte im Bette des Flusses
selbst und am Rande desselben, offenbar die unterirdisch fließenden
Gewässer des Wed, die hier durch eine Schwelle festen Gesteins
in die Höhe gedrängt werden, hinzukommen. Sie füllen auf eine
Strecke das sonst trockene Flußbett. So mußte sich an dieser
Stelle eine große Oase als wichtiger Knotenpunkt des Verkehrs
und auch strategisch wichtiger Punkt entwickeln. W^ie der un-
zweifelhaft phönikische Name erkennen läßt, haben schon die
Phönikier seine Wichtigkeit erkannt, später bediente sich Jugurtha
seiner für seine Schätze als Zufluchtsstätte, deren Eroberung eine
der Ruhmestaten des Marius werden sollte. Allerdings waren die
Schwierigkeiten, ein Heer zu Ende des Sommers, der wasser-
ärmsten Jahreszeit, durch die Wüste vor die feste, im Innern
reich mit Wasser versehene Oasenstadt zu führen, nicht gering.
Bezeichnenderweise ließ Marius seine Soldaten vom Flusse Tanas,
dem Wed el Abiad, an Stelle des Gepäcks einen möglichst
reichen Wasservorrat in Schläuchen mitführen und legte die
letzten drei Tagesmärsche bei Nacht zurück, so daß er vor
Tagesanbruch vor Gafsa ankommend die Stadt mit List erobern
konnte. Von Marius zerstört, da die Römer noch nicht daran
dachten, sich hier festzusetzen, ist Gafsa doch naturnotwendig
infolge des großartigen Aufschwungs des ganzen östlichen Atlas-
gebiets unter den Römern wieder zu großer Bedeutung gelangt, die
es nach der Schilderung El Bekris auch noch in arabischer Zeit bis
zu einem gewissen Grade behauptet hat. Noch heute ist die antike
Fassung der von den Römern zu Bädern benutzten Quellen erhalten,
noch heute steht inmitten der baufälligen Häuser der heutigen Be-
— 323 —
wohner ein römischer Triumphbogen und sieht man überall antike
Werkstücke, Säulentrommeln und Kapitale vermauert. Die heutige
Kasbah, ein höchst malerisches, von Zinnenmauem mit Türmen
umschlossenes Bauwerk, das weite Höfe und eine der Quellen
umschließt, steht jedenfalls auf den Grundmauern der alten Burg,
in welcher die byzantinischen Statthalter von Byzatium zu wohnen
pflegten. Auch ist sie fast ganz aus antiken Werkstücken er-
richtet, so daß man bei ihrer Zerstörung gewiß einmal zahlreiche
Inschriften finden und neue Aufschlüsse über die Geschichte von
Gafsa erlangen wird. Die Bäder werden noch heute benutzt, man
teilt den Genuß derselben mit großen Mengen kleiner Fische, die
sich sehr behaglich in dem warmen Wasser tummeln. Sie ge-
hören zu der in den unter- wie oberirdischen Gewässern der
Sahara weit verbreiteten Gattung Chromis. Auch kleine schwarze
Schlangen, wohl zur Gattung Tropidonotus gehörig, kommen vor.
Aus ihnen hat offenbar Sallust die so furchtbaren Schlangen ge-
macht, die den Angriff auf Gafsa noch gewagter erscheinen
Heßen, wenn anders nicht an die allenthalben in der nördlichen
Sahara vorkommende Hornschlange (Cerastes cornutus) zu denken
ist, welche auch heute noch von den Arabern sehr gefürchtet ist.
An diese starken Quellen ist das Dasein von Gafsa geknüpft,
sie verleihen dem Sande der Wüste Leben und Schäften die herr-
liche Oase, welche den etwa 5000 Bewohnern vorzugsweise Unter-
halt gewährt. Der Wasserreichtum der Oase von Gafsa ist wunder-
bar, ober- und unterirdisch ist es der Neigung des Bodens folgend
in südlicher Richtung von Gafsa aus in zahllosen Kanälen, in
denen es murmelnd dahinschießt, über den teils sandigen, teils
lehmigen Wüstenboden ausgebreitet, den es in ein Paradies ver-
wandelt hat. Der Flächeninhalt der Oase mag etwa 10 qkm
betragen. Heinrich Barth hat uns die Oase Gabes in begeisterten
Worten geschildert, so schön sie ist, steht sie doch weit hinter
Gafsa zurück. Was Gafsa auszeichnet, sind die Frische, Üppig-
keit und Mannigfaltigkeit des Pflanzenwuchses, die wunderbaren
Abstufungen in Farbe und Belaubung. Der Charakterbaum ist
natürlich die Dattelpalme, die hier tatsächlich, wie sie es nach
dem arabischen Sprichwort fordert, ihren Fuß ins Wasser und
ihr Haupt in das Feuer des Himmels taucht und eine seltene
Höhe und Kraft erreicht. Als Königin beschattet sie mit ihren
langen im Wüstenwinde leise rauschenden Wedeln alle andern
— 324 —
Gewächse. Ihre Früchte erreichen hier unter dem Schutze,
welchen die Gebirgskette gegen Norden bietet, obwohl in der
verhältnismäßig bedeutenden Meereshöhe von 345 m, so vorzüg-
liche Süße und Wohlgeschmack, daß sie zu den besten des
Dattellandes gerechnet werden. Daß Datteln von und über Gafsa
von allen nordwärts gehenden Karawanen als Fracht wie als
Reisekost in Menge mitgeführt werden, davon zeugen die Massen
von Dattelkernen, die ich von Norden kommend an jedem Quell,
jedem Brunnen oder Wasserloch fand, die Reste des Mahles der
Reisenden. Fällt ein solcher weggeworfener Kern in feuchten,
guten Boden, so erwächst daraus, wie ich es am A'in el Hamman
sehen konnte, ein stattlicher Baum. Wie manche Palmengruppe
an einem einsamen Brunnen der Wüste mag so entstanden sein!
Da meist nur die weniger guten Datteln zur Ausfuhr gelangen,
so kann man sich nur in den Oasen selbst ein volles Verständnis
für den Zauber dieser Frucht erschließen, der Unterschied ist
noch größer als der zwischen Apfelsinen, die man bei uns oder
etwa in Palermo, Malaga, BUdah oder Jaffa ißt.
Wie uns erst die Entwicklung der Dampfschiffahrt diese
Früchte der südlichen Mittelmeerländer in Menge zugeführt hat,
werden uns diese Schätze der algerischen und tunesischen Sahara,
obwohl schon jetzt gewisse Fortschritte zu verzeichnen sind, erst
voll zugänglich werden, wenn die Oasen in Eisenbahnverbindung
mit dem Meere sein werden. Und das wird zum Teil in wenigen
Jahren geschehen. Biskra, das freilich noch wenig gute Datteln
liefert, wird wohl schon gegen Ende 1887 auf der Eisenbahn zu
erreichen sein, der Bau war im März 1886 von Batna aus schon bis
über El Kantara, also bis in die Wüste, vorgeschritten, muß frei-
lich im Sommer der Hitze wegen unterbrochen werden. Und die
von den Franzosen geplante, auch strategisch überaus wichtige
Linie von Constantine über Tebessa und Gafsa nach Gabes an
die Kleine Syrthe wird wohl auch in nicht ferner Zukunft gebaut
werden.-^) FreiHch wird auch dann die Mehrzahl der Oasen noch
nicht in den Schnellverkehr einbezogen sein; denn von den Oasen
des Wed Rhir und Wed Suf, den besten Datteloasen der alge-
rischen Sahara, wird noch ein achttägiger Kameltransport nach
l) Sie ist heute (1905) noch nicht gebaut, wohl aber Gafsa mit der
Hafenanlage in Sfaks durch eine Eisenbahn verbunden.
— 325 —
Biskra, von dem tunesischen Nefta und Tozer ein dreitägiger
nach Gafsa, ein fünftägiger nach Gabes übrig bleiben, was noch
immer die Ausfuhr erschweren und verteuern wird. Von Gafsa
wird man aber dann selbst bei der in Algerien üblichen größten
Geschwindigkeit von 25 km in der Stunde Gabes in höchstens
sechs Stunden erreichen. Die tunesischen Datteloasen liegen über-
haupt dem Meere viel näher und werden gewiß in wenigen Jahren
ihre Datteln durch unternehmende Europäer rasch und massen-
haft auf der Markt bringen, während dieselben jetzt noch meist
mit Karawanen nach Sfaks und Tunis gehen. Das nähere Gabes
ist erst seit kurzem und wegen der flachen, die Dampfer 3 — 4 km
von derselben Anker zu werfen zwingenden Küste noch immer
unvollkommen durch die Compagnie Transatlantique in den Welt-
verkehr einbezogen worden, die einmal wöchentlich einen Dampfer
dort anlaufen läßt. In Algerien haben sich schon große kapital-
kräftige Gesellschaften, die Soci^t^ du Oued Rhir und die Soci^t6
Agricole et Industrielle de Batna, der hochverdiente Ingenieur
Jus an der Spite der letztern, gebildet, welche im Wed Rhir
Dattelpalmen erworben oder auf durch künstliche Brunnenbohrungen
neu gewonnenem Kulturlande angepflanzt haben und von Jahr zu
Jahr größere Mengen Datteln auf den Weltmarkt liefern werden.
Auch sonst ist der Baum vielfach verwertbar. Wie Versuche von
Jus gezeigt haben, liefert die Faser nicht nur ausgezeichnete
Stricke und Taue, welche die Eigenschaft haben, im Wasser
nicht zu faulen, daher für Schiflfahrtszwecke wertvoll sind, sondern
auch einen guten Papierstoff". Dem Oasenbewohner ist ja schon
heute die Dattelpalme so wertvoll, daß man geradezu sagen kann,
sein Dasein sei an dieselbe gebunden.
Namentlich wertvoll ist die Dattelpalme auch dadurch, daß
sie zarter organisierten Gewächsen Schutz gegen die sengenden
Sonnenstrahlen bietet und deren Anbau in den Oasen erst er-
möglicht. Der Baum bedarf sorgsamer Pflege, Düngung und Be-
wässerung. In der Oase Gafsa wird ihm das Wasser durch
Rinnen zugeführt, in der Nachbaroase El Gettar, die nur Brun-
nen besitzt, in welchen sich das Wasser von Dschebel Orbata,
an dessen Fuße sie liegt, sammelt, werden sie teils aus diesen
bewässert, teils pflanzt man sie, wie im Wed Suf allgemein, in
trichterartige Vertiefungen, wo die Wurzeln die wasserführende
Schicht zu erreichen vermögen. In der Oasengruppe von Gabes,
— 326 —
namentlich in Udref und Metuia, ist der Boden in den obersten
Schichten schon so wasserreich, daß auch dies nicht einmal nötig
ist. Doch haben die dortigen wenig gepflegten Palmen ein
kümmerliches Aussehen und ihre Datteln sind geringwertig. In
der Oase Biskra rechnet man auf jeden Baum einen Wasser-
bedarf von loo Kubikmeter im Sommer; im Frühling vor der
Blüte, die hier anfangs April eintritt, und im Spätsommer vor der
Fruchtreife, die im September beginnt, muß die Wasserzufuhr am
reichlichsten sein. Bei so reichlicher Durchfeuchtung des Bo-
dens und so großen Mengen stagnierenden Wassers ist es be-
greiflich, daß die Oasen häufig fieberreich und auch sonst un-
gesund sind, trotzdem die Städte fast ausnahmslos neben den
Oasen auf dem trockenen Wüstenboden angelegt werden. Gafsa
gehört besonders zu den ungesunden Oasen, namentlich Haut-
ausschläge und Geschwüre befallen dort Europäer wie Einhei-
mische sehr häufig. Um schönere Datteln zu erzielen und den
Baum zu schonen, läßt man meist nicht alle Blütentrauben stehen,
im Mittel etwa zehn, so daß derselbe etwa 1 50 kg Datteln liefert.
Die Dattelpalmen sind so auch in den Oasen der bequemste
Gegenstand der Besteuerung; in Algerien wird eine Steuer von
0,30 — I fr. auf den Baum, je nach der Oase, gelegt.
Im Schatten der Palmen wachsen nun Aprikosen-, Pfirsich-,
Feigen-, Granaten-, Quitten-, Mandel-, Bim- und Ölbäume, ver-
einzelt auch Apfelsinen und Limonen, der Weinstock rankt in
üppigen, malerischen Gewinden, die schon im Juni reife Trauben
tragen, an den Palmen oder an den eigens ihm zur Stütze ge-
pflanzten Zürgelbäumen (Celtis australis) empor, der Boden, der
überall in kleine viereckige, von Dämmen umgebene Beete ge-
teilt ist, die ganz unter Wasser gesetzt werden können, bringt
unter den Bäumen noch Massen von Gemüsen, Melonen, Gurken,
Weizen, Gerste hervor, allerdings nur in der kühleren Jahres-
hälfte; im Sonmier ist die Einwirkung der Sonne durch das Laub-
dach hindurch noch immer eine so große, daß dann bei aller
Bewässerung zartere Gemüse nicht zu ziehen sind. In drei
Schichten sozusagen bedeckt die Pflanzenwelt den Boden dieses
Paradieses in der Wüste. Der westliche und südwestliche Teil
der Oase ist ein großer Olivenhain, da dort das Wasser nur
noch für Ölbäume hinreicht. Diese liefern allerdings ein vor-
zügliches, wertvolles Öl. Auch die Granaten von Gafsa halten
— 327 —
noch den alten Ruf der Granaten des karthagischen Gebiets
(daher Punica granatum) aufrecht. Herrlich gedeihen hier auch
die Aprikosen. Die Bäume erreichen den Wuchs unserer größten
Birnbäume und waren mit einer unglaublichen Fülle von Früch-
ten bedeckt, die in den ersten Tagen des April schon fast Wall-
nußgröße erreicht hatten. Welche Gegensätze der Belaubung
bietet nun dieser Reichtum an Fruchtbäumen! Das üppige, ge-
sättigte Grün des Feigenbaumes oder des an den Wasserrinnen
häufigen Rizinus unter den mattgrünen, gelblichen Wedeln der
Palme, das bläuliche melancholische Blatt des Ölbaumes neben
dem frisch grünen der Aprikosen, die zarten rötlichen Blätter der
Granaten neben den dunkelgrünen lederartigen der Apfelsinen
oder den großen Fiederblättern der Karuben. Dazu nun, die
Mannigfaltigkeit der Farben zu erhöhen, die grauen Lehmwände,
welche die Gärten umschließen, hier und da ein Durchblick in
die gelbliche Wüste ringsum, oder auf die kahlen Berge im
Norden, oder die weißen Zinnenmauern der Kasbah, das Spiel
der Sonnenstrahlen durch das Gezweig auf dem grünen Teppich
des Bodens, über alles das herrliche Blau des Himmels ffe-
spannt. Auch an gefiederten Bewohnern fehlt es dem herrlichen
Fruchthaine nicht, wenigstens im Winter und Frühling; fast alle
unsere Sänger, von denen viele im cissaharischen Afrika über-
wintern, ließen sich hören, die Nachtigall führte den Reigen.
Leider mußte ich vielfach sehen, daß all diese kleinen Sänger
hier wie in ganz Tunesien massenhaft gefangen oder zu Tode
gequält werden. Dagegen ist mir wenigstens in Algerien dieses
fluchwürdige Treiben, mit dem sich die italienische Nation, auf
Capri zum Gelderwerb, so ganz besonders schändet, nirgends
aufgestoßen.
Ein gefährlicher Feind droht aber diesem Paradiese wie
allen anderen Oasen der tunesischen Sahara: der Sand der Wüste.
Seit längerer Zeit schon dringt der Wüstensand, Dünen bildend,
siegreich gegen die Oasen vor, deren Außengürtel, zuweilen auch
Flächen im Innern, mit Dünensand überschüttet wird, so daß sich
die Kronen der Palmen aus Hügeln weißen Sandes erheben.
Nicht wenige Brunnen sind so verschüttet worden, ganze Oasen
und ihre Dörfer sind bedroht, es vollzieht sich seit langer Zeit
schon ein immer augenfälliger werdender Rückgang fast aller
Oasen. In den am Meere gelegenen Oasen, wie Gabes, wo
— 328 —
sich ebenfalls hohe Dünen, am äußeren Saum die Palmen ver-
schüttend, gebildet haben, kommt der Sand vom Meere her, das
dort an der Kleinen Syrte, wo die Flutgröße 2 m beträgt, einen
breiten, sandigen Strand bei Ebbe trocken liegen läßt. Man
hofft dort der weitern Versandung der Oase durch einen fast
2 km langen niedem Bretterzaun und künstliche Dünenbildung
außerhalb der Oase vorzubeugen. Im Innern des Landes ist
diese Gefahr auf andere Ursachen zurückzuführen. Zunächst
pflegen die Herden von Schafen, Ziegen und Kamelen sich vor-
zugsweise um die Oasen aufzuhalten, wo sie nach und nach die
vorhandenen Pflanzen bis zu den Wurzeln abnagen und diese
schließlich mit den Hufen zerstören^ Auch die Karawanen lagern
sich stets bei den Oasen und an den Brunnen. Es wird daher
vorzugsweise um die Oasen der Boden gelockert, in Staub und
Sand verwandelt und dem Winde der Stoff" geliefert, mit welchem
er an festen Gegenständen, also vorzugsweise an den Bäumen
der Oasen, Dünenbildung beginnen kann. Fast überall findet
man gerade um die Oasen und um die Brunnen den tiefsten
Sand. Wo sich noch Pflanzen, etwa durch besonders reiche
Bedornung geschützt, erhalten haben, stehen sie auf Hügeln, der
Wind hat den ringsum gelockerten Boden davongeführt. Weiter
spielt bei dieser Erscheinung auch die tunesische Mißregierung
eine Rolle, welche die Bewohner vielfach verarmt und im Kampfe
gegen die sie umgebende feindliche Natur geschwächt hat. Jede
Oase, vor allem aber jeder Brunnen, bedarf unablässiger Sorge,
sobald diese fehlt, nimmt die Wüste das ihr erst von Menschen
Entrissene zurück. Sobald die Brunnen infolge von Vernach-
lässigung versanden oder verarmen, muß man auch das ange-
baute Land beschränken, vielfach aber sieht man auch Teile der
Oasen, für die noch Wasser vorhanden wäre, vernachlässigt, sie
fallen den Herden und damit der Versandung anheim, die dann
auch von den noch unterhaltenen Teilen immer schwerer fern
zu halten ist. Tatsächlich sind allenthalben die Brunnen ver-
armt, was doch wohl nicht unbedingt auf eine Abnahme der
Niederschläge in den Gegenden zurückzuführen ist, aus welchen
auf undurchlässigen Schichten das Wasser den Oasen in der
Tiefe zugeführt wird. Auch hier würde man gewiß wie in der
algerischen Sahara durch Bohrungen den Wasservorrat bedeutend
vermehren, demnach die Oasen vergrößern können. Man wird
— 329 —
daher, um weiterem Unheil vorzubeugen, in kürzester Zeit Maß-
regeln zum Schutze der Oasen ergreifen müssen, die auch im
Innern, ähnlich wie es bei Gabes geschehen ist, aus Zäunen zur
Förderung der Dünenbildung außerhalb der Oasen aber aus Vor-
richtungen zu bestehen haben würden, welche eine Neubefestigung
des Bodens um die Oasen ermöglichen. Das würde vielleicht
schon erreicht, wenn man durch niedere Gräben und Dämme,
die etwa noch durch Palmenzweige zu verstärken wären, den
Herden die Annäherung an die Oasen bis auf eine gewisse Ent-
fernung unmöglich machte. Es würde sich dann gewiß wieder
Pflanzenwuchs, namentlich Tamarisken und Rtem, entwickeln und
den Boden befestigen. Das meiste wird dabei aber eine gute
Verwaltimg, geordnete Steuererhebung und dergleichen tun, welche
bei den ihrer Anlage nach fleißigen und nach Erwerb streben-
den Oasenbewohnem , die ja meist berberischer Herkunft sind,
einen Lohn ihrer Arbeit in sichere Aussicht stellte.
Die Stadt Gafsa trägt allenthalben Spuren des Verfalls,
wenn auch nicht mehr als andere Ortschaften Tunesiens, in denen,
etwa von Tunis, Sfaks und Susa abgesehen, immer ein Drittel bis
zur Hälfte der Häuser in Ruinen liegt. Doch ist dies eine Er-
scheinung, die Tunesien bekanntlich mit der Türkei gemeinsam
hat. Auch die Gründe derselben sind in beiden Ländern die
gleichen. Hier im Süden trägt auch noch das Material, meist an
der Luft getrocknete Lehmziegel, sehr viel dazu bei, daß dem
so geringen Winterregen nur wenig Widerstand geleistet wird,
so daß Häuser und Mauern schon in wenigen Jahren ein ruinen-
haftes Aussehen erlangen. Ausgiebige Winterregen, die in Mittel-
und Nordtunesien der größte Segen sind, am Nordrande der
Sahara jedoch selten vorkommen, sind für den Oasenbewohner
ein Unglück, denn sie machen die Häuser zerfließen und ver-
setzen ihn in die größte Notlage. So sind von der ehemaligen
dreifachen Lehmmauer, die Gafsa umgab, nur noch dürftige
Bruchstücke vorhanden. Außer der in der Tat, von außen we-
nigstens, malerischen und großartigen Kasbah hat die heutige
Stadt wenig hervorragende Bauwerke, selbst von den Moscheen
haben nur zwei hohe, stattliche Minarets, von der italienischen
Glockentürmen ähnlichen, im Westen üblichen Bauart. Die Be-
wohner verfertigen geschmackvolle, farbenprächtige Freschiahs
(Bettdecken), Haiks und andere Wollenstoff"e, zu denen die Fett-
— 330 —
Schwanzschafe ihre Wolle liefern. Merkwürdigerweise gibt es
auch hier eine sehr starke, etwa ein Fünftel der Bewohnerschaft
ausmachende jüdische Kolonie, deren Lage eine keineswegs un-
günstige ist. Auch gehört Gafsa zu denjenigen ziemlich zahl-
reichen Oasenstädten, die, als eine in mohammedanischen Städten
auffällige Erscheinung, eine zahlreiche, ohne Anstoß in den vielen
Kaffeehäusern an die Öffentlichkeit tretende Halbwelt besitzen,
die freilich nur auf Wüstenkinder Eindruck machen kann. Von
dem von Vergnügungsreisenden vielbesuchten Biskra ist das ja
bekannt, dieselbe Erscheinung kehrt aber auch in Murzuk, Bilma,
Aderer, Air, Agades und anderwärts wieder, Sie ist auch keines-
wegs etwa als eine Eigentümlichkeit der Berbern zu erklären,
wie Maltzan möchte, sie ist allen in ausgedehnten Wüsten
gelegenen Oasen eigen, welche Rastplätze an vielbetretenen Ka-
rawanenstraßen sind. Die ungeheueren Entbehrungen, welchen
die oft jahrelang von ihren Familien getrennten Wüstenreisenden
unterliegen, der große Gewinn, welchen der Karawanenhandel,
wenn Unfälle vermieden werden, meist abwirft, die Abhängigkeit,
in welche viele Oasen in bezug auf ihr Wohlergehen zu den
Karawanen stehen, mußten diese Erscheinung hervorrufen. Die
ganze Bevölkerung einzelner Oasen der Sahara begrüßt die An-
kunft der Karawanen als die Zeit der Ernte und als einzige Ge-
legenheit, mit der übrigen Welt in Verkehr zu treten, mit fest-
lichen Aufzügen und Tänzen. Daß die Franzosen in Gafsa wie
in allen Städten Tunesiens, wo sie sich festgesetzt haben, dazu
noch schleunigst ihre Cafes chantants eingeführt haben, können
wir Deutschen am allerwenigsten bemängeln, da wir uns ja nicht
schämen, diese national-französische Einrichtung selbst bei uns
ein- und von neuen französischen Theaterstücken vorzugsweise
die schlüpfrigsten möglichst rasch aufzuführen.
Die 140 km von Gafsa nach Gabes legte ich auf einer
zweiräderigen Karre, die mir nicht ohne Mühe der Ka'id von
Gafsa mit einem zuverlässigen Führer verschaffte, in zwei Tagen
etwas bequemer zurück, wie auf schlechtem Pferd und Sattel.
Der Weg führt, sobald man die Nachbaroase El Gettar, die gegen
Gafsa einen sehr verfallenen Eindruck macht, hinter sich hat,
stets durch die Wüste, die allenthalben leicht fahrbar ist. Für
die Nacht bot sich der in der Mitte zwischen Gafsa und Gabes
gelegene Brunnen Mehamla als Rastort, wo ich, mit Empfehlungen
— 331 —
des Vorstehers der Sauia von El Gettar ausgerüstet, die, weil von
einem geistlichen Oberhaupte ausgehend, mehr Wirkungen ver-
sprachen als die des Kaids von Gafsa, in einem Zeltlager der
Hammema Unterkunft zu finden hoffte. Seit mehr als zwei Stun-
den war es schon Nacht, als ich mich dem Brunnen näherte
und zu meiner Freude Licht erblickte. Leider rührte dasselbe
von dem Feuer einer kleinen dort ebenfalls ohne Zelte lagernden
Karawane her, ein Zeltlager war nicht in der Nähe. So blieb
mir nichts übrig, als auch im Freien auf meiner Karre zu schlafen,
zufrieden, wenigstens nicht allein die Nacht mitten in der Wüste
verbringen zu müssen. Auch schien es meinem Führer geraten,
schon um a'/g Uhr morgens zugleich mit der Karawane aufzu-
brechen, da ich nur so hoffen durfte, vor Einbruch der Nacht
auf meist durch tiefen Sand und Dünen am Ufer des Schott
Fedschedsch entlang führendem Wege Gabes zu erreichen. Bei
der Annäherung an die Oase wurde ich noch von einem so
furchtbaren Scirokko überfallen, wie ich ihn in Sizilien selbst nie
erlebt habe. Wie aus einem Glühofen sandte mir die Wüste
heiße Windstöße entgegen und so furchtbare Staub- und Sand-
massen wurden aufgewirbelt, daß es unmöglich war, die Augen
zu öffnen. Die Araber, die zu Fuß unterwegs von einer der
drei Ortschaften der Oase zur anderen von dem Sturme über-
fallen wurden, duckten sich, trotz der geringen Entfernung, vom
Winde abgewandt, in ihre Burnusse gehüllt, einfach am Wege
nieder und warteten das Aufhören des Sturmes ab. In einer
halben Stunde war in der Tat auch alles vorüber. Die Oase
Gabes enthält außer mehreren kleineren Dörfern zwei große
Flecken Djara und Menzel, jeder mit etwa 4000 Einwohnern, am
Wed Gabes, einem wasserreichen, nie versiegenden kleinen Flusse
gelegen, welcher die ganze Oase bewässert. Diese ebenfalls zum
großen Teil mit antiken Werkstücken der römischen Takape er-
bauten Flecken, lagen früher in steter Fehde miteinander. Als
dritter, den Namen Gabes sich besonders aneignender Flecken
kommt nun, dicht an der Mündung des Flusses, die Beziehungen
zum Meere unterhaltend, ein rasch emporschießender, europäischer
Ort hinzu, dicht neben dem Hauptlager der Franzosen. Der
ganze Ort besteht bisher nur aus Kneipen, Tingeltangeln, Kaffee-
häusern und Verkaufsbuden. Keins der zwei sogenannten Hotels
besitzt aber Zimmer für Reisende, ich mußte froh sein, daß mir
— 0^2 —
ein Italiener, da ich die Gastfreundschaft des tunesischen Gouver-
neurs nicht in Anspruch nehmen wolUe, seine Küche einräumte,
in welcher ich mein müdes Haupt auf einen Strohsack nieder-
legen konnte. Bedauernswert sind die französischen Offiziere,
welche ihre Pflicht hier länger festhält. Und doch ist Gabes
noch einer der besten Plätze Tunesiens! Es wird unzweifelhaft
seiner ausgezeichneten Lage wegen für den Verkehr nicht nur
mit dem ganzen südtunesischen Dattellande, sondern mit der Sa-
hara und Innerafrika, wie schon einmal im Mittelalter, zu großer
Bedeutung gelangen. Freilich wird die Schwierigkeit des Landens
an der flachen Küste wohl niemals zu beseitigen sein, denn eine
Hafenanlage wird hier wegen der sehr bedeutenden Kosten wohl
einer ferneren Zukunft vorbehalten bleiben. Der Vorgang, daß
sich an die arabische Stadt eine europäische in engstem Zu-
sammenhange mit einer sich aus einem festen Lager entwickeln-
den militärischen ankristallisiert, wie es in Algerien so häufig ge-
schehen ist, wird sich hier jedenfalls rascher vollziehen als in
anderen Orten Tunesiens. Das wird man aber voraussagen
können, daß auch in Tunesien die französische Herrschaft für
sehr lange Zeit eine militärische Gewaltherrschaft sein wird, wie
sie es in Algerien noch heute ist. Riesige, an beherrschenden
Punkten angelegte Kasernen, ganze für sich abgeschlossene
Soldatenstadtteile, wie sie die Römer hier doch nur an wenigen
besonders ausgesetzten Punkten hatten, kennzeichnen die Städte
Algeriens fast ausnahmslos, wie solche die chinesische Herrschaft
in Ostturkestan kennzeichnen. Noch heute stehen sich Franzosen
und Eingeborene wie Öl und Wasser gegenüber, sie berühren
einander, vermischen sich aber nicht. So wird es auch in Tu-
nesien sein. So Großes Frankreich für Algerien getan hat, so
viele Hunderte von Millionen französischen Geldes dort zu Ver-
besserungen jeder Art verwandt worden sind, Anerkennung wird
es dort niemals finden. Der Franzose ist eben, wie ich mich in
Algerien von neuem überzeugen konnte, merkwürdig wenig be-
fähigt, fremde Eigenart, fremdes Volkstum, eine anders geartete
Volksseele zu verstehen und so auf sie einzuwirken. Italiener,
so sehr sie als Verwalter und in anderen Hinsichten hinter den
Franzosen zurückstehen, würden in Algerien mehr erreicht haben
als Franzosen; Italiener würden nach meiner Überzeugung aus
Tunesien in wenigen Jahrzehnten eine neue Provincia Afrika des
— 333 —
neu erstehenden Rom gemacht haben. Vor allem verfügen sie,
ganz abgesehen von manchen Zügen, die wenigstens die Süd-
italiener den sogenannten Arabern Nordafrikas näher bringen,
über eins, was den Franzosen abgeht, über Menschen. So viel
Raum Algerien bietet, so sind die italienischen und spanischen
Einwanderer dort doch sehr ungern gesehen, der Haß gegen
Fremde ist dort mit Furcht gepaart und von Brotneid groß-
gezogen, und ist in Algerien mindestens ebenso groß wie in Frank-
reich. Auch in Tunesien haben die Franzosen sofort mit syste-
matischer Zurückdrängung aller Fremden aus den Ämtern, Handel
und Wandel, ja, aus der wissenschaftlichen Erforschung des
Landes begonnen. Trotz allem muß man jedoch, wenn man sich
auf den rein menschlichen Standpunkt stellt, sagen, daß die
französische Herrschaft in Tunesien für das Land und seine Be-
wohner ein Segen, der Beginn einer neuen, besseren Zeit sein
wird, und daß nur zu wünschen ist, daß die heutige Zwitter-
stellunff bald ein Ende haben wird.
3. Reiseeindrücke aus Marokko im Jahre 1899. 0
Die sich periodisch erneuernden blutigen Aufstände in Ma-
rokko, die Schwierigkeiten, in welche die marokkanische Regie-
rung fast unaufhörlich mit den europäischen Wächten verwickelt
ist, und die das Erscheinen von Kriegsschiffen, nicht gar selten
auch deutschen, vor den wichtigsten Küstenplätzen herbeiführen.
lenken immer wieder die Blicke der gesitteten Völker auf dieses
heute einzigartig in der Welt dastehende Reich. Bei deutschen
Lesern kommt noch hinzu, daß die deutschen Interessen in Ma-
rokko in den letzten fünfzehn Jahren ganz außerordentlich ge-
wachsen sind und wir deshalb wie wegen der sowohl an und
für sich wie mit Rücksicht auf unsere überseeischen Beziehungen
wichtigen Weltstellung dieses Landes allen Anlaß haben, dem-
selben gespannte Aufmerksamkeit zu schenken. Um so mehr,
als Frankreich soeben die marokkanische Frage von der Sahara
aus aufzurollen und ein Umsturz im Innern sich vorzubereiten
scheint.
Marokko ist seit zwanzig Jahren Gegenstand meiner Studien.
I) Deutsche Rundschau 1900.
— 334 —
Im Frühling 1888 habe ich dasselbe zum erstenmal betreten.
Die Forschungspläne, die ich damals im Auge hatte, erwiesen
sich aber als unausführbar. Das Gebirgsland von Nordmarokko,
auf welches es mir ankam, ist noch heute unerforscht und wird
im Angesichte von Europa, in Hörweite der Kanonen von Gibraltar
noch für lange Zeit einer der unbekanntesten Teile, vielleicht
sehr bald der unbekannteste Teil von Afrika sein. Dafür sorgen
die von dem Sultan unabhängigen, freiheitliebenden Gebirgs-
berbern, die, außerordentlich wachsam und argwöhnisch, unfehl-
bar jeden Europäer, in welcher Verkappung immer er bei ihnen
einzudringen suchen sollte, entdecken und umbringen würden.
Im Februar 189g, während meines Aufenthaltes dort, ging in
Tanger das Gerücht um, die Rhiata, einer dieser Stämme, welcher
das Gebirge östlich von Fäs bewohnt und die Heere des Sultans
oft genug blutig heimgeschickt hat, hätten zwei Engländer als
Spione ergriffen, erschossen und ihre Leichen verbrannt. Ob
etwas Wahres daran war, werden auf europäischer Seite wohl
nur wenige Eingeweihte wissen, denn offiziell kann sich auch
England in diesem Falle nicht um seine Sendlinge kümmern.
Daß aber solche, und ähnlich wohl auch französische, abgesehen
von den männlichen und weiblichen Missionaren, die sich nicht
nur in den beiden Hauptstädten, sondern auch bereits in klei-
neren Orten des Inneren niedergelassen haben, das Land er-
forschen, unterliegt keinem Zweifel. Im Gegensatz zu den übrigen
sind auch die Gebirgsberbern des Nordens durch den lebhaften,
von Gibraltar und Spanien aus betriebenen Schmuggel mit vor-
trefflichen Hinterladern bewaffnet und so dem Heere des Sultans
überlegen.
Als es mir endlich im Februar i8gg möglich wurde, meine
marokkanischen Forschungspläne wieder aufzunehmen, hatte ich
sie dahin abgeändert, daß sie nur dem Gebiete zwischen dem
Atlasgebirge und dem Atlantischen Ozeane, dem Atlasvorlande,
galten. Das ist der bei weitem wichtigste Teil des bei uns ge-
wöhnlich als Sultanat Marokko bezeichneten großen Ländergebietes
an der Nordwestecke von Afrika, das Herzland desselben. Tat-
sächlich reicht nämlich die Herrschaft des Sultans nicht viel
weiter als dieses weithin offene Atlasvorland; ja, ich konnte zu
meinem Schaden feststellen, daß selbst da das Ansehen desselben
nicht überall sehr s;roß ist. Man unterscheidet im Lande selbst
— 335 —
auch ganz allgemein das dem Sultan wirklich unterworfene Ge-
biet, das Beled el Makhzen (Land der Kanzlei, Land der Re-
gierung), vom Beled es Ssiba, dem von unabhängigen Stämmen
bewohnten. Und dieses macht wirklich V3, wenn nicht mehr, der
etwa dem lYg fachen des Deutschen Reiches an Ausdehnung
gleichkommenden Ländergruppe aus, die unsere Kinder in der
Schule als Sultanat Marokko auswendig lernen. Der größere Teil
derselben ließe sich am besten unter den neuen Begriff der
Interessensphäre einreihen. Aber selbst diese ruht auf so schwachen
Füßen, daß kein Hahn danach krähen wird, daß die Franzosen
soeben die Oasengruppe von Tidikelt in Besitz genommen haben
und dem die Besetzung der noch weit wichtigeren von Gurara
und Tuat wahrscheinlich sehr rasch werden folgen lassen. Diese
tief in die Sahara vorgeschobenen, aber mit vom Atlas kom-
mendem Wasser gespeisten Oasen waren tatsächlich unabhängig
und benutzten den Sultan von Marokko, der ja für die moham-
medanische Welt der Nordwestecke Afrikas das geistliche Ober-
haupt ist, nur als deckenden Schild.
Mein diesmaliger Aufenthalt in Marokko hat im ganzen vier
Monate umfaßt, von Februar bis Juni. Ich sah mich zuerst
zu einem mehr als zweiwöchigen Aufenthalte in Tanger ge-
zwungen und lernte schon da mich daran gewöhnen, daß in Ma-
rokko Zeit keinen Wert hat. Ich nützte diesen Aufenthalt, soweit
die Zeit nicht von den Reisevorbereitungen in Anspruch genommen
war, gründlich aus zu Ausflügen und kleineren Reisen, um mich
an die Anstrengungen und Entbehrungen zu gewöhnen, die nähere
und weitere Umgebung von Tanger kennen zu lernen und na-
mentlich den Mann zu erproben, den ich als Dolmetscher, Koch,
Diener und Karawanenführer in meinen Dienst genommen hatte.
Also eine sehr wichtige Person. Es war dies ein Araber aus
Algerien, der lange Jahre als Spahi, d. h, in der leichten ein-
gebornen Reiterei der Franzosen, gedient, dabei Französisch ge-
lernt und etwas europäische Kultur angenommen hatte. Er hatte
namentlich im Dienste von Franzosen schon viele Reisen in Ma-
rokko gemacht, freilich stets auf den altbegangenen Wegen, die
ich eben vermeiden wollte. Er hat sich im allgemeinen bewährt
und mich nicht mehr betrogen, als es landesüblich und nament-
Uch durch die zahlreichen Gesandtschaftsreisen sozusagen als
festes Herkommen eingebürgert ist. Durch angemessene, sorg-
— 33^ —
sam vorbedachte Behandlung und dadurch, daß ich seinen Vor-
teil möglichst mit dem meinigen verknüpfte und ihm eine bevor-
zugte Stellung einräumte, habe ich mir vielen Ärger und manche
aufregende Szene, von denen man in den Berichten der Reisenden
sonst liest, erspart. Ich überließ ihm vor allen Dingen die Ver-
antwortung für die Last- und Reittiere und gegenüber meinen
übrigen Leuten und schob ihn gewissermaßen als Puffer zwischen
sie und mich. Dies System hat sich sehr gut bewährt; nur selten
bin ich in die Notwendigkeit versetzt worden, ein kräftiges Wort
zu reden.
Von den kleinen Reisen von Tanger aus möchte ich nur
eine hervorheben, welche als Probe meiner Leistungsfähigkeit
dienen konnte. Es galt einem Ausfluge nach dem 40 km süd-
lich von Tanger gelegenen Küstenstädtchen Azila. Durch Ver-
mittelung unserer Gesandtschaft, die sich auf Empfehlung vom
Auswärtigen Amte in Berlin meiner außerordentlich tatkräftig
angenommen hat und der ich zu großem Danke verpflichtet bin,
nahm ich vertragsmäßig einen von der Regierung gestellten be-
rittenen Schutzsoldaten in meinen Dienst. Mein Führer mietete
für mich und sich selbst Pferde. An Gepäck und Vorräten
wurde nur das Unentbehrlichste mitgenommen, da ich an die
angesehenste jüdische Familie in Azila empfohlen war und so-
wohl den Hin- wie den Rückweg in je einem Tagesritt machen
wollte. Es war Ende Februar, also noch in der Regenzeit.
Heftiger Sturm und Regen, das in dieser Jahreszeit Tanger
kennzeichnende, aber auch unerträglich machende Wetter, herrschte
am Morgen, so daß mein Dolmetscher höchst erstaunt war, als
ich ihm ein für alle Mal erklärte, daß nach dem Wetter nie ge-
fragt werden würde. Wir ritten also ab. Ich wünschte, um eben
das Land kennen zu lernen, den sogenannten inneren Weg zu
nehmen, auf welchem man erst bei Azila selbst das Meer wieder
erreicht. Das erwies sich sehr bald als unmöglich: der schwere
rote Tonboden, welcher hier vorherrscht, war durch die anhal-
tenden Regen unergründlich geworden. Schon einige Tage vorher
hatte ich mich davon überzeugen können: der kleine Esel, den
ich gewöhnlich zur größeren Bequemlichkeit ritt, weil ich meiner
Studien wegen häufig absteigen mußte, versank mit dem Hinter-
viertel derartig im Schlamme, daß ich absteigen und denselben
mit Hilfe des Dolmetschers wieder herausheben mußte. Es blieb
— 337 —
uns nichts übrig als in südwestlicher Richtung so bald wie mög-
lich das Meer zu erreichen, um den von der Brandung fest-
geschlagenen Strand als jederzeit gangbaren Weg zu benutzen.
Dazu waren alle Bäche und Flüsse angeschwollen, und etwa alle
halben Stunden prasselte ein heftiger Regen, zuweilen mit Hagel
abwechselnd auf mich herab. Den Sturm hatte ich stets im
Gesicht, zehn Stunden lang! Denn mehr als fünf Kilometer in der
Stunde war es unmöglich gegen den Sturm und bei der Be-
schaffenheit der Wege zu machen. Gefrühstückt wurde im Sattel.
Es sei gleich hier bemerkt, daß bis heute in ganz Marokko von
einem künstlich gebahnten Wege, geschweige von Fahrstraßen
keine Rede ist. Ebenso sind Brücken so selten, daß die wenigen
aus der guten alten Zeit erhaltenen in einer ganzen Landschaft
El Kantara, die Brücke, heißen.
Bis ans Meer führte der Weg durch die menschenleere,
immergrüne Macchia von Cherf el Akab und el Hawara, die zahl-
reichen Wildschweinen Unterschlupf bietet. Erst wenige Tage
vorher war die alljährlich von den Europäern in Tanger, zu denen
Jagdliebhaber zum Teil von weit her stoßen, abgehaltene Wild-
schweinsjagd beendigt worden. Die ganze Jagdgesellschaft, Damen
und Herren, haust Tage lang unter Zelten, bei schlechtem Wetter
in dieser Jahreszeit nicht angenehm. Man jagt die Wildschweine
zu Pferde mit der Lanze — eine durchaus nicht ungefährliche Jagd.
Am Strande erschwerten nur der Wind und die Mündungen
der Flüsse und Bäche das Vorwärtskommen. Nach fünfeinhalb-
stündigem Ritt erreichte ich den größten dieser Flüsse, den
Mharhar, an der Mündung Tahaddart genannt, der so tief und
wasserreich ist, daß er selbst bei Ebbe mit Hilfe der Barre nicht
durchritten werden kann. Da der Strandweg im Winter allein
die Verbindung zwischen Fäs und Tanger ermögUcht, dieser
Übergang also sehr wichtig ist, so ist hier eine plumpe Barke als
Fährboot aufgestellt. Die Fährleute hatten sich am Südufer in
einer Reisighütte hinter der Düne verkrochen, und es dauerte
lange, bis es gelang, durch Rufen und Schießen ihre Aufmerksam-
keit zu wecken, noch länger, bis sie sich entschlossen, die Fahrt
bei dem herrschenden Unwetter zu wagen. Endlich sah ich, wie
sie einige beladene Esel einer Handelskarawane, die im Gebüsch
versteckt gewesen war, herbeiführten, mit ihren Lasten ins Boot
beförderten und abstießen. Man sah, daß sie schwer gegen
Fischer, Mittelmeerbilder. 22
— 338 -
Sturm und Wellen ankämpften. Mitten im Strome, der zurzeit
hier etwa so breit war wie die Elbe bei Dresden, verloren sie
plötzlich den Mut; sie kehrten um, luden Esel und Ladungen
wieder aus und verschwanden!
Meine Lage war nicht angenehm. Fast zwei Stunden schon
war ich auf der kahlen Düne schutzlos dem Sturm und Regen
ausgesetzt. Das Thermometer zeigte nur 12^^ C. Es schienen
also nur zwei Möglichkeiten gegeben: entweder mit müden Tieren,
wenn auch mit dem Winde, nach Tanger zurück oder ohne Zelt
oder irgendwelchen Schutz und Vorräte im Gebüsch die Nacht
verbringen. Ich versuchte es noch mit einem dritten: meine
Leute mußten ihre Stimmen aufs äußerste anstrengen, Drohungen
und Verwünschungen wurden nicht gespart, mein Soldat schwang
drohend sein Gewehr. Das wirkte endlich. Die Fährleute kamen
wieder aus ihrer Hütte hervor, machten das Boot flott, diesmal
ohne Ladung, und arbeiteten sich durch den Wogenschwall hin-
durch. Fünf Meter vom Ufer saß das hochbordige Boot fest.
Nachdem Gepäck und Sättel ins Boot gebracht waren, galt es,
die Tiere einzuschiffen. Welche Arbeit! Das Pferd des Sol-
daten, von dem man annahm, daß es schon Erfahrungen ge-
sammelt habe, mußte den Anfang machen. Es wurde ins Wasser
geführt und mehr oder weniger höflich eingeladen, ins Boot zu
springen. Es weigerte sich aber ganz entschieden, diesem An-
sinnen Folge zu leisten. So wurde nun ein Strick an das eine
Vorderbein gebunden und dieses von zwei Mann so über die
Bordwand gehoben. Durch reichliche Prügel zwang man es dann,
auch mit dem anderen Vorderfuß auf das Boot zu springen, und
durch Schieben und Prügel wurde es schließlich zum entscheiden-
den Sprunge auch mit dem Hinterteile gezwungen. Die anderen
beiden Pferde ließen sich durch dies Beispiel nicht belehren; es
mußte mit jedem genau das gleiche Verfahren eingehalten werden.
Zuletzt stieg ich auf den Rücken eines der Fährleute und wurde
so ins Boot befördert. Das Ausschiff"en ging etwas leichter von
statten. Ich hatte von Glück zu sagen; denn nicht selten kommt
es vor, daß die Fährleute, denen ihr Leben mehr wert ist, für
kein Geld die Überfahrt wagen. Mein Dolmetscher erzählte mir,
daß er einmal mit englischen Reisenden infolgedessen im Gebüsch
die Nacht schutzlos habe verbringen müssen.
In der beschriebenen Weise habe ich später mit meiner
— 339 —
ganzen Karawane den Übergang über den Um-er-Rbia an der
Meschera bu Challü, über den Bu Regreg bei Sal6 und über den
Sebu bei Meschera Bab el Ksiri bewerkstelligt. Das sind auch
die einzigen Punkte in ganz Marokko, wo Fährboote aufgestellt
sind, denn die wenigen Brücken finden sich nur bei kleineren,
fast immer furtbaren Flüssen.
Der Übergang über den Tahaddart hatte so viel Zeit er-
fordert, daß es nun scharf zu reiten galt, um vor Torschluß
Azila zu erreichen; ja, ich mußte den Soldaten vorausschicken,
um das Tor offen zu halten. Denn in ganz Marokko werden
mit Sonnenuntergang nicht nur die Stadttore, sondern auch die
Tore, welche im Inneren die einzelnen Stadtviertel voneinander
trennen, geschlossen. Das würde etwaige Abendgesellschaften
selbstverständlich unmöglich machen, hat eben auch den Zweck,
nächtliche Zusammenkünfte, Verschwörungen und Aufstände zu
erschweren. Während meines erzwungenen siebzehntägigen Aufent-
haltes in Marrakesch ist mir dieser frühe Torschluß überaus
hinderlich gewesen. Wie oft mußte ich nach größeren Ausflügen
bei der Unkenntnis der Entfernungen in gestrecktem Galopp
zurückreiten, um noch in die Stadt zu gelangen!
Noch zwei Flüsse galt es vor Azila auf der Barre zu durch-
reiten, den Wed el Rha dicht vor Azila und den stark an-
geschwollenen Wed Aischa weiter nördlich. Um die Schwierig-
keiten, welchen der Verkehr in diesem Lande unterliegt, noch
weiter zu kennzeichnen, möchte ich erwähnen, daß in eben dieser
Gegend zwischen dem Wed Aischa und dem Wed Karrub,
einem linken Zuflüsse des Mharhar, die ich beide Ende Mai auf
demselben Wege ohne alle Hindernisse durchritten habe, die
deutsche Gesandschaft unter Graf Tattenbach, die im April 1890
auf dem Wege nach Fäs war, sechs Tage lang, wie mir ein
Teilnehmer erzählte, auf dem Plateau von Gharbia zwischen den
angeschwollenen Flüssen gefangen war. Es regnete unablässig,
das Lager verwandelte sich in einen Sumpf, die Lebensmittel
begannen auszugehen! Endlich ließ der Regen nach und die
Flüsse wurden gangbar. Wenn dergleichen einer wohl aus-
gerüsteten und von den höchsten örtlichen Beamten des Sultans
geleiteten Gesandtschaftskarawane geschehen kann, so wird man
sich eine Vorstellung machen können, welchen Schwierigkeiten
der gewöhnliche W^egeverkehr unterliegt.
— 340 —
Ich gelangte glücklich nach Azila hinein und fand bei dem
jungen jüdischen Ehepaare, das das beste Haus von Azila be-
wohnte, die denkbar liebenswürdigste Aufnahme. Spanisch, das
mein Gastfreund und ich in gleichmäßig bescheidener Weise
handhabten, ermöglichte die Verständigung. Der junge Mann
stammte aus Azila, das eine starke jüdische Bevölkerung hat, war
aber sehr jung nach Brasilien ausgewandert, wie sehr viele ma-
rokkanische Juden, wohl wegen ihrer alten Beziehungen zu Por-
tugal — die in der brasilianischen Einwandererstatistik so auffallende
marokkanische Einwanderung setzt sich lediglich aus Juden zu-
sammen — war dort in Parä Artillerieoffizier gewesen und nun,
offenbar mit einem gewissen Vermögen, wieder heimgekehrt. Er
hatte Grundbesitz erworben bzw. von seinem alten Vater, den ich
auch kennen lernte, und der Azila nie verlassen hatte, über-
nommen und trieb daneben Ausfuhr von Vieh, Fellen u. dgl.
Ich benutzte den folgenden Tag, um die Stadt und auf längeren
Ritten die Umgebung kennen zu lernen.
Azila ist ein unsäglich armseliges, verkommenes Nest von
kaum looo Einwohnern. Von außen sieht es, namentlich von
fern, recht stattlich aus, denn die hohen, von den Portugiesen
errichteten Mauern und Türme, durch die nur zwei Tore, eines
an der See- und eines an der Landseite, führen, sind leidlich
erhalten. Einige hohe Dattelpalmen, eine weithin leuchtende
weiße Kubba, von einer Gruppe hochstämmiger Zwergpalmen
umgeben, die in Nordmarokko nicht selten sind, schaffen nament-
lich an der Nordseite eine außerordentlich malerische Szenerie.
Aber im Innern welch ein Gewirr enger, von Schmutz, Unrat und
Haufen kostbaren Düngers, den man in den Gärten so gut
brauchen könnte, gefüllter Straßen mit niedrigen, armseligen, bau-
fälligen Häusern, überall Zeichen der Verarmung! Azila, an
deren Stelle schon eine phönikische und römische Siedelung
Zilis • — der Name ist wohl ursprünglich berberisch — gestanden
hat, verdankt seine Bedeutung dem Umstände, daß hier von
Tanger südwärts zum ersten Male eine etwa 15 m hohe Fels-
tafel jungtertiärer Schichten, wegen größerer Widerstandsfähigkeit
von der Brandungswelle zu einem stumpfen Vorgebirge heraus
präpariert, unmittelbar gegen das Meer vorspringt. Eine Klippen-
reihe, gegen welche das Meer mächtig brandet, weist, in geringem
Abstände der Küste vorgelagert, an einer Stelle eine Durchfahrt
— 341 —
auf und schafft so eine kleinen Fahrzeugen zugängliche, wenn
auch wenig geräumige Hafenbucht, die einzige zwischen Tanger
und Larasch. Dies und die fruchtbare, jetzt freilich als öde
Zwergpalmensteppe daliegende Umgebung machte Azila lange
Zeit zu einem der wichtigsten Stützpunkte der Portugiesen in
Marokko. Als Festung, als welche es noch heute gilt, konnte
es allerdings nie zu rechter Blüte gelangen und dadurch, daß es
dem Fremdhandel verschlossen, ist sein Schicksal besiegelt. Drei
kleine Fischerboote, die einzigen auf der 75 km langen Küsten-
strecke zwischen Tanger und Larasch, unterhalten heute die Be-
ziehungen zum Meere! Etwas Ackerbau, etwas Viehzucht, ein
wenig Handel und Weberei grober Teppiche und Wollenstoife
ernährt die Bewohner.
Das Haus meines Gastfreundes zeigte echt arabische Bauart,
ganz ähnlich demjenigen, welches mir später in Marrakesch von
einem deutschen Schutzbefohlenen zur Verfügung gestellt wurde.
Ist man durch die sich nur auf Klopfen öffnende Türe ein-
getreten, so befindet man sich in einem engen Gange, welcher in
geringer Entfernung von der Türe im rechten Winkel gebrochen
ist. Hier befinden sich Sitze für die Türhüter und Diener. Dieser
Gang öffnet sich auch noch nicht geradeaus, sondern nach einer
Seite auf den inneren, viereckigen Hof. In meinem Hause in
Marrakesch, das ganz neu gebaut war, konnte dieser Gang vom
Hofe aus durch zwei Schießscharten unter Feuer genommen
werden: wie eine Festung mitten in der 80000 Einwohner zählen-
den Hauptstadt! Man kann von der Straße, nach welcher auch
außer der Türe keine andere Öffnung angebracht ist, nicht in
das Haus hineinsehen und nur schwer in dasselbe eindringen.
Am Ende des Ganges oder auch vom Hofe führt eine durch
eine Tür verschließbare, enge, steile Treppe, wiederum im rechten
Winkel gebrochen, in das obere, den Frauen vorbehaltene Stock-
werk. Inmitten des zementierten Hofes sammelt sich das Regen-
wasser in einer Zisterne, bzw. wird es in dem wasserreichen
Marrakesch, wo jedes Haus in der Ecke des Hofes einen Brunnen
besitzt, in die Abzugskanäle geführt. Alle Räume des Hauses
öffnen sich nach diesem Hofe, unten durch breite, hohe Türen,
oben durch Fenster oder in offenen Terrassen. Hier zeigt
sich denn auch in der Ausschmückung der Räume, namentlich
durch bunte Arabesken und architektonische Verzierungen, Holz-
— 342 —
täfelungen u. dergl., noch etwas Luxus. Vornehmere Häuser, wie
ich solche in Fäs sah, sind sogar noch sehr reich ausgestattet,
wenn auch nur ärmlich gegen früher. Alles Leben ist so nach
innen gekehrt. Nach der kahlen, oft baufällig erscheinenden
Außenseite der Häuser kann man nicht auf das Innere schließen;
der furchtbare Despotismus zwingt jeden Schein von Wohlstand
zu vermeiden.
Der Einblick, welchen ich bei meinem Gastfreunde in das
P'amilienleben dieses jungen, allerdings ,, europäisch" beeinflußten
Haushalts erlangte, war nicht uninteressant. Das Eltempaar be-
saß drei kleine Mädchen, die alle in Brasilien geboren waren.
Trotz der ziemlich kühlen Witterung liefen sie bloßfüßig und in
sehr leichter, etwas schmutziger Gewandung herum, zeigten sich
aber als recht wohlerzogen. Die junge Hausfrau kochte und
bediente den Gast und den Gatten beim Essen selbst, obwohl
eine junge schieläugige, und eine alte, korpulente Dienerin, über-
dies ein Araber als männliches Faktotum vorhanden waren, der
die Rolle zu spielen schien wie bei uns ein Dienstmädchen,
andererseits aber zu Fuß, „als Läufer", seinen Herrn auf Aus-
flügen, das Gewehr tragend, nach Landessitte begleitete. Nur
mit Mühe und auf die liebenswürdigste Aufforderung hin gelang
es mir, die Hausfrau zu bewegen, sich für kurze Zeit mit an
den Tisch zu setzen. Die Speisen waren alle sauber und gut
zubereitet, bestanden freilich, da Fleisch in dem armen Orte
selten zu haben ist, nur aus .Geflügel und Fisch. Aber recht
bezeichnend wurde alles in unglaublicher Fülle aufgetragen, und
eine Mahlzeit reihte sich an die andere.
Es lohnt vielleicht, im unmittelbaren Anschluß daran ein
Gastmahl zu schildern, welches mir ein deutscher Schutzbefohlener
in dem 22 km südwestlich von Marrakesch gegen den Fuß des
Atlas hin gelegenen Oasenstädtchen Tameslocht gab. Zum Ver-
ständnis sei schon hier erwähnt, daß in Marokko nur derjenige
seines Lebens und Eigentums sicher ist, dem es gelingt, sich den
Schutz einer europäischen Macht zu erwerben. Nachdem lange Zeit
mit dieser Schutzverleihung unerhörter Mißbrauch getrieben worden
war, indem die Konsuln einzelner Mächte, namentlich solcher, die
ganz und gar keine wirklichen Interessen in Marokko haben und
auch gar nicht in der Lage sein würden, wirklichen Schutz zu ge-
währen, diesen Schutz jedem, der zahlen konnte, darunter recht vielen
— 343 —
unlauteren Elementen, verliehen, ist das \"erhältnis unter Beseitigung
der schreiendsten Mißbräuche vertragsmäßig mehr oder weniger ein-
heitlich dahin geregelt, daß jedes in Marokko ansässige europäische
Handelshaus das Recht hat, eine gewisse Anzahl (bei den deut-
schen vier) Eingeborener als Semsare, gewissermaßen als Ver-
mittler des Handels, Einkäufer u. dgl. als Vertrauenspersonen
anzunehmen und unter den Schutz seines Staates zu stellen. Es
erwachsen dem Betreffenden natürlich daraus große Vorteile, aber
das Verhältnis ist kein lebenslängliches, der Schutz kann wieder
entzogen werden. Der Schutzbefohlene steht in einer gewissen
Abhängigkeit von der Schutzmacht und dem betreffenden Handels-
hause. Das erklärt, daß die Schutzbefohlenen , wie ich dankbar
anerkenne, gern bereit sind, jeden Angehörigen der Schutzmacht,
namentlich wenn derselbe, wie in meinem Falle, nachdrücklich
empfohlen ist, in jeder Weise zu fördern. Dadurch, daß nun
deutsche Handelshäuser Niederlassungen auch in Marrakesch —
meines Wissens 189g die einzigen europäischen — und in Fäs
gegründet haben, gibt es auch so tief im Innern deutsche
Schutzbefohlene und deutsche Interessen, Viel ausgedehnter
und der Zahl nach nicht begrenzt ist aber das Schutzverhältnis
niedrigeren Grades, das der sogenannten Mochallads. Dies hat
sich dadurch ausgebildet, daß außer in und um Tanger Eu-
ropäer kein Grundeigentum erwerben dürfen, auch eine der Maß-
regeln, durch welche die marokkanische Regierung europäische
Einflüsse fernzuhalten bemüht ist. Diese Bestimmung wird um-
gangen dadurch, daß der Mochallad der Scheineigentümer von
Grundstücken, Herden u. dgl. des Europäers ist und von diesem
demnach einen gewissen Schutz genießt. Jedes Handelshaus darf
jährlich fünf neue Mochallads bei der Gesandtschaft zur Auf-
nahme vorsclilagen, so daß die Zahl derselben und damit natür-
lich auch die Schwierigkeiten für die marokkanische Regierung
beständig wachsen. Wenn z. B. — und ich habe einen be-
stimmten Fall im Auge — der Kaid, der Provinzgouverneur, die
Summen, die er, sei es als regelrechte Steuern aufbringen muß,
sei es um sich zu bereichern oder durch Bestechung in seiner
Stellung zu behaupten, nötig hat, sich in der landesüblichen
Weise verschafft, indem er irgend einem Untertanen die Herde
wegnimmt, um sie zu verkaufen, so erklärt der Betreffende, wenn
er Mochallad ist, die Herde sei Eigentum des oder des Europäers,
— 344 —
der natürlich auch seinerseits mit Nachdruck auftritt: der Kaid
muß seine Beute fahren lassen.
Um der mir persönlich vorgetragenen Einladung des er-
wähnten deutschen Schutzbefohlenen zu entsprechen, ritt ich denn
eines Morgens in Begleitung des jungen deutschen Kaufmanns,
der als einziger Deutscher neben vielleicht noch acht bis neun
anderen Europäern in Marrakesch wohnt, aus dem Südwesttore,
dem Bab Roab. Mein Schutzsoldat und der Diener meines Be-
gleiters durften zum Ausdruck der Würde des Europäers nicht
fehlen. Der Weg durch die steinige, tischgleiche Steppe, die
sich an der Südwestseite unmittelbar vor den Toren ausbreitet,
und über die nur einzelne, aus Olivenhainen und Dattelpalmen
gebildete Berieselungsanlagen verstreut sind, wurde selbstverständ-
lich in beiden Richtungen mit Uhr und Kompaß sorgsam auf-
genommen und hat für den Geographen viel Anziehendes. Tames-
locht selbst, von welchem ich einige wohlgelungene photographische
Aufnahmen gemacht habe, ist ein verhältnismäßig sauberes Städt-
chen mit einer schönen Moschee und einigen ansehnlichen euro-
päischen Schutzbefohlenen gehörigen Häusern. Es verdankt sein
Dasein der Fülle von Wasser, welches der in geringer Entfernung
aus dem Atlas hervorbrechende Tensiftzufluß Rherhaya zu Be-
rieselungszwecken spendet. Die Bevölkerung, die berberischen
Ursprungs ist, ließ keine Spur von Fremdenhaß erkennen, so
selten der Ort auch von Europäern besucht wird.
Wir wurden von unserem Gastfreunde am Tore empfangen
und in sein Haus geleitet; hier, in einem äußeren, in der Mitte
mit einer kleinen Gartenanlage gezierten Hofe, auf welchen die
zum Empfang von Männern bestimmten Räume münden, wurden
uns zunächst zur Erfrischung nach dem fast dreistündigen, heißen
Ritte der landesübliche, durch grüne Pfefferminzblätter gewürzte
Tee und von den selbstverständlich unsichtbar bleibenden Frauen
fein hergestellte Honigkuchen aus Weizenmehl dargeboten. Den
Tee bereitete der Hausherr selbst über einem hübschen, kupfer-
nen Kohlenbecken in einem schön geformten kupfernen Kessel,
die beide in Mogador in altüberlieferter Form hergestellt werden.
Den Tee, möglichst heiß und überaus süß — der Zuckerverbrauch
ist in Marokko ein relativ großer, die Einfuhr, meist aus Frank-
reich, bedeutend — trinkt man aus kleinen, bunten Mokkatassen
europäischen Ursprungs, jede verschieden von der anderen. Zu-
— 345 —
gleich wurde ein flacher Korb mit Datteln, Feigen und Walnüssen
(ans dem Atlas) herumgereicht. Der Tee spielt in Marokko
genau die Rolle des Kaffees in der Türkei; er wird überall so-
fort vorgesetzt, und man hat im Lauf des Tages Gelegenheit,
ungezählte Täßchen zu trinken. Tee ist auch auf der ganzen
Reise fast mein einziges Getränk gewesen, da ich alkoholische
Getränke grundsätzlich vermied, und das Wasser fast überall so
schlecht ist, daß ich es ebenfalls grundsätzlich niemals unfiltriert
und ungekocht getrunken habe, selbst wenn mir die Zunge am
Gaumen klebte. Im schlimmsten Falle band ich mir ein feuchtes
Tuch vor den Mund. Freilich nützte das nicht sehr viel, denn
die Lufttrockenheit war schon im Mai so groß, daß es meist in
einer halben Stunde wieder völlig trocken war. Der Pfingst-
sonntag wird mir unvergeßlich sein. An diesem Tage war ich
zwischen Fäs und Tanger in der Umgebung des Serhungebirges
infolge der mangelnden Ortskenntnis meines Führers zehneinhalb
Stunden im Sattel, ohne etwas zu essen und zu trinken, außer
ein wenig saurer Milch, die ich in einem Nomadenlager erlangte,
bei 38,5° C im Schatten! Um sechs Uhr abends erreichte ich
endlich meine Karawane und konnte mich an mehreren Litern
Tee erquicken. Dann war ich aber wieder so frisch, daß ich
noch einundeinhalbe Stunde in der Abendkühle zu Fuß gehen
konnte, um die mit den Kameleu vorausgeschickten und inzwischen
schon aufgeschlagenen Zelte zu erreichen.
Nachdem wir uns so in dem kühlen, nur mit Polstern und
Matratzen ausgestatteten Räume, der zugleich als Schlafzimmer
für Gäste diente, erfrischt und ausgeruht hatten, folgte ein Spazier-
gang, der zu verschiedenen photographischen Aufnahmen benutzt
ward und in einem Garten unseres Gastfreundes endigte. Dort
waren bereits im Schatten blühender Apfelsinen- und anderer
südlicher Fruchtbäume mitten im üppigen Grün Teppiche und
Polster gelegt, auf denen wir zwei Europäer uns ausstreckten,
während der Hausherr das nun beginnende Mahl wiederum mit
Bereitung und Darreichung von Tee begann. Dann wurde von
einem Negersklaven, wüe sie in Marokko außerordentlich zahlreich
sind, Wasch wasser aus kupferner Kanne über unsere Hände ge-
schüttet, während der Hausherr selbst die Gäste ehrte, indem er
eigenhändig aus schöngeformtem silbernen Gefäß, das in eine
offene Spitze auslief, uns Kopf und Schulter reichlich mit Rosen-
— 346 —
Wasser besprengte. Diese Ehrung wiederholte sich während der
langen Dauer des Mahles abwechselnd mit Durchräucherung mit
duftigem Sandelholz, das in einem silbernen Gefäße mit durch-
brochenem Deckel entzündet war. Dieser letzte Genuß wurde
auch meinem Soldaten und Diener gegönnt. Auch für Tafel-
musik war gesorgt. Drei alte Männer mit grauem Bart und Haar
bildeten die Hauskapelle. Als Instrument zur Begleitung ihres
Gesanges diente ihnen die Taricha, ein bunt bemalter Ton-
zylinder, der an der einen etwas breiteren Öffnung mit einem
Stück Schaf- oder Ziegenfell überspannt, an der anderen offen,
in der Mitte etwas zusammengedrückt ist. Indem man mit der
flachen Hand auf das überzogene Ende schlägt, erzeugt man
trommelähnliche Töne. Der eine der drei alten Barden begleitete
lediglich durch Händeklatschen. Der Inhalt der Gesänge entzieht
sich leider meiner Kenntnis; er war aber derartig, daß die Ge-
sichter der greisen Sänger, namentlich des einen, vor Begeisterung
strahlten. Selbstverständlich belohnten wir die Sänger und die
Dienerschaft reichlich.
Vielleicht wünscht der Leser auch die Speisenfolge kennen
zu lernen? Als erster Gang erschien in einer großen Schüssel
mit konischem Deckel Taschin, ein Gericht, das aus großen
Brocken gedünsteten Hammelfleisches besteht, das mit Oliven
und Limonenschnitten in einer stark gepfefferten Öltunke liegt.
Der Hausherr reichte dazu mit der Hand abgerissene Stücke
frischen Brotes, wie es allgemein in Marokko in flachen, etwa
25 cm im Durchmesser haltenden Laiben gebacken wird. Es
ist frisch ganz gut, hält sich aber nur wenige Tage. Ich hatte
dies Gericht schon vor dreizehn Jahren in Südtunesien kennen
gelernt, wo mir ein Schech des halbnomadischen arabisierten
Berberstammes der Freschisch in seinem Zelte ein Gastmahl gab.
Es sagt dem europäischen Gaumen, weil zu fett und zu stark
gewürzt, nicht recht zu. Als zweiter Gang erschien eine mäch-
tige Schüssel Kuskussu, das nordafrikanisch-arabische National-
gericht, wieder mit Hammelfleisch. Mit frischer Butter zubereitet,
wie hier, ist es ein wundervolles Gericht; leider aber wird es in
Marokko, wo man nur ranzig gewordene Butter gut tindet, meist
mit solcher bereitet und ist dann für Europäer ungenießbar. Wie
oft habe ich meine Gastfreunde kränken müssen, indem ich es
ablehnte, den vorgesetzten Kuskussu zu essen. Aber wichtiger
— 347 —
als die Gesetze der Höflichkeit ist auf einer solchen Reise pein-
lichstes Fernhalten aller gesundheitsstörenden Einflüsse. Kuskussu
wird aus jeder Sorte Mehl, am besten natürlich aus Weizenmehl
hergestellt, das, ein wenig angefeuchtet, von den Frauen mit der
Hand zu griesähnlichen Kömchen gerollt wird und dann, an der
Sonne getrocknet, lange haltbar ist. Um daraus das Gericht
herzustellen, wird dieser Grundstoff in besonderen eisernen oder
irdenen Töpfen mit Butter gedämpft und dann, nicht selten mit
einem Saffranüberguß , mit Stücken von Hammel- oder Hühner-
fleisch überdeckt, aufgetragen. SelbstverständUch ißt man mit
den Fingern, und es gehört eine gewisse Fertigkeit dazu, den
Kuskussu zu Kugeln zu ballen. Da diese dem Europäer abgeht,
so erfordert es die arabische Höflichkeit, daß der Gastgeber dies
tut und dem Gast die Kugeln in den Mund schiebt. Mit Staunen
habe ich gesehen, welche unglaubliche Mengen Kuskussu der
Marokkaner verzehren kann. Ich hatte namentlich unter meinen
Leuten einen Neger, der, wenn mir, wie es oft geschah, eine
reichliche Muna (Gastgeschenk) geboten wurde, eine Leistungs-
fähigkeit im Essen besaß, die über das Menschliche hinausging.
Immerhin hatte er sich zweimal krank gegessen und konnte der
Karawane nicht folgen. Da seine sonstigen Leistungen diesen
nicht entfernt gleich kamen, so war ich schnöde genug, ihn, als
ich in Casablanca den Ozean wieder erreichte, unter Abzug einer
Tageslöhnung zu entlassen.
Als weiterer Gang kamen wieder Datteln, Feigen, Walnüsse
und Apfelsinen, die zu pflücken man nur den Arm auszustrecken
brauchte. Den letzten Gang bildete ein ganzes Viertel eines
Hammels, außerordentlich saftig und wohlschmeckend, über off"e-
nem Feuer am Spieß gebraten. Der Hausherr riß mit der Hand
die saftigsten Stücke, namentlich knusperig gebratene Fetteile, ab
und reichte sie den Gästen. So wohlschmeckende Braten ver-
mögen allerdings nur die von den aromatischen Pflanzen der
Mittelmeerflora genährten Hammel zu bieten.
Als Getränk beim Mahle diente in großen, tiefen Schalen
herumgereichte süße und saure Milch. Einer der Tischgenossen
nach dem anderen, von mir angefangen, trank in langen Zügen
und reichte die Schale dem Nachbar.
Jedes Gericht ging von uns, den zwei Europäern und dem
Hausherrn, an die ,, Marschallstafel" , welche mein Soldat, der
- 348 -
Diener und die drei Musikanten bildeten, von dieser an die
weiter abseits sitzende Dienerschaft des Hauses. Das Mahl hatte
auf meinen Soldaten einen so überwältigenden Eindruck gemacht,
daß meine übrigen, in Marrakesch zurückgelassenen Leute, den
Dolmetscher eingeschlossen, von Schmerz erfüllt waren, nicht dabei
gewesen zu sein. Händewaschen deutete den Schluß des Mahles
an. Nachmals Tee.
Ins Haus unseres Gastfreucdes zurückgekehrt, wurden uns
sehr verlockend aussehende gebratene junge Hühner zum Ab-
schiedsimbiß geboten. Als wir die gänzliche Unfähigkeit zu wei-
teren kulinarischen Genüssen darlegten, ließ der Hausherr frische
Brote kommen, die er geschickt aufschnitt und je eins als Hülle
eines Huhnes verwendete, so daß sie unsere Diener als Weg-
zehrung mitnehmen konnten. Zum Glück hatten wir einen scharfen
Ritt vor uns, um Marrakesch vor Torschluß zu erreichen. So
blieb das Gastmahl von Tameslocht ohne üble Folgen.
Doch begeben wir uns wieder nach Azila. Im Laufe der
zwei Tage waren die Flüsse noch mehr angeschwollen, die Wege
noch grundloser geworden. Ein Araber, der am Tage vor meiner
Rückkehr nach Tanger auf dem kürzesten Landwege auf gutem
Pferde von dort gekommen war, hatte zwölf Stunden gebraucht.
So schlug ich denn den einzig möglichen, wenn auch sehr viel
längeren Weg längs des Meeres bis zum Kap Spartel ein und
benutzte von da die Straße, welche die internationale Leucht-
turmkommission angelegt hat. Sie führt von diesem Kap mit
dem einzigen, von jener Kommission erbauten und unterhaltenen
Leuchtturm in ganz Marokko nach Tanger über die Höhe des
Djebel. Alle Karawanen von Fäs nach Tanger mußten in dieser
Zeit diesen Umweg machen trotz der Kosten, welche das Über-
setzen über den Tahaddart verursacht. Mein Gastfreund geleitete
mich zu Pferde noch bis an die Mündung des Wed Aischa
und ließ durch seinen Diener untersuchen, ob die Barre über-
haupt gangbar war. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte
ich einfach wie Graf Tattenbach warten müssen, bis sich das
Wasser verlaufen hatte.
Endlich waren alle Vorbereitungen beendet, ich schiffte mich
in Tanger auf einem kleinen französischen Handelsdampfer ein
und erreichte auf ungewöhnlich günstiger Fahrt am fünften Tage
— 349 —
Mogador, den südlichsten dem auswärtigen Handel geöffneten
Küstenplatz von Marokko. Das Einschiffen auf der Reede von
Tanger war sehr schwierig, denn es tobte ein heftiger Oststurm.
Tanger ist wegen seiner im Vergleich zu Gibraltar ungeschützten
Lage an der Meerenge ein arges Windnest, was im Sommer
allerdings angenehm ist. Durch die Meerenge nämlich und durch
den schmalen Westzipfel des Mittelmeeres, der im Norden wie
im Süden von hohen Gebirgen begrenzt wird, vollzieht sich der
Luftdruckausgleich zwischen dem namentlich im Winter große
Gegensätze der Erwärmung und des Luftdrucks gegenüber den
gleichen Breiten des Ozeans aufweisenden Mittelmeere und dem
Ozean. Die Meerenge wird dadurch zu einem der greulichsten
Zuglöcher der Erde. Bald bläst es aus Westen, bald aus Osten.
Wenig südlich von Kap Spartel trat herrliches Wetter ein,
so daß mein Dampfer alle Küstenplätze anlaufen konnte, und es
mir sogar möglich war, überall zu landen, eine seltene Gunst an
dieser gefürchteten, beständig von heftiger Brandung bestürmten
Küste. Kaum war ich in Mogador gelandet, als der Sturm
wieder losbrach, und mein Dampfer schleunigst das hohe Meer
gewinnen mußte, um nicht an die Küste geworfen zu werden.
In Mogador rüstete ich meine Karawane aus, da inzwischen
auch mehi großes Gepäck dort eingetroffen war. Dank der
überaus liebenswürdigen und tatkräftigen Llilfe unseres dortigen
Konsuls, Herrn von Maur, eines ausgezeichnete^ Kenners von
Land und Leuten, war das in vier Tagen möglich. Es galt,
Maultiere und Pferde zu kaufen, was sich empfiehlt, um von den
Vermietern unabhängig zu sein, ferner Leute anzuwerben, vor
allem einen Soldaten, der vertragsmäßig jeden Reisenden be-
gleiten muß, zum Ausdruck, daß derselbe mit Erlaubnis und
unter dem Schutze der Regierung reist. Die Menschenkenntnis
unseres Konsuls verschaffte mir einen relativ so tüchtigen Sol-
daten, daß ich denselben auf der ganzen Reise behalten und
erst in Tanger entlassen habe. Dann galt es auch, die drei von
der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, der ich für Förderung
meiner Reise zu großem Danke verpflichtet bin, mir geliehenen
Zelte der Landesnatur anzupassen. Sie hatten Dr. von Drygalski
in Grönland gedient! Mit Rücksicht auf die heftigen Wirbel-
stürme, die schon im Frühling im Innern gelegentlich auftreten,
und die mein Dolmetscher schon hinreichend kennen gelernt hatte,
— 350 —
mußten die Stricke verstärkt und die Zeltpflöcke sorgsam herge-
richtet werden. Zu letzteren wählte ich, des Felsbodens wegen,
das festeste Holz, das im Lande vorkommt, das wirklich eisen-
feste Holz von Argania sideroxylon, einem ölhaltige Früchte tra-
genden Baume, der auf der ganzen Erde nur in Südwestraarokko
vorkommt, allerdings — wie ich nachgewiesen habe — viel weiter
nach Norden, als man bisher annahm, nämlich noch nördlich vom
Um-er-Rbia, dem Strome Mittelmarokkos, Recht bezeichnend
war es, daß ich, um die Zeltpflöcke rechtzeitig zu bekommen,
einfach meinen Soldaten in die Werkstätte des Schreiners stellen
mußte mit dem Befehl, denselben keine andere Arbeit anrühren
zu lassen, bis die Zeltpflöcke fertig gehauen waren. Könnte man
doch bei den Handwerkern unserer Kleinstädte so verfahren!
Am Morgen des Palmsonntags, den 26. März, ritt ich aus
dem Tore von Mogador gegen Nordnordosten, um den Tensift,
den Hauptfluß von Südmarokko, zu erreichen. Das nächste Ziel
war das Tal von A'in el Hadschar, an der Südostseite des schmalen,
nahe der Küste steil aufsteigenden Dschebel Hadid (Eisengebirge).
Ich legte diese Strecke in Gesellschaft der Familie und des
ganzen Haushalts unseres Konsuls zurück, der, wie alljährlich im
Frühling und im Herbst an diesem lieblichen Fleckchen Erde
ein paar Wochen verbringt. Zuweilen schließen sich auch andere
Familien an. Mogador ist ein weißer Steinhaufen, sozusagen auf
einer Insel , an der Landseite von einem breiten Gürtel vege-
tationsloser hoher Dünen umgeben, ohne alles Grün. Ohne eine
solche Abwechselung, zumal auch gesellige Zerstreuungen bei der
geringen Zahl der Europäer kaum geboten werden, würde das
Leben dort unerträglich sein. Der sinnige Deutsche flüchtet
sich da in die Natur. Eine herrliche Quelle, die unter Felsen
hervorbricht, daher Ain el Hadschar, die Steinquelle, genannt, schafft
hier, 25 km von Mogador, nur etwa 10 km vom Meere, aber
durch einen mit Buschwald bedeckten Bergrücken davon ge-
trennt, eine Gartenoase, die freilich heute verwildert daliegt. Im
Tale selbst findet sich keine Siedelung, nur eine malerische
Kubba; auf den umgebenden Höhen aber erblickt man zahlreiche
kleine Berberndörfer. Ich schlug meine Zelte neben denjenigen
unseres Konsuls auf und genoß ein paar Tage die Gastfreund-
schaft dieser lieben Menschen. Die Umgebung, die landschaft-
lich, geographisch und geologisch äußerst anziehend ist, zeigt
— 351 —
allenthalben die Spuren eines uralten, wohl auf die Karthager
zurückgehenden Eisenbergbaus. A'in el Hadschar ist wie ge-
schaffen, um einmal ein klimatischer Winterkurort ersten Ranges
zu werden.
Am 30. März brach ich von Ain el Hadschar auf und erreichte
in starkem Tagemarsche den Tensift bei Sidi A'issa el Bochabia,
wo derselbe aus engem Felsentore, etwa 18 km vom Meere, in
die kleine Küstenebene El Amr eintritt. Hier lag die Grenze
des wissenschaftlich Unbekannten. Das untere, vielgewundene,
felsige, daher wenig wegsame Tensifttal war bisher so gut wie
unbetreten. Das bestimmte mich, den Versuch zu machen, dem-
selben zu folgen und den Lauf des Flusses zu erforschen und
aufzunehmen. Es gelang allerdings nur, indem ich mich andert-
halb Tage von meiner Karawane, die gebahnte Wege nördlich
vom Flusse einschlug, trennte und nur von meinem Soldaten und
einem Ortseingeborenen als Führer und Furtsucher begleitet, vor-
drang. Ich mußte den Fluß bis Marrakesch nicht weniger als
siebzehnmal durchreiten, was nur bei dem ungewöhnlich niedrigen
Wasserstande möglich war. Die Trennung von meiner Karawane
und dem Dolmetscher, der eben zugleich Karawanenführer war,
hatte für die Erforschung, abgesehen von anderen Unbequemlich-
keiten, den Übelstand, daß ich, zu Sprachlosigkeit verurteilt,
keine Erkundigungen einziehen konnte. Der Fluß durchströmt
zum Teil ein furchtbar ödes Steppenland.
Am 4. April traf ich in Marrakesch ein und fand, wie
schon erwähnt, dank der werktätigen Hilfe des dort wohnenden
jungen deutschen Kaufmanns Heinrich Marx, Vertreter des glei-
chen Hauses in Mogador, Unterkunft in dem mir zur Verfügung
gestellten Hause eines deutschen Schutzbefohlenen. Das liebens-
würdige Entgegenkommen seitens der Herren Marx und aller in
Marokko lebenden Deutschen wird mir immer in dankbarer Er-
innerung bleiben. Hier bewährte sich mein Spahi vorzugsweise
als Koch, denn ich mußte, ganz wie draußen in der Steppe,
eigenen Haushalt führen. Da der Geleitsbrief des Sultans, in
dessen Residenz ich mich jetzt befand, noch immer nicht aus-
gefertigt war, obwohl er schon im Februar, sofort nach meiner
Ankunft von selten der Gesandschaft beantragt worden, so ver-
längerte sich mein Aufenthalt in Marrakesch auf siebzehn Tage;
denn da wenig sichere Gegenden vor mir lagen, so konnte ich
— 352 —
ohne einen solchen Geleitsbrief nicht weiter. Ich nutzte diese
Zeit gründlich zur Erforschung der näheren und weiteren Um-
gebung von Marrakesch aus. Hier, nach zwei Monaten, stieß nun
endlich auch mein von vornherein in Aussicht genommener Be-
gleiter, der österreichische Hauptmann E. Wimmer, ein naher
Verwandter, zu mir. Er war im Augenblicke der Abreise von
Wien erkrankt, hat mich aber in der zweiten Hälfte der Reise
in überaus dankenswerter Weise bei meinen vielseitigen Arbeiten
unterstützt. Zugleich mit ihm kam ein bekannter deutscher Welt-
reisender an, Herr Graf Joachim Pfeil, um mit uns für die näch-
sten drei Wochen Freude und Leid zu teilen. Beide Herren
hatten den viel begangenen Weg von Mogador her benutzt.
Der wissenschaftlich wichtigste, schwierigste und anstrengendste
Teil der Reise folgte nun. Am 21, April, als endlich der Sultans-
brief in meine Hand gelangt war, brachen wir von Marrakesch
auf. Zunächst ging es nach Osten durch die Hochebene immer
näher ans Gebirge und schließlich in eines der Atlastäler hinein
bis Demnat, Hier fand ich eine ausgesucht unhöfliche Aufnahme
seitens des Stellvertreters (Khalifa) des Gouverneurs, der selbst
noch in Marrakesch war, das einzige Mal auf der ganzen Reise
— soweit Beamte des Sultans in Frage kamen. Denn Aus-
spucken, Flüche und Verwünschungen der Bevölkerung habe ich
oft genossen. Das hat mir aber keinen Kummer gemacht. Auch
das ließ sich ertragen, daß man gelegentlich alle Lebensmittel
verweigerte, da ich schon einmal mit Konserven auskommen
konnte. Schlimmer war es, wenn mir Milch verweigert wurde,
auf die ich großes Gewicht legte. Im Winter und im Frühling,
wenn die Steppe überall grün ist und Futter reichlich vorhanden,
ist auch fast überall Milch zu erhalten. Einmal, allerdings in
der Nähe einer Sauia (etwa eines Klosters), die immer Sitze des
mohammedanischen Fanatismus sind, verhöhnte man mich noch,
indem man Kuhherden mit strotzenden Eutern an meinem Lager
vorbeitrieb.
Als ich in Demnat einritt, erwartete ich vergebens, daß mir
der Khalifa oder wenigstens ein von ihm Beauftragter entgegen-
komme, um mich zu begrüßen und den Lagerplatz anzuweisen,
obwohl ich einen Reiter vorausgeschickt hatte, um mich anzu-
melden. Ich ritt durch die Stadt bis vor die Kasbah, keine
amtliche Persönlichkeit ließ sich seilen, trotzdem uns Hunderte
— 353 —
von Menschen umdrängten. Da riß mir die Geduld, und ich
ergriff, wie ich wußte, das einzig wirksame Mittel: ich gab mit
dem nötigen Minenspiel, das alle verstanden, meiner Empörung
über diese Art, einen Europäer, einen Deutschen, zu empfangen,
der mit einem Geleitsbriefe und als Gast des Sultans reise,
kräftigen Ausdruck ; ich erklärte, solch ein Empfang sei mir noch
nirgends zuteil geworden, und ich würde darüber sofort an den
Sultan berichten. Mein Dolmetscher mußte dies der lauschenden
Menge übersetzen und ich glaube, er hat es in nicht mißzuver-
stehenden Ausdrücken getan, denn er wußte wohl noch besser
als ich, daß es schlimm um uns stehen werde, werm es nicht
gelänge, den Leuten zu imponieren. Darauf gab ich Befehl, die
ganze Karawane solle umkehren und das Lager auf einem freien
Platze aufgeschlagen werden, den ich innerhalb der Stadtmauern,
nahe dem Tore, beim Einreiten gesehen hatte. So geschah es.
Noch waren meine Leute nicht mit dem Aufschlagen der Zelte
fertig, da zeigte sich die Wirkung: der Khalifa mit Gefolge er-
schien, um sich zu entschuldigen und uns einzuladen, in der
Kasbah abzusteigen. Ich wies ihn zurück und verharrte dabei,
ich würde dem Sultan berichten. Nicht lange dauerte es, da
kam eine Schar von Dienern und brachte eine reiche Muna
(Gastgeschenk), wie sie allerdings die Gouverneure denen zu
liefern verpflichtet sind, die mit einem Geleitsbriefe des Sultans
reisen: einen Hammel, ein halb Dutzend Hühner, einen Korb
mit Eiern, ein halb Dutzend (kleiner) Zuckerhüte, einige Packete
Kerzen und reichlich Gerste für die Tiere, Ich wies alles mit
Stolz und Verachtung zurück, wobei ich freilich Mühe hatte, mir
das Lachen über die Komödie zu verbeißen. Erst auf dringendes
Bitten meiner Leute, denen der etwaige Verlust der schönen
Sachen doch nahe ging, ließ ich mich herab, sie anzunehmen
und schließlich dem Khalifa auf nochmaliges Bitten zu erklären,
daß ich versöhnt sei und keinen Bericht an den Sultan machen
werde. Ein derartiges Auftreten war unerläßlich, denn der Ma-
rokkaner erkennt nur in dem den Herrn, der auch als solcher
auftritt. Ich wäre auch meinen Leuten gegenüber, auf die ich,
wenigstens noch für den vor mir liegenden neuntägigen an-
strengenden Marsch durch zum großen Teil unbekanntes Gebiet
angewiesen war, verloren gewesen, wenn ich mir diese umziem-
liche Behandlung hätte gefallen lassen.
Fischer, Mittelmeerbilder. 23
— 354 —
Zum Teil erklärte sich allerdings das Benehmen des Khalifa.
Der arme Mann hatte den Kopf verloren und war selbst in einer
sehr gefährlichen Lage. Schon am frühen Morgen, beim Auf-
bruch aus der Kasbah von Tifsist, wo wir die letzte Nacht ver-
bracht hatten, kam die Nachricht, zwanzig Insassen des Gefäng-
nisses von Demnat seien ausgebrochen. Auch bei uns wäre das
keine der Bevölkerung und der verantwortlichen Behörde ange-
nehm klingende Nachricht. Nun vollends in Marokko ! Wie ein
Gefängnis in Marokko beschaffen, ist ja oft geschildert worden,
niemals übertrieben, so haarsträubend uns auch diese Schilde-
rungen erscheinen mögen. Dem entspricht die Stimmung der
Gefangenen. Diese sind entweder tatsächlich der Abschaum der
Bevölkerung, Räuber und Mörder, oder ganz unschuldige, biedere
Leute, die nur das Unglück haben, dem örtlichen Machthaber zu
mißfallen oder im Verdachte stehen, Geld zu besitzen. Daß
Leute bloß zu Erpressungszwecken ins Gefängnis geschickt werden,
ist eine alltägliche Erscheinung, selbst in Tanger unter den Augen
der europäischen Vertreter soll dies vorkommen. Die Furcht
des Khalifa war also eine doppelte und wohlbegründete, einmal
vor den ausgebrochenen Verbrechern, andererseits vor seinem
Kaid, der ihn dafür zur Verantwortung ziehen würde. Aber auch
die Bevölkerung selbst war in Furcht und Aufregung, namentlich
die zahlreiche Judenschaft, die dort in sehr gedrückter Lage ist
und bei jedem Aufstande zuerst geplündert wird. In der Tat
ertönte die ganze Nacht hindurch Geschrei und fielen Schüsse,
so daß von Nachtruhe kaum die Rede war. Man sagte mir, es
seien die Juden, die auf diese Weise ihre Wachsamkeit be-
kundeten. Meine Lagerwache war in dieser Nacht auch beson-
ders stark.
Auf der ganzen Reise nämlich wurde jede Nacht eine Wache,
je nachdem zwei bis sechs Mann, um die Zelte aufgestellt, ganz
abgesehen davon, daß wir mit Revolvern, zum Teil auch mit
Gewehren bewaffnet waren, und daß ich stets den schon er-
wähnten Soldaten bei mir hatte. Auf dessen Ansuchen mußten
die Bewohner des Dorfes oder Zeltlagers, bei welchem ich näch-
tigte, die Wachen stellen. Ich entschädigte dieselben in der
Regel durch ein kleines Geldgeschenk , wie ich auch stets den
Leuten, welche die Muna brachten, den Wert derselben an-
nähernd ersetzte, obwohl ich wußte, daß die armen Bauern, denen
— 355 —
man einfach wegnimmt, was als Muna geboten werden soll, und
meist das Doppelte und Dreifache, nichts davon erhielten. Um
Wachen zu erlangen, andererseits auch der Sicherheit im allge-
meinen wegen, die nachts eine sehr geringe ist, mußte ich daher
stets entweder inmitten eines Zeltlagers das meine aufschlagen
oder, was noch schlimmer war, in einer Kasbah übernachten.
Da galt es lange Gespräche mit dem Gastgeber zu führen, wäh-
rend ich die kostbare Zeit zur Ergänzung und Lesbarmachung
der im Laufe des Tages im Sattel gemachten Notizen brauchte.
Ja, es kam wohl vor, daß eigens mir zu Ehren Sänger die halbe
Nacht sangen. Dazu der Lärm der Esel, die einer nach dem
anderen ihre Stimme erhoben, das Bellen der zahlreichen bissigen
Hunde, das Krähen der Hähne, das Geschwätz und Singen der
Wachen, die sich so munter erhielten, und schließlich die Über-
fülle von Ungeziefer! Wie glücklich war ich, wenn ich einmal
außerhalb eines bewohnten Ortes, mitten in der freien Steppe
mein Lager aufschlagen konnte. Ohne Wache bin ich nur
einmal gewesen. Es war am Ufer des Sebu, den ich nach einem
heißen, anstrengenden Marsche an der Meschera Bab el Ksiri
überschritten hatte. Das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel
sollte nur anderthalb Reitstunden entfernt sein. Aber ich miß-
traute nach vielfachen Erfahrungen dieser Angabe und ließ un-
mittelbar am Flusse, weit ab von jedem bewohnten Orte, Halt
machen. Mein Soldat und der Dolmetscher mußten in der Nacht
wachen, da in dieser Gegend nur Versuche, unsere Tiere zu
stehlen, zu befürchten waren. Die Futterfrage war leicht gelöst:
ein Feld mit reifer Gerste, dicht neben dem Lager, nährte Ka-
mele, Pferde und Maultiere.
Von Demnat ging der Marsch in zunächst nördlicher Rich-
tung durch die subatlantische Hochebene an den Um-er-Rbia,
den wir an der Meschera bu Challü überschritten ; dann am
rechten Ufer des Stromes, dessen Lauf dort noch ganz unbekannt
war, durch die öde Steppe der Beni Meskin nach Nordwesten
und schließlich, als es nicht mehr möglich war, dem Strome, der
dort in eine wilde Felslandschaft eintritt, zu folgen, in ziemlich
nördlicher Richtung über die fruchtbare Hochebene von Schauia
an die Küste, die wir bei Casablanca erreichten. Auf diesem
Marsche wurde also das Atlasvorland in seiner größten Breite
gequert. Das hat, wie die zusammenfassende Darstellung der
23*
— 356 —
wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise zeigen wird, unsere Vor-
stellungen über die wichtigsten geographischen Verhältnisse des
Landes vielfach berichtigt und geklärt.
Auch die weitere Reise, von Casablanca zunächst in zwei-
tägigem Marsch an der Küste entlang nach Rabat, von da
wiederum in östlicher Richtung ins Innere nach Meknäs und Fäs,
der nördlichen Hauptstadt, und von da auf oft begangenen
Wegen nach Tanger war an Ergebnissen reich.
Wenn ich zum Schluß die über Marokko im ganzen emp-
fangenen Eindrücke in einige Sätze zusammenfassen darf, so kann
ich nur sagen, daß dasselbe als ein von der Natur reich ausge-
stattetes, nach Lage und Weltstellung außerordentHch bevorzugtes
Land erscheint, das aber durch eine grauenvolle Willkürherrschaft
verödet und entvölkert ist. Kein Mensch ist seines Lebens und
Eigentums sicher. Der Dorfschech schindet seine Bauern, um
sich zu bereichern; hat er sich vollgesogen, so fällt er dem Kaid
zum Opfer, der seinerseits über kurz oder lang, wenn ein anderer
für seine Stelle mehr bietet oder die freiwilligen Geschenke, die
er dem Sultan und seiner Umgebung alljährlich bringen muß,
nicht groß genug erscheinen, unter irgend einem Vorwande an
den Hof befohlen, seiner Schätze beraubt wird und im Kerker
verschwindet. Die Sultane ihrerseits endigen meist durch Gift.
Nur derjenige, der gar nichts hat, ist einigermaßen sicher. Jedes
Streben nach Erwerb wird durch dies System erstickt. Kunst
und Handwerk, von deren Blüte in früheren Jahrhunderten man
noch hie und da Spuren sieht, sind in den tiefsten Verfall ge-
raten. Einem geschickten Handwerker wird seine Geschicklich-
keit zum Fluch: er muß gegen schlechten Lohn für den Kaid
oder den Sultan arbeiten. Alte Familien mit ererbtem Reichtum
gibt es kaum noch. Jeder sucht zu verstecken, was er besitzt;
der Reiche vergräbt sein Geld, der Bauer verbirgt seine Getreide-
vorräte und was er sonst an wertvoller Habe besitzt, in Mata-
moren, unterirdischen Behältern, die er in dunklen Nächten her-
stellt, und deren Spuren er so sorgsam verwischt, daß kein an-
derer sie auffinden kann. Aufstände der gequälten, bis aufs
Mark ausgesogenen Bewohner der einzelnen Provinzen gegen
ihren Gouverneur oder den Sultan sind an der Tagesordnung.
Um sie zu verhindern, wird geflissentlich der Haß und die Eifer-
sucht von Stamm zu Stamm, von Provinz zu Provinz genährt und
— 357 —
gelegentlich eine Provinz der anderen zum „Aufessen", wie der
Kunstausdruck lautet, überlassen. Grauenvolle Szenen sind mir
von einem zuverlässigen Gewährsmanne aus dem Aufstande der
südöstlich von Rabat im Innern wohnenden Berbernstämme im
Jahre 1897 berichtet worden. Der Sultan selbst zog gegen sie
zu Felde. Anfangs wurde zur Anfeuerung der Soldaten für jeden
eingelieferten Kopf eines Aufständigen i Duro (5 Francs) gezahlt.
Als aber zu viele Köpfe eingingen — die Soldaten zogen es
natürhch vor, friedlichen Kameltreibern und ähnlichen Leuten die
Köpfe abzuschneiden — , setzte man den Preis herab und zahlte
schließlich gar nichts mehr. Das hatte aber zur Folge, daß sofort
Massendesertionen im Heere eintraten, da die Soldaten mit etwa
40 Pfennigen, die sie täglich als Sold erhielten, um so weniger
leben konnten, als bald Hungersnot im Lager ausbrach, da es
niemand der Unsicherheit wegen wagte, Getreide aus den Küsten-
plätzen, wo reiche Vorräte vorhanden waren, ins Innere zu
bringen. Die Tausende von Gefangenen, die man gemacht hatte,
wurden zu Hunderten, jeder mit einem Ringe um den Hals, an
Ketten zusammengeschlossen. Fast ohne Nahrung ließ man sie
im Freien — es war im Winter, wo in dieser Gegend Nacht-
fröste vorkommen — in einem Sumpfe liegen, so daß täglich,
wenn sie sich am Morgen erheben durften, fünfundzwanzig bis
dreißig Tote zwischen den Lebenden hingen. Die Gefangenen,
die nach Marrakesch und nach Mogador in das große, als Ge-
fängnis dienende Mauerviereck auf der vor der Stadt liegenden
Insel gebracht wurden, starben bei solcher Behandlung zu Tau-
senden. Im Marrakesch ließ man einmal vier Tage lang die
Toten unter den Lebenden liegen.
Wenn sich diese Szenen unter den Augen des Herrschers
und des Großveziers vollzogen, so möge noch ein anderes Bild
das väterliche Walten eines Provinzgouverneurs veranschaulichen.
Diese Tatsachen reichen allerdings ins Jahr 1871 zurück, sind
aber heute noch gerade so mögUch. Gewährsmann ist der be-
rühmte englische Botaniker Sir Joseph Hooker, der 1872 das
fragliche Gebiet bereiste. Einer der furchtbarsten Blutsauger
war der Kaid von Haha, einer Landschaft südwestlich von Mo-
gador. Da er aber einen großen Teil seiner Erpressungen an
den Sultan ablieferte, konnte er sich lange behaupten. Sich
stetig erneuernde Aufstände wurden mit unerhörter Grausamkeit
- 358 -
unterdrückt. Einmal wurden Hunderte von Aufständischen mit
dem sogenannten „Lederhandschuh" bestraft. Schon das Vor-
handensein eines solchen Kunstausdrucks ist bezeichnend. Es
wird dabei dem beklagenswerten Opfer die eine Hand mit einer
Kette auf dem Rücken befestigt, in die andere gibt man ein
Stück ungelöschten Kalk, schließt sie, umwickelt sie fest mit
einem Stück rohen Leders und taucht sie in Wasser. Nach neun
Tagen wird die gefesselte Hand frei gegeben. Ist inzwischen
noch nicht der Brand eingetreten, und befreit der Tod nicht
den Unglücklichen von seinen Qualen, so ist er für sein Leben
ein Krüppel. Endlich, 1871, zwang ein Aufstand den zugleich
in eine Fehde mit dem Kaid der Nachbarprovinz Mtuga ver-
wickelten Biedermann zur Flucht. Aber mit Hilfe des Kaids der
anderen Nachbarprovinz Schedma gelang es ihm, nicht nur sich
selbst und seinen Harem, sondern auch seine Schätze, einund-
zwanzig Maultierladungen, in Sicherheit zu bringen. Er kam
glücklich nach Marrakesch, opferte dem Sultan die Hälfte seines
Blutgeldes und verbrachte den Rest seiner Tage in Frieden.
Bei der Erstürmung seiner Kasbah fand man zwei eingemauerte
Skelette, in denen man die Reste zweier Neffen des Scheusals
erkannte, die vor einigen Jahren spurlos verschwunden waren.
Neben der Beute, welche die Aufständischen machten, befanden
sich auch große Vorräte von Butter und Honig, die zu ver-
schmausen sie sich sofort angelegen sein ließen. Bald zeigten
sich die Folgen: in Voraussicht dessen, was kommen werde,
hatte der fürsorgliche Herrscher vor Antritt der Flucht noch Zeit
gefunden, diese Vorräte zu vergiften!
Durch und durch verfault und verrottet, wie er ist, würde
dieser Staat, dessen Zustände eine Schmach für das christliche
Europa sind, dem ersten Stoß von außen erliegen. Daß ein sol-
cher nicht erfolgt, dafür sorgt die Eifersucht der Mächte.
4. Marokko. Eine länderkundliche Skizze.')
Auch bei uns in Deutschland verbindet der allgemein Ge-
bildete mit dem Worte Marokko einen ganz vagen Begriff eines
l) Im Jahre 1903 in der Geogi-aphischen Zeitschrilt 9. Jahrg. 2. Heft
im Verlage von B. G. Teubner, 1905 in englischer Übersetzung im Report
des Smithonian Institution in Washington erschienen.
— 359 —
Staatengebildes an der Nordwestecke Afrikas. Aber selbst unter
Fachgenossen dürfte keine volle Klarheit darüber herrschen, daß
wir unter dem Namen Marokko eine ganze Gruppe von Ländern
und Landschaften zusammenfassen, die nur durch religiöse Be-
ziehungen ganz lose geeint sind, von denen aber nur ein Bruch-
teil und in unablässig wechselnden Grenzen eine Art staatlichen
Verbandes, dank dem Vorhandensein einer beherrschenden Land-
schaft, dem Atlasvorlande, bilden. Darin kommt schon unsere
geringe Kenntnis dieses Teiles von Afrika zum Ausdruck. Staats-
gewalt und Bewohner sind, wenn auch aus verschiedenen Grün-
den, in der möglichsten Fernhaltung der Europäer von jeher
einig gewesen.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist es gelungen, auch
diesen letzten Teil des dunkeln Erdteils wenigstens in den großen
Zügen aufzuhellen, wobei politische Bestrebungen eine große Rolle
gespielt haben. Dem entspricht es, daß französische Forscher,
fast ausnahmslos aktive oder inaktive Offiziere, in dieser Hinsicht
das größte Verdienst haben. Was der Vicomte de Foucauld
und der Marquis de Segonzac hier geleistet haben, gehört zu
den höchsten Forscherleistungen auf afrikanischem Boden. Viel
wertvolles, namentlich kartographisches Material, das französische
Offiziere, besonders der Mission militaire, auf ihren Reisen durch
das Land gesammelt haben, dürfte noch in den Mappen des
französischen Kriegsministeriums schlummern. Von anderen mögen
nur die Engländer Hooker, Maw, Ball, Harris, die Deutschen
v. Fritsch und Rein genannt werden. Ich selbst schenke Ma-
rokko seit Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit und habe das
Land 18^8, 1899 und 1901 zu Forschungszwecken bereist.
Eine irgendwie wissenschaftlich-geographischen Anforderungen
genügende Darstellung ist nicht vorhanden. Die beste Karte ist
die von R. de Flotte Roquevaire in i : 1 000000, der eine
sichere Unterlage in dem mit ungewöhnlichem Fleiße und Scharf-
sinn geschaffenen Werke von P. Schnell^) und der von ihm
entworfenen Karte in i : i 750000 gegeben war.
Die Grenzen von „Marokko" sind nach Südosten ganz un-
bestimmt, dem entsprechend auch die Größe. Nach einer rohen
i) Das marokkanische Atlasgebirge. Ergänzungsheft Nr. 103 zu Pet.
Mitt. Gotha, J. Perthes 1892.
— 36o —
Schätzung schreibe ich dieser Ländergruppe einen Flächeninhalt
von 600000 qkm zu. Tuat schließe ich dabei natürlich aus,
Tafilalet, das ganze Draagebiet, die Landschaft Tekna und die
Gebiete südwärts bis zur Sakiet-el-Hamra dagegen ein. Denn
tatsächlich übt der Sultan heute einen gewissen Einfluß bis süd-
lich vom Kap Juby aus, seit er die dort gegründete englische
Handelsniederlassung für schweres Geld angekauft, mit einer Be-
satzung von etwa 60 Mann belegt und den wirklichen Herrn des
Landes, den Scheik El Maleynin, durch alljährlich sich erneuernde
Geschenke veranlaßt hat, sich äußerlich seiner Oberhoheit zu unter-
stellen. Bezüglich der Bevölkerung begnüge ich mich zunächst mit
der Bemerkung, daß dieselbe etwa 8 Millionen betragen mag.
Wir sehen also hier ein Ländergebiet vor uns, dem schon
nach Größe und Bevölkerung eine große Wichtigkeit innewohnt.
Gesteigert wird dieselbe aber noch durch Lage und Weltstellung,
wie durch die außerordentlichen inneren Hilfsquellen. Marokko
ist das bei weitem wichtigste der drei Atlasländer. Durch seine
Ecklage vermag es sowohl zum Mittelmeere wie zum Ozeane
Beziehungen zu unterhalten und vor allem an der Beherrschung
der Straße von Gibraltar, der wichtigsten Straße des Weltverkehrs,
teilzunehmen. Mehrere seiner ohne großen Kosten zu vortrefflichen
Häfen auszubauenden Seeplätze am Ozean können zu Stützpunkten
des Weltverkehrs nach Westafrika wie nach Süd- und Mittelamerika,
ja selbst ins Mittelmeer werden. Larasch liegt zur Straße von
Gibraltar genau so günstig wie Cadiz. Andererseits ermöglichen
Oasen und Brunnen so lebhaften Verkehr durch die große Wüste
mit dem Nigergebiet, daß stets, bis auf die allerneueste Zeit, wo
die Franzosen diese Wege unterbunden haben, Erzeugnisse des
Sudan in Menge nach Marokko und über Marokko abgeflossen
sind, als Sklaven eingeführte Neger einen bedeutenden Prozent-
satz der Bevölkerung von Marokko ausmachen und Timbuktu ein
Jahrhundert hindurch dem Sultan von Marokko gehorchte. Er-
klärten doch noch 1887 die Bewohner von Timbuktu, freilich
nur um sich der Franzosen zu erwehren, dem Schiff"sleutnant
Caron, daß sie von Marokko abhängig seien. Seine inneren
Hilfsquellen nach Klima, Boden und Erzvorkommen können nicht
leicht überschätzt werden. Die Küstenprovinzen am Ozean ge-
hören dank ihrer Schwarzerdedecke zu den reichsten Ackerbau-
gebieten der Erde.
— 301 —
Die großen Züge der wagrechten und senkrechten Gliede-
rung, die Bedingungen, die hier eine Ländergruppe von einer
gewissen, wenn auch losen Zusammengehörigkeit geschaffen haben,
entwickelungsgeschichtlich herzuleiten, ist jetzt noch nicht mög-
lich. Immerhin unterliegt keinem Zweifel, daß wir ein Stück des
großen eurasischen Faltensystems vor uns haben, dessen eines
südwestlich streichendes Faltenbündel, der marokkanische Atlas,
am Kap Ghir an einem Querbruche endigt, während das andere,
das Rifgebirge, als Fortsetzung des Tellatlas von Algerien nach
Norden umbiegend ebenfalls an einem Querbruche endigt, bzw.
vom andalusischen Faltensysteme getrennt wird, der durch noch
heute fortschreitende Meereserosion zur Straße von Gibraltar aus-
gearbeitet worden ist. Das Rifgebirge ist ein ganz junges
Faltengebirge und wesentlich wie der Tellatlas Algeriens in der
Eozän- und Miozänzeit, ja, nach dem andalusischen Faltensystem
zu schließen, bis in die Pliozänzeit emporgefaltet und vermutlich
vorwiegend aus Jura und Kreide, gegen die Meerenge hin aus
älteren Schichten aufgebaut. In mehreren Parallelketten steil vom
Mittelmeere, der Abbruchsseite, mit Gipfeln von mehr als 2000 m
Höhe aufsteigend, bildet das Rifgebirge mit seinen engen Durch-
bruchstälern ein abgeschlossenes, schwer zugängliches Gebirgs-
land, das zu allen Zeiten seinen berberischen Bewohnern es er-
möglicht hat, sich vom Joche fremder Eroberer frei zu halten.
Marquis de Segonzac ist überhaupt der erste Forscher gewesen,
der es zu durchqueren vermocht hat, aber auch nur die mittleren
und östlichen Gegenden, nicht die westlichsten, das Gebiet der
Djebala. Eine echte Längs- und Abschließungsküste hat die an
kleinen meist halbkreisförmigen Buchten, Erzeugnisse der Bran-
dungswoge, kleinen felsigen Inseln und Schlupfwinkeln reiche Rif-
küste bei ihrer Lage an der größten Welthandelsstraße bis in
die Gegenwart die Rolle einer Seeräuberküste gespielt, den spa-
nischen Presidios zum Hohn. Diese aus einer besseren Ver-
gangenheit noch festgehaltenen Festungen liegen teils auf Insel-
felsen dicht an der Küste (Penon de Velez de la Gomera, Pehon
de Alhucemas, Las Zafarinas) oder auf felsigen, natürlich festen
Vorgebirgen (Genta und Melilla). Die spanischen Besatzungen
werden aber hinter ihren Mauern und Blockhäusern von den
Eingeborenen dauernd in Belagerungszustand gehalten und müssen
nicht nur mit Lebensmitteln, sondern z. T. selbst mit Trinkwasser von
— 3^2 —
Spanien aus versehen werden. Nach innen ist die Grenze des Rif-
gebiets gegen den Atlas in einer hydrographisch gut ausgeprägten
Hohlform gegeben, welcher von dem neuerdings viel genannten,
strategisch äußerst wichtigen, daher Fum el R'arb (Tor des Westens)
genannten Thasa nach Westen hin der Innauen, ein rechter
Nebenfluß des Sebu, des Hauptflusses von Nordmarokko, nach
Osten zur Muluja der kleinere Msun folgt, dann die windungs-
reiche Muluja selbst und ihr rechter Nebenfluß Wed-el-Kseb bis
nahe an die Grenzstadt Udjda. Diese auf der Wasserscheide
zwischen Ozean und Mittelmeer wohl noch nicht looo m Meeres-
höhe erreichende Tiefen- und geologische Grenzlinie ist als ur-
alter Verkehrsweg von größter Bedeutung. Er knüpft die atlan-
tische Abdachung der Atlasländer, Maghreb-el-Aksa, den äußersten
Westen der Eingeborenen, an das mediterrane Gebiet und hält
noch heute das Mulujagebiet , für Marokko eine ausgeprägte
Sonderlandschaft, ein Stück des inneren Steppengürtels von Al-
gerien bzw. Oran, bei Marokko fest. Seit langem ist es das
Streben der Franzosen, durch eine Eisenbahn, deren Verlauf in
dieser Tiefenlinie vorgezeichnet ist, Fäs, die nördliche Hauptstadt
von Marokko, mit Tlemcen und damit Marokko wie mit einer
eisernen Klammer mit Algerien zu verbinden. Wenn es erlaubt
ist. Kleines mit Großem zu vergleichen, so erinnert diese Tiefen-
linie an die Arlberglinie, durch welche das schwäbische Vorarl-
berg an das bayerische Tirol und Österreich geknüpft wurde.
Westlich von Fäs öffnet sich diese Tiefenlinie zur miozänen Tief-
landsbucht des unteren Sebu, das genaue Gegenstück der Gua-
dalquivirbucht drüben in Spanien an der Außenseite des anda-
lusischen Faltengebirges. Larasch am Nord- oder Rabat-Sla am
Südrande dieser Bucht oder noch besser Mehedia an der Mün-
dung des Stromes selbst würde so das ozeanische Ende der
großen von der Natur scharf vorgezeichneten inneratlantischen
Verkehrslinie sein, an deren mediterranem Ende Tunis liegt.
Längs dieser Tiefenlinie, bald näher an Thasa, bald näher an
Fäs bewegt sich bis jetzt der Aufstand, dessen Träger die
nördlich und südlich anwohnenden Berberstämme der Hiaina und
Rhiata zu sein scheinen.
Nach Westen hin sind die Landschaften Djebala und And-
jera, nördlich von der Tieflandsbucht des Sebu, letztere die
nördlichste von Marokko, deren Hauptort die Meerengenstadt
- 363 -
Tanger ist, das Aus- und Eingangstor von Marokko von Europa
aus, vom Rifgebirge erfüllt, das hier seine Austönungsseite in
flach gelagerten, kleine, von Abdachungsflüssen ausgesonderte
Hochflächen bildenden Tertiärschichten dem Ozean zukehrt.
Über die Geschichte des marokkanischen Atlas und
seine Beziehungen zum algerischen Saharaatlas sind wir noch
wenig aufgeklärt. Von letzterem wissen wir, daß seine Richtung
S\V — NO ist, daß seine Hauptfaltung in die Eozän- und Miozän-
zeit fällt, daß er im wesentlichen aus drei auch orographisch gut
gesonderten großen Faltenbündeln besteht, deren einzelne meist
nur schwach gefaltete Falten von der südwestlichen mehr zu
meridionaler Richtung abweichen, so daß, da namentlich auch
seit Eintritt einer trockenen Zeit die ungeheuren Schuttmassen
nicht von rinnendem Wasser davongeführt werden konnten, der
Gebirgscharakter meist nur wenig ausgeprägt ist. Aufgebaut ist
er vorwiegend aus Kalksteinen, Sandsteinen, hier und da auch
Mergeln der Jura- und Kreideformation, unter denen allerdings
je weiter nach Südwesten, gegen den marokkanischen Atlas hin,
im Gebiet des Wed Ghir und Susfana, Devon und Carbon hervor-
tritt. Dem gegenüber zeigt der marokkanische Atlas, abgesehen
von der gleichen Richtung, wesentlich verschiedene Züge. Nament-
lich nehmen an seinem Aufbau im Saharaatlas von Algerien an-
scheinend durchaus fehlende ältere Eruptivgesteine, Porphyre,
Diorite und Granite im nördlichen mittleren Atlas auch jüngere
hervorragenden Anteil, wie das im Gebirge selbst bezeugt ist
und man auch aus der Zusammensetzung der gewaltigen Schutt-
kegel am Ausgange der Täler schließen kann. Das erinnert
also an das alte abgetragene Faltengebirge der iberischen Meseta.
Auch scheinen die faltenden Bewegungen hier früher begonnen
und früher geendigt zu haben, als im übrigen atlantischen Falten-
lande, nämlich mit Abschluß der Kreidezeit.^) Nach J. Thomson
nehmen dieselben Kreideschichten, die im Vorlande ungestört
lagern, steil emporgefaltet wesentlichen Anteil am Aufbau des
marokkanischen Atlas. Derselbe wäre also als Gebirge älter als
das Rifgebirge, der Teil- und der Saharaatlas Algeriens. Auch
dürften paläozoische Gesteine großen Anteil an seinem Aufbau
i) Die noch nicht veröffentlichten Forschungen Gentils und de Sengon-
zacs, durch de Lemoines ergänzt, werden einen klareren Einblick gewähren.
— 364 —
haben. Die Faltung ist weit intensiver gewesen, so daß noch
heute weit bedeutendere Kamm- (3000 — 4000 m) und Gipfel-
höhen bis 4300, ja 4500 m hier auftreten als in den jüngeren
Faltengürteln, Auch die Breite des zahlreiche Einzelfalten in
drei parallelen Gürteln, dem hohen Atlas, dem Antiatlas und
dem mittleren Atlas, aufweisenden Gebirges (etwa 200 km) ist
weit bedeutender. Die Kammhöhe ist überall ansehnlich, tiefere
Einschartungen fehlen. Südlich von Marrakesch liegen die Pässe
in 3 — 4000 m Höhe, von da nach NO in 2500 m, nach SW,
gegen den Ozean in 1000 — 2000 m. Das Gebirge bildet also
einen hohen, schwer zu übersteigenden Wall von etwa 1000 km
Länge, welcher das Vorland gegen den Ozean von der Wüste
trennt und nach allen seinen Erstreckungen unsern Alpen nicht
allzusehr nachsteht. Obwohl im allgemeinen und nicht bloß an
der saharischen Abdachung, der geographischen Breite und der
Lage in einem trockenen Erdgürtel entsprechend im ganzen Ge-
birge die Spuren verhältnismäßiger Trockenheit hervortreten,
empfängt es doch so reichliche, vorwiegend winterliche Nieder-
schläge, daß seine Höhen bis in den Spätsommer schneebedeckt
auf die von Sonnenglut und Dürre verzehrte Hochebene an seinem
Nordwestfuße herableuchten und die Flüsse im Frühling und Früh-
sommer durch die Schneeschmelze anschwellen und eine Fülle
von Wasser zu Berieselungszwecken darbieten.
Die herrschende Trockenheit, die durch eine fast bis zur
Vernichtung gesteigerte Waldverwüstung noch erhöht worden ist,
die winterliche Kälte und Schneebedeckung, die Seltenheit weiter
Talebenen, außer im Nordosten und besonders im mittleren Atlas,
die auch nur unter künstlicher Berieselung im Sommer Anbau
ermöglichen, machen den marokkanischen Atlas zur Bewohnung
weniger geeignet, als man erwarten sollte. Die Bevölkerung ist
auf die Haupttäler bis zu geringer Höhe hinauf beschränkt. Auch
für Viehzucht und Almwirtschaft sind die Bedingungen nicht ge-
geben. Lockmittel für Eroberer scheinen zu fehlen. So hat sich
die berberische Gebirgsbevölkerung, deren Unterwerfung schwierig
war, zu allen Zeiten unabhängig erhalten, kaum daß die Herren
des Vorlands sich einige Querverbindungen zu sichern vermocht
haben. Sie zogen es vor die Talausgänge durch Kastelle zu
sperren und da auch die Berberdörfer meist auf steilen Höhen
liegen und die echt berberische, vom tunesischen Südlande, süd-
— 365 -
lieh der Kleinen Syrte, im Auresgebirge und bis an den Ozean
herrschende Sitte, die Vorräte und sonstige kostbare Habe in von
einer Dorfschaft oder einem Stamme gemeinsam auf sicheren
Höhen errichteten Kastellen, hier Tirremt genannt, unterzubringen,
in gewissen Gegenden auffallend hervortritt, so bietet der Gebirgs-
rand hier und da mit seinen zahlreichen Burgen und Burgen-
trümmern einen eigenartigen Anblick.
Wir dürfen, streng genommen, wie J. Thomson nachgewiesen
hat, das Faltengebirge des hohen Atlas nicht bis an den Ozean
ausdehnen, sondern nur bis an die Asif Ig Schlucht, einige
50 km von der Küste. Was westlich von ihr liegt, ist Tafelland,
die Landschaften Mtuga und Haha und nur unter diesem Vor-
behalte kann man den hohen Atlas am Kap Ghir endigen lassen.
Südlich davon, zwischen dem hohen und dem Antiatlas, sich weit
zum Ozean öffnend, liegt eine der ausgeprägtesten, zugleich eine
der nach ihrer natürUchen Ausstattung reichsten, Sonderlandschaften
von Marokko, nach dem sie bewässernden Längsflusse des Atlas,
dem Wed Sus, benannt. Reich an Erzvorkommen, namentUch
Kupfer, reich an Wasser und fruchtbarem Boden könnte das Sus,
das schon heute vorwiegend den Handel von Mogador belebt,
unter guter Verwaltung eine reiche Kulturlandschaft, die Oasen-
stadt Tarudant ein Brennpunkt des Verkehrs mit dem Süden,
Agadir, die beste Reede an der ganzen Ozeanküste, aber dem
Fremdhandel verschlossen, eine blühende Seestadt werden.
In dem durch die Divergenz des Rifgebirges und des
marokkanischen Atlas gebildeten Dreiecke liegt nun die größte
und wichtigste marokkanische Landschaft, zu allen Zeiten das
Herzland dieser Ländergruppe, der Kern der Staatenbildung,
das marokkanische Atlasvorland. Einen in allen wesentlichen
Zügen seitdem durch die Forschungen des französischen Geo-
logen Brives bestätigten EinbUck in ihre Geschichte erlangte ich
auf meinen beiden letzten Reisen. Danach läßt sich die ge-
schichtliche Entwicklung der heutigen Oberflächenformen etwa
in nachfolgender Weise erklären. Es erhob sich hier ein ver-
mutlich gegen Ende der paläozoischen Zeit steil emporgefaltetes
Gebirge, vorwiegend aufgebaut aus paläozoischen Schiefern, Grau-
wacken, Quarziten, Tonsandsteinen, von granitischen, porphyrischen
und ähnlichen alten Eruptivgesteinen durchsetzt. Wo die Rich-
tung der Falten noch zu erkennen ist, war diese dem marokka-
— 306 —
nischen Atlas annähernd parallel. Dies Gebirge wurde gegen
Ende des mesozoischen Zeitalters von dem übergreifenden Meere
abgetragen. Wie mit dem Rasiermesser durchschnitten bilden
die fast saigeren Schieferschichten hier und da fast wagrechte
Ebenen, aus denen aber festere Grauwackenschichten zum Beleg
der noch fortschreitenden äolischen Denudation mauerartig auf-
ragen oder Quarzite, gelegentlich, wie im Dj. Ghilis bei Marra-
kesch, auch kompakte Kalksteine, wahre Klippenzüge bilden. Ja
im Djebilet, einem kahlen, felsigen Gebirge, das den nördlichen
Horizont von Marrakesch begrenzt, im Dj. Achdar, Dj. Karra und
ähnlichen kleinen Bergzügen haben wir Erscheinungen vor uns,
die an den Taunus oder die Sierra de Alcudia und ähnliche
der iberischen Meseta erinnern. Die Ähnlichkeit dieses alten
Grundgebirges mit letzterer ist überhaupt sehr groß. Namentlich
auch insofern, als durch das übergreifende Meer, allerdings in
viel größerer Ausdehnung als dort, das alte Grundgebirge durch
ein jüngeres Deckgebirge noch heute völlig wagrechter und un-
gestörter, nur gehobener Schichten verhüllt wurde. Nur wo
widerstandsfähigere Felsarten des Grundgebirges Aufragungen be-
dingten oder das Deckgebirge der in der Pluvialzeit energischen
Erosion und Denudation des rinnenden Wassers, seitdem der
heute fast allein wirksamen äolischen Denudation erlegen ist, tritt
jenes zutage. Namentlich ist die Bildung von Tafelbergen, die
besonders in dem mittleren Steppengürtel häufig sind und oft in
Gruppen beieinander stehen, auf äolische Denudation zurück-
zuführen. Die Mächtigkeit dieses Deckgebirges ist gering. So-
weit meine Beobachtungen reichen, dürfte sie jetzt lOO m nirgends
überschreiten. Über seine Formationszugehörigkeit fehlt es noch
an hinreichenden paläontologischen Belegen. Fossilien, die ich
von der letzten Reise aus Schedma mitbrachte, also aus dem
äußersten Südwesten, wo mit der Emporfaltung des Atlas zu-
sammenhängende Störungen noch eine große Rolle spielen, schrieb
E. Ficheur, wohl der beste Kenner des geologischen Aufbaus
von Algerien, cretaceisches Alter zu. Und ich nehme danach an,
daß das von mir 1899 fast von der Mündung bis auf die sub-
atlantische Hochebene bei Marrakesch verfolgte windungsreiche
Tal des Tensift in diese Schichten eingeschnitten ist. Nach den
bisher bekannt gewordenen Forschungen des algerischen Landes-
geologen A. Brives, der, als erster Geologe, einen Teil des
— 367 -
Atlasvorlands im Winter 190 1/2 bereist hat, hätten wir das Deck-
gebirge zwischen Tensift und Um-er-Rbia und nördlich von dieser
bei weitem überwiegend dem Miozän zuzurechnen. Er glaubt
auch in dem paläozoischen Grundgebirge einzelne Formationen
unterscheiden zu können.
Demnach trägt das Atlasvorland vorwiegend den Charakter
des Schichtungstafellandes, die Form der Ebene herrscht vor und
zwar der Hochebene, die nur örtlich beschränkt durch aufragende
Inselberge und Inselgebirge des Grundgebirges, fast alle kahl und
felsig, unterbrochen wird. Soweit unsere Kenntnis heute reicht,
ist man berechtigt zwei Perioden der Hebung anzunehmen, eine
miozäne und eine ganz junge, wohl quartäre. Dadurch entstehen zwei
Stufen, eine Küstenebene, deren Verhältnisse ich auf der letzten
Reise (igoi) klarlegen konnte, und eine innere, den bei weitem
größten Teil des Atlasvorlands umfassende Hochebene, Jene
beginnt am Kap Hadid 20 km nördlich von Mogador in schma-
lem Zipfel, erreicht in Dukkala bis zum Fuße des Dj. Achdär,
der ganz Mittelmarokko beherrschenden Landmarke, bei Sidi Rehal,
wo die vielbegangene Karawanenstraße von Mazagan nach Marra-
kesch im Tale von Mtal auf die obere Stufe emporsteigt, eine
größte Breite von 80 km, die sich weiter nordwärts an der Um-
er-Rbia auf 70, in Schauia auf 60 km verringert. Schließlich
verschwindet sie bei Rabat fast völlig, um in der Tiefebene des
unteren Sebu bis zur Schlucht von Sidi Kassem, in welcher der
Rdem sich von der oberen Stufe herabstürzt, noch einmal eine
Breite von 70 km zu erreichen. Nördlich von dieser Tieflands-
bucht verschmälert sie sich rasch wieder, man wird sie aber wohl
bis an die Meerenge bei Tanger verfolgen können. Bei Arzila
fand ich sie noch deutlich ausgeprägt, wenn auch nur etwa
10 km breit, dem westlichen Fuße des Rifgebirges vorgelagert.
Diese unterste Stufe dehnt sich also in einer Länge von
Ö50 km längs dem Meere aus, von dem sie aber meist steil, im
Süden bis zu 100 m, aufsteigt. Die Ozeanküste von Marokko
ist also vorwiegend als eine neutrale Schollenküste aufzufassen,
deren felsiger Charakter örtlich noch dadurch erhöht wird, daß
das alte Grundgebirge ansteht und die steil aufgerichteten Schich-
ten von der Brandungswoge wie mit dem Rasiermesser durch-
schnitten, eine bei Ebbe zum Teil trocken laufende felsige Strand-
terrasse bilden. Die Erdbeben, die schon wiederholt die Küsten-
- 368 -
Städte heimgesucht haben, lassen auf längs der Küste verlaufende
und sie bedingende Bruchlinien schließen. Die Küste entbehrt
daher der Gliederung fast ganz, nur ausnahmsweise bietet eine
flache Bucht, als Erzeugnis der Brandungswoge wie bei Mazagan,
oder eine kleine Erosionsinsel, wie bei Mogador etwas Schutz,
oder es ist ein kleines Flußtal wie bei Saffi oder ein System
weicherer Schichten wie bei Casablanca von Brandung und Ge-
zeiten zu einer wenig sicheren Bucht ausgearbeitet. Wirkliche
Häfen bieten nur die Flußmündungen, der Um-er-Rbia: Azemur,
des Bu Regreg: Rabat, des Sebu: Mehediya, des Lukkos: La-
rasch. Leider aber sind alle diese Flußmündungen bei der an
der ganzen Küste fast jahraus jahrein herrschenden starken Dü-
nung durch Barren geschlossen, die in der Regel nur kleine
Schifte überwinden können und die nur selten durch Hochwasser
vorübergehend weggefegt werden. Auch hier wie vor allen ma-
rokkanischen Seestädten müssen daher die Dampfer auf offener
Reede Anker werfen, stets unter Dampf und jeden Augenblick
bereit das off"ene Meer zu gewinnen. Azemur und Mehediya,
obwohl an den Mündungen der größten Ströme gelegen, die
beide eine Strecke weit schiff"bar sind, sind außerdem dem Fremd-
handel geschlossen und daher ganz bedeutungslos. Auch da, wo
jüngere Anlagerungen, wie vor der Tieflandsbucht des Sebu und
in Dukkala südlich von Mazagan, einen Saum von Dünen und
Haffen, also Flachküste geschaffen haben, sind dadurch keine
verkehrsgeographisch günstigeren Verhältnisse entstanden. Doch
scheint es, als könnte das Haff" von Walidiya, nördlich von dem
als Landmarke und Wetterscheide bekannten Kap Kantin, leicht
zu einem ausgezeichneten Hafen ausgestaltet werden.
Von diesem zwischen 30 und 100 m hohen Steilrande, mit
dem sie zum Meere abbricht, erhebt sich diese Küstenebene,
der ich eine mittlere Höhe von 1 50 ra zuschreiben möchte, ganz
unmerkhch landeinwärts auf etwa 250 m bis zum Fuße der
zweiten Stufe, die sich auch ihrerseits mit etwa 100 m hohem
Steilanstiege, der ganz den Eindruck eines ehemaligen Meeres-
ufers hervorruft, ganz unvermittelt über der unteren Stufe erhebt.
Diese Küstenebene trägt fast überall den Charakter der Ebene,
ja in großer Ausdehnung erscheint sie als tischgleiche Ebene.
Die für weite Flächen in Marokko charakteristische und ver-
hängnisvolle Kalkkruste, die im wesentlichen als klimatische Er-
— 369 —
scheinung zu erklären ist, und die Denudation bedingen nur hier
und da Hügel und flache Bodenwellen. Nur in Schauia tritt
das Grundgebirge, vereinzelte Klippenzüge bildend, auf dieser
Stufe, ja hier und da nahe dem Meere zutage. Rinnendes Wasser
fehlt ganz, abgesehen von den aus dem Atlas kommenden großen
Strömen. Kleinere Flüsse und Bäche, die von der oberen Stufe
herabkommen, versiegen meist sehr bald, haben aber in ihren
Tälern bequeme Aufstiege auf jene, selten flache Schuttkegel vor
dem Steilrande geschaffen. Nur der Steilrand am Ozeane ent-
lang in der Breite von 10 — 20 km und ein schmaler Gürtel zu
beiden Seiten der in tiefem Erosionstale fließenden Um-er-Rbia
ist durch das rinnende Wasser etvi^as gegliedert. Quellen sind
daher auf dieser Landstufe äußerst selten, sie dürften überhaupt
wohl nur in Schauia, durch das undurchlässige Grundgebirge
bedingt, und in dem Gürtel längs der Um-er-Rbia vorkommen.
Im größten Teile dieser Küstenlandschaften, abseits der großen
Ströme, die zwar fast immer trübes, aber doch gutes Trinkwasser
bieten, sind also die Bewohner auf künstliche Wasserbeschaffung
angewiesen. Zunächst wurden sie wohl durch natürliche Wasser-
ansammlungen auf der Kalkkruste, oder in flachen Becken dazu
geführt, künstliche Sammelteiche für Regenwasser anzulegen.
Solche finden sich in dem ganzen Gebiete in großer Zahl, nament-
lich in Dukkala sind viele Hunderte in Kreisform mit niederen
Ringwällen, nicht selten mit einem kleinen Hügel in der Mitte,
vorhanden, an kleine JMaare erinnernd. Man hat ihnen auch
vulkanischen Ursprung zuschreiben wollen. Sie sind aber sicher
Erzeugnisse menschlicher Arbeit. Ich habe ganz neu angelegte
gesehen. Weiter schuf man Zisternen, namentlich am Rande der
Kalkkruste, die das Wasser nicht in den Boden dringen ließ.
Wo diese Mittel nicht genügten, um namentlich in der 8 — 9 Mo-
nate umfassenden Trockenzeit Wasser zu beschaffen, bohrte man
Brunnen, eine sehr schwierige Arbeit, da diese in große Tiefe,
ich vermute bis auf das undurchlässige Grundgebirge, hinabgeführt
werden mußten und Steine zum Ausmauern meist fehlten. Ich
habe Brunnen von 60 m Tiefe gemessen. Ihr Wasser ist warm
und häufig mit Salzen derartig angereichert, daß selbst die
Tiere es zunächst nicht saufen wollten und damit bereiteter
Tee ungenießbar war. Und doch ist mancher dieser Brunnen,
die dann stets innerhalb der Kasbas der Kaids^ als Mittel die
Fischer, Mittelmeerbilder. 24
— 370 —
Bevölkerung in Untertänigkeit zu erhalten, angelegt sind, die
einzige Wasserquelle für eine ganze Landschaft. Ein Zugtier,
Kamel, Pferd, Maultier ist daher den ganzen Tag beschäftigt,
Wasser in einem großen Schlauche an die Oberfläche zu be-
fördern. Nicht selten sieht man Frauen eingespannt! Hier werden
Windmotoren, denen es fast nie an Triebkraft fehlen würde,
recht am Platze sein.
Der hohe Grad der seßhaften Bewohnbarkeit, der diesen
Landschaften heute eignet, ist daher als ein Erzeugnis der Kultur,
langwieriger menschlicher Arbeit zu bezeichnen.
Er ist aber, ebenso wie die Form der Ebene, auch durch
die erstaunliche Fruchtbarkeit des Bodens bedingt. Diese unterste
Stufe des Atlasvorlands besitzt nämlich vorzugsweise in großer
Ausdehnung eine Decke von Schwarzerde oder Tirs, wie sie im
Lande selbst genannt wird, deren Vorhandensein ich zuerst iSgg
nachweisen, 1901 weiter verfolgen und begründen konnte. Von
zuständigsten Fachmännern durchgeführte chemische und minera-
logische Analysen von beiden Reisen mitgebrachter Proben haben
einerseits die außerordentliche Fruchtbarkeit dieser Bodenart er-
klärt, andrerseits mich in meiner Theorie ihrer Entstehung im
wesentlichen aus Staubablagerungen aus dem Innern bestärkt.
Die Mächtigkeit der Schwarzerdedecke ist meist gering. Ihre
Verbreitung ist lückenhaft, die größten Flächen einer geschlosse-
nen Schwarzerdedecke dürften in Abda vorkommen. Doch gilt
Dukkala als die fruchtbarste der Küstenlandschaften. Ich selbst
habe Schwarzerde auch auf der oberen Stufe von Schauia, aber
nahe dem Rande, und im Gebiet des oberen Wed Rdem in EI
Gharb beobachtet und ihr Vorkommen in Tedla , der innersten
Bucht des Atlasvorlandes, dem marokkanischen Ferghana, wie ich
es nennen möchte, durch Erkundungen festgestellt.
Dieser Schwarzerdegürtel kennzeichnet also vorzugsweise die
Küstenebene, wo die reichlicheren winterlichen Niederschläge und
eine üppigere Pflanzendecke in Verbindung mit der spülendes
Wasser ausschHeßenden Ebenflächigkeit die aus den inneren
Steppen herkommenden Staubfälle festhielt. In jenem geglie-
derten Landsaume längs der Küste und längs der Um-er-Rbia
fehlt daher Schwarzerde durchaus. Die durch die Analyse er-
wiesene außerordentliche Wasserkapazität ermöglicht das Fest-
halten der winterlichen Feuchtigkeit, die bis zu einem gewissen
— 371 —
Grade immer wieder durch die diesem Küstengebiet eigenen
reichlichen Taufälle ergänzt wird. So gedeihen hier nicht nur
eigentliche Winterfrüchte, sondern Frühlingsfrüchte, wie Mais, dem
nach Ansicht der Bauern Regen geradezu schädlich ist und der
mit der winterlichen Bodenfeuchtigkeit und Tau (Minsla) gut
auskommt. Es wird eine nur drei Monate erfordernde Spielart
gegen den i . April, also nach dem Ende der Winterregen, gesäet
und gegen Ende Juni geerntet. jNIais ohne künstHche Beriese-
lung gezogen ist eine in den südlichen Mittelmeerländem unbe-
kannte Erscheinung.
So ist diese unterste Landstufe des Atlasvorlands die Korn-
kammer von Marokko, die in ihr gelegenen Landschaften Abda,
Dukkala, Schauia und Gharb die reichsten und dichtest besie-
delten des Landes. Dies erklärt das Vorhandensein und die
Bedeutung der oben genannten, verhältnismäßig zahlreichen, na-
mentlich im Vergleich zu dem städtearmen Innern, Küstenstädte.
Staunenden Auges sieht man von der höheren Stufe und aus
dem Steppenlande herabsteigend unabsehbar die tischgleiche
Ebene von Abda zu seinen Füßen ausgebreitet, dunkelgrün von
wogenden Feldern von Weizen, Gerste, Saubohnen, Kichererbsen,
Mais, Kanariensamen, Koriander, Fenugrek (die Leguminose Tri-
gonella foenum graecum L., arabisch Holba), Linsen, Erbsen
und dergleichen, hie und da, aber erst seit den letzten Jahren,
von den Europäern eingeführt, blaue Teppiche blühenden Flachses
dazwischen gespannt, darüber gestreut einzelne weithin leuchtende
weiße Kubbas und zahlreiche kleine aus Tabia erbaute Duars, aber
kein Baum, kein Strauch! Holzgewächse sind der Schwarzerde
fremd, kaum daß man hie und da einige kümmerliche Feigen-
bäume oder eine Dattelpalme angepflanzt sieht.
Der bei weitem größte Teil des Atlasvorlands gehört so der
oberen Stufe an, die auch ihrerseits sanft gegen den Fuß des
den ganzen Horizont beherrschenden Gebirges, von etwa 400 m
auf 600 — 700 m ansteigt. Auch hier herrscht die Form der
Ebene vor, aber nicht in dem Maße wie auf der unteren Stufe.
Die ganze kleine Gebirge, wie der Djebilet oder der Dj. Achdär,
bildenden Aufragungen des Grundgebirges, echte afrikanische
Inselberge und Inselgebirge, die Tafelberge mildem die Ein-
förmigkeit, und die großen das ganze Vorland querenden Sammel-
ströme, besonders der Tensift und die Um-er-Rbia haben mit
24*
— 372 —
ihrem bedeutenden Gefäll, in starker Strömung, ja selbst häufig
Stromschnellen bildend, tiefe, vielgewundene, oft canonartige Täler
in das Hochland eingeschnitten, die, selbst ungangbar, ja auch
als Tränkstellen nur an einzelnen Punkten zugänglich, schwere
Hindernisse des Verkehrs bilden. In großartiger, wilder Land-
schaft, auf dem Isthmus einer Flußschlinge der Um-er-Rbia, ähn-
lich der Marienburg an der Mosel, liegt so an der Grenze beider
Stufen und somit zugleich des Steppen- und des Kulturlands das
mächtige Kastell Bu-el-Awän, das, fast sagenhaft, bisher, wie mir
auch die Eingeborenen versicherten, von keinem Europäer er-
reicht worden war.
Diese ganze obere Stufe empfängt, schon meerferner, nur ge-
ringe Niederschläge, es fehlt ihr die Schwarzerdedecke; das durch-
lässige Deckgebirge, wie das einer Verwitterungsdecke, weil alle
gelockerten Feststoffe vom Winde davon getragen werden, ent-
behrende Grundgebirge bedingen große Trockenheit, daher haben
wir da Steppenland vor uns, das allerdings Anbau von Gerste,
hie und da auch Weizen in regeru-eichen Wintern in Hohlformen und
auf besserem, feuchterem Boden nicht ganz ausschließt. Nach wich-
tigen geographischen Zügen, namentlich nach Boden plastik, Be-
wässerung und Anbaufähigkeit läßt sich aber dies Steppengebiet
in zwei wesentlich verschiedene Gürtel zerlegen: den eigentlichen
Steppengürtel und den Gürtel der subatlantischen Be-
rieselungsoasen. Ersterer in einer Breite von 80 — loo km
enthält zwar einige kleine Oasen, namentlich in einem Gürtel
längs der Um-er-Rbia, auf Quellen begründet, ist aber im wesent-
lichen Weideland, von Nomaden und Halbnomaden bewohnt.
Immerhin ist der Bestand an Herden von Rindern, Schafen, Ka-
melen bedeutend, namentlich da auch noch im Sommer, wenn die
Vegetation der Steppe, die im Spätwinter und im Frühling einem
herrlichen Blumenteppich gleicht, von der Sonne verbrannt ist,
die Herden, sei es im Gebirge, sei es im Kulturlande der Küsten-
ebene Nahrung finden.
Der innerste Gürtel fällt mit dem zusammen, was ich boden-
plastisch subatlantische Hochebene genannt habe. Diese
dehnt sich in einer Länge von etwa 330 km und einer Breite
von 30 — 40 km längs dem Gebirgsfuße aus. Alle aus dem Ge-
birge heraustretenden Flüsse queren sie, lagern, somit eine schiefe
vom Gebirgsfuße sanft abfallende Ebene bildend, ihre Schutt-
— 373 —
massen ab, bis sie auf die Inselgebirge des Vorlands, namentlich
den auf etwa loo km von Südwest nach Nordost streichenden
Djebilet stoßend durch diese teils nach Westen, teils nach
Norden abgelenkt werden, und so die zwei großen Sammel-
rinnen des Tensift, ein typischer Saumfluß, und der Um-er-Rbia
entstehen, deren Wasserscheide auf der subatlantischen Hoch-
ebene selbst, nur durch Schuttkegel gebildet, kaum erkennbar ist
und wohl in der Pluvialzeit wesentliche Verschiebungen erfahren
hat. Die Schuttkegel der Atlasflüsse, wohl vorzugsweise in der
Pluvialzeit aufgeschüttet, aber noch heute in der Weiterentwicklung
begriffen, bilden überwiegend den Boden dieses zwischen dem
Atlas und den niedrigen Inselgebirgen des Vorlands eingeschalteten
Gürtels, der insofern etwas an die Poebene, namentlich in Piemont,
erinnert. Alle diese Flüsse bieten ungeheure Wasservorräte zu Be-
rieselungszwecken, die schon heute, wenn auch nur zu einem Bruch-
teil des ]\Iöglichen, verwertet werden. Sie werden noch vermehrt
durch die Wasserschätze des Untergrunds, die durch die sog. Chat-
taras, unterirdische Sammelkanäle ähnlich den Kanat und Kariz von
Iran, den Sahrig von Jemen, den Feggagir (sing. Foggara) einzel-
ner Saharaoasen, gesammelt und an die Oberfläche geführt
werden. So ist hier die gelbe Steppe längs der Flüsse und
namentlich am unteren Saume der Hochebene mit den dunkeln
Flecken der Oasen übersäet, in deren größter die Hauptstadt
Marrakesch als wahre Oasenstadt in einem Haine von Dattel-
palmen liegt, deren Früchte hier in einer Meereshöhe von fast 500 m
noch reifen. Fruchtbäume sind es, neben der Dattelpalme der
Ölbaum, der Feigenbaum, der Granatbaum, Apfelsinen und Li-
monen, Aprikosen und Pfirsiche, jNIandelbäume und dergleichen
mehr, die diesen Oasen ihren Charakter geben und diesen Land-
gürtel zum wenigst baumarmen des ganzen baumarmen Atlas-
vorlandes machen. Im Schutze der Fruchtbäume und in der
Umgebung der Fruchthaine, wo nur während des Winters be-
wässert werden kann, wird auch Getreide, Gemüse und dergleichen
gebaut. So könnte dieser Landgürtel in großer Ausdehnung in
Kulturland, in eine weite Gartenlandschaft verwandelt werden.
Wasserkräfte für elektrische Kraftübertragung sind reichlich vor-
handen und durch Stauwerke am Ausgange der Atlastäler größter
Vermehrung fähig. In glücklicher Weise vermöchten sich alle
drei Gürtel des Atlasvorlands zu ergänzen: der eine liefert Brot-
— 374 —
Stoffe in Fülle, der zweite Vieh, der dritte vorzugsweise Baum-
früchte. Die Gebirgsbewohner sind so für ihre Ernährung, ähn-
lich wie in Algerien die Bewohner der Wüste auf das Teil, auf
das Vorland angewiesen und so haben sich hier, wo Seßhaftig-
keit von der Natur geboten ist, am Ausgange der Atlastäler kleine
Randstädte wie Demnat, Sidi Rehal, Amsmis u. a. m. entwickelt.
Die namengebende Hauptstadt Marrakesch , der Hauptort des
Tensiftgebiets, wenn auch nicht unmittelbar am Tensift, aber so-
zusagen im Wipfel des Tensift gelegen, ist dagegen eine Oasen-
stadt in der freien Hochebene, zunächst wohl zur Entwicklung
gekommen durch den Wasserreichtum, dann aber durch die
günstige Verkehrslage. Wie in Mailand, das ähnlich vor dem
Alpenwalle liegt, radienförmig die Alpenstraßen zusammenlaufen,
so die Atlaswege und die nach dem Sus und dem Gebiet des
Wed Draa, in Marrakesch, um auf der anderen Seite ebenfalls
nach den nächsten Küstenplätzen Mogador, Saffi, Mazagan, Casa-
blanca und Rabat auseinander zu streben. So ist Marrakesch
die natürliche Hauptstadt von ganz Südmarokko.
Für Nordmarokko spielt die gleiche Rolle Fäs, der Hauptort
des Sebugebiets, das auch seinerseits, wenn auch nur in etwa
300 m Meereshöhe, auf der oberen Stufe liegt, die freilich hier
näher dem Gebirge und zwischen dem Rifgebirge und dem Atlas
teilweise in Hügelland gegliedert ist, in dem aber immer wieder
die Form der Hochebene hervortritt. Aber auch Fäs verdankt
seine Entwicklung dem Wasserreichtum, der die Stadt mit einem
Saume üppiger Gärten geschmückt hat, und der Eigenschaft als
Knoten naturbedingter Verkehrswege. Es vermittelt den Verkehr
zwischen dem Gebirge und den Oasen jenseits desselben, nament-
lich Tafilalet auf der einen, der Tieflandsbucht des Gharb und
dem Meere auf der anderen Seite; ja, dank der schon hervor-
gehobenen westöstlichen Tiefenlinie zwischen Atlas und Rifgebirge
ist es der Brennpunkt des Verkehrs des ganzen Maghreb el Aksa
mit den übrigen nach Osten hin gelegenen Atlasländern, in
strategischer Hinsicht der Schlüssel wenigstens des nördlichen
Marokko für jeden von Osten kommenden Feind. Nach Westen
hin strahlen von hier radienförmig Verkehrswege zum Ozean aus,
von der Meerengenstadt Tanger im Norden bis Rabat, dem
Bindeglied zwischen Nord- und Südmarokko. Aber noch mehr:
Fäs ist in Luftlinie nur 1 2 5 km vom nächsten Punkte der Mittel-
— 375 —
meerküste entfernt und es wird nicht schwer sein durch den ge-
falteten Gürtel des Rifgebirges den Flußtälern folgend eine Eisen-
bahn nach Bades zu bauen, das früher eine gewisse Verkehrs-
bedeutung hatte, in der kleinen Bucht, in welcher die noch von
den Spaniern besetzte kleine Felseninsel des Penon de Velez de
la Gomera liegt. Vielleicht auch etwas weiter nach der größeren
halbkreisförmigen Brandungsbucht der auch von Spanien besetzten
Gruppe kleiner felsiger küstennaher Inseln von Alhucemas
gegenüber.
Selbst das Atlasvorland zerfällt somit bodenplastisch und
verkehrsgeographisch, demnach auch politisch in zwei Teile, die
auch die Einwohner streng unterscheiden und nur als in der
Person des Sultans geeinigt ansehen: Nordmarokko, el Gharb,
abgesehen von der Tertiärbucht des Sebu, Tiefebene, vorwiegend
Berg- und Hügelland, wegen der nördlicheren Lage reicher be-
netzt und fast überall anbaufähig, und Südmarokko, el Haus,
vorwiegend Hochebene und bis zur Steppenbildung niederschlags-
arm. Gelegentlich stellt man es Sus, den Süden als dritten
gleichwertigen Teil auf. Die Grenzscheide zwischen den Sulta-
naten von Fäs und Marrakesch gehört heute noch zu den wenigst
bekannten Gegenden des Landes, weil die sie bewohnenden
auch meist noch Tamazirt sprechenden Berberstämme der Zem-
mur, Zair, Zaian, Beni Mgild und Beni Mtir unbedingt jeden
Forschungsreisenden fernhalten, wie sie auch den Sultansheeren
und allen Eroberen das Eindringen oder wenigstens das Festsetzen
zu verwehren vermocht haben. Auch die Römerherrschaft reichte
nur bis zu dieser Grenzscheide. Diese wird zwar durch die
nördlichen und nordwestlichen Vorlagen des mittleren Atlas, die
sich wie ein Keil gegen den Ozean vorschieben, das Sammel-
gebiet des Bu Regreg und des zum Sebu gehenden Wed Beht,
aber nicht durch hohe Gebirge gebildet. Es handelt sich viel-
mehr, soweit ich habe feststellen können, auch hier um Stufen-
land, mit vereinzelten Höhen von wenig über looo m, deren
Kern das alte Grundgebirge bildet, das in großer Ausdehnung
durch Abtragung des Deckgebirges bloßgelegt ist. Die steilen
Terrassenanstiege, das wild zerrissene, felsige, durchschluchtete,
vielfach mit dichtem Gestrüpp, im höheren Gebirge noch von
Urwäldern zum Teil gewaltiger Zedern bedeckte Gelände ist es,
welches das Eindringen so erschwert, während die Bewohner von
— 376 —
der Landesnatur zu Halbnomaden gemacht in der Lage sind,
sich und ihre Herden im Notfalle durch Zurückweichen in die
höheren Gebirge, die sie ohnehin im Sommer meist aufsuchen,
in Sicherheit zu bringen.
Durch dieses ungangbare Gebiet wird aller Verkehr von
Nord- und Südmarokko auf den einen Weg am Ufer des Ozeans
entlang gedrängt und muß selbst der Sultan an der Spitze eines
Heeres, wenn er seinen Sitz von der südlichen Hauptstadt Marra-
kesch nach der nördlichen Fäs verlegt, diesen Weg einschlagen.
Diese unabhängigen Stämme, nicht die Geländeschwierigkeiten
sind es, welche bewirken, daß heute eine in gerader Linie beide
Hauptstädte verbindende Verkehrslinie nicht besteht. Darauf in
erster Linie beruht die große strategische und verkehrsgeographische
Bedeutung von Rabat. Rabat ist das Bindeglied zwischen Nord
imd Süd, eine große Festung, in marokkanischem Sinne, ja fast
eine ummauerte Landschaft, die aber fast beständig durch Zem-
mur und Zair in latentem Belagerungszustande gehalten wird.
Ein äußerer Feind, der Rabat besetzt, trennt den Norden vom
Süden. Aus diesen Erwägungen heraus bzw. entsprechenden
Ratschlägen folgend hat der Vater des jetzigen Sultans durch
einen ehemaligen preußischen Genieoffizier ein die Reede von
Rabat mit seinen gewaltigen Kruppschen Geschützen beherrschen-
des Fort bauen lassen.
Die klimatischen Verhältnisse, zu deren Erforschung
jetzt sechs deutsche meteorologische Stationen, zwei ältere von
der deutschen Seewarte eingerichtete in Mogador und Saffi, zwei
neuere von mir eingerichtete in Casablanca und Marrakesch und
zwei noch neuere in Mazagan und Rabat beitragen, nicht nur des
Atlasvorlandes, sondern der ganzen Ländergruppe sind als günstig
zu bezeichnen. Namentlich spielt Malaria, diese Pest der übrigen
Atlasländer, eine geringe Rolle. Nur jenseits des Atlas tritt die
Form der Wüste auf und ist aller Anbau auf einige wenige
Oasen und Oasengruppen beschränkt, die, wie das Stammland der
Dynastie, Tafilalet vom Wed Sis , von den Atlasflüssen genährt
werden. In dem Küstengebiet am Ozean südlich vom Sus bis
zum Kap Juby fallen die winterlichen Niederschläge noch so
reichlich, daß in großer Ausdehnung gutes Weideland vorhanden
ist, ja außerhalb der Berieselungsoasen in regenreichen Wintern
noch Gerste gebaut werden kann. Mag doch am Kap Juby die
— 377 —
mittlere Regenhöhe noch 200 mm betragen. Schon in Mogador
und vermutlich weit südlich davon ist sie auf 400 mm gestiegen,
ein Betrag, bei welchem nach den Beobachtungen in Tunesien
Ackerbau möglich ist, um so mehr als nach meinen Beobach-
tungen im ganzen Küstengebiet auf die ablandigen Winde und
das kühle Auftriebwasser zurückzuführende reichliche Taufälle
vorkommen. In Casablanca übersteigt die Niederschlagshöhe 400 min,
am Kap Spartel sind es nahe an 800 mm, in Tanger über
800 mm. Dementsprechend ist das ganze Küstengebiet und
ganz Nordmarokko anbaufähig, ja es bedecken im Küstengürtel
im Hinterlande von Wogador, in den Landschaften Schedma,
Haha und Mtuga lichte immergrüne Wälder, namentlich von
Arganbäumen, freilich oft mehr Buschwald, weite Flächen bis
etwa 70 km landeinwärts, wo die Steppe beginnt. Daß aber auch
im Steppengürtel, wo die Niederschlagshöhe beträchtlich unter
400 mm bleiben dürfte, Anbau nicht ganz ausgeschlossen ist,
sahen wir bereits. Am Fuße des Atlas sah ich wieder Weizen-
und Gerstenfelder auf unbewässertem Boden als Beweis wieder
bis auf etwa 400 mm gesteigerter Niederschläge. In Marrakesch
dürfte die Regenhöhe, soweit zweijährige Messungen ein Urteil
erlauben, etwa 250 mm im Jahresmittel betragen.
Die Bevölkerung von Marokko ist ethnisch noch nicht ge-
nügend erforscht. Ich habe mir die Anschauung gebildet, daß
das berberische Element weit mehr verbreitet ist, als man ge-
wöhnlich annimmt, und sich selbst in den Ebenen und offenen
Landschaften gegenüber dem arabischen zu behaupten vermocht
hat, wenn es auch vielfach äußerlich arabisiert ist und arabische
Sprache angenommen hat. Aber selbst auf der Hochebene
fand ich einen Tagemarsch östlich von Marrakesch Berbern, die
ihre Sprache bewahrt haben. In ganz Nordmarokko, selbst in
der Umgebung von Tanger wohnen reine Berbern, Amazirghen,
ebenso im Südwesten des Atlasvorlandes Schluh, in Schedma,
Haha und Mtuga und im ganzen marokkanischen Atlas, Das
arabische Element ist überwiegend nomadisch und vorzugsweise
auf die Ebenen von Mittelmarokko beschränkt, doch ist der
unter Berbern sitzende arabische Stamm der Howara im Sus auch
seßhaft. Sofort beim Eintritt in bewegtes Gelände erkennt man,
daß man sich inmitten berberischer Bevölkerung befindet. Die
Städtebevölkerung ist gemischt, aber auch wohl überwiegend
— 37« -
berberisch. Auch in Marokko sind die Berbern seßhaft, Acker-
und Gartenbauer, Baumzüchter, eifrig auf Erwerb bedacht, an
der Scholle hängend. Im Gebirge haben sie sorgsame Terrassen-
kultur und künstliche Bewässerung eingeführt. Selbst die rein
berberischen Stämme der oben geschilderten Grenzscheide zwi-
schen el Gharb und el Haus haben im Gebirge feste Dörfer, die
sie allerdings nur im Sommer bewohnen. Auch die völlig
arabisierten Beni Ahsen der Tiefebene des Sebu sind seßhaft,
wenn auch in kreisförmigen Zeltdörfern. Im Zeltringe werden
allnächtlich die Herden untergebracht. Die Zahl der Neger, die
ursprünglich als Sklaven aus dem Sudan gekommen sind, ist
sehr groß im Marokko, je weiter nach Süden, um so größer. Doch
dürfte sich dieses Bevölkerungselement jetzt bald verwischen,
nachdem die Zufuhr mit der Besetzung des Sudan durch die
Franzosen unterbunden ist.
Juden sind über ganz Marokko verbreitet, tief im Inneren,
in den Dörfern des Atlas, überall findet man einzelne Familien
und Gruppen solcher. Ähnlich dem polnischen Edelmann früherer
Zeiten scheint kein Kaid ohne einen Hofjuden auskommen zu
können. Am zahlreichsten sind sie in den Städten, namentlich
an der Küste, wo sie am meisten Schutz genießen. Dorthin wan-
dern sie jetzt auch vielfach aus dem Inneren. In Handel, aber
auch im Handwerk spielen sie eine große Rolle.
Marrokko ist lediglich ein Land des Ackerbaus und der
Viehzucht. Bergbau ist heute unbekannt, wird aber gewiß einmal,
wie zahlreiche mir bekannt gewordene Erzvorkommen, nament-
lich reiche Kupfererze im Sus, aber auch sonst im Atlasvorlande
zu schließen erlauben, eine große Rolle spielen. In früherer
Zeit hat Bergbau und Metallverarbeitung geblüht. Die einst
blühende Gewerbtätigkeit ist in tiefem Verfalle. Sie erzeugt
kaum noch die unentbehrlichsten Gebrauchsgegenstände. Mehr
und mehr werden selbst Bekleidungsstoffe, Metall waren und
dergleichen aus Europa eingeführt. Da aber die breitesten
Schichten der Bevölkerung infolge der unglaublichen Mißverwal-
tung verarmt sind, der Unternehmungsgeist ertötet, der Erwerbs-
sinn geschwächt, die Ausfuhr von Getreide, Vieh, Pferden und
anderen wichtigen Gegenständen verboten , Wege- und Brücken-
bau unbekannt ist, so ist auch die Handelsbewegung eine
geringe. Man kann den Wert der Aus- und Einfuhr, freilich auf
— 379 —
sehr unsicherer Unterlage, auf etwa 80 Millionen Mark jährlich
schätzen. In ersterer spielen Deutsche, von denen die ersten
vor kaum zwei Jahrzehnten nach Marokko gekommen sind, eine
große Rolle, in letzterer treten sie neben Engländern und Fran-
zosen zurück. Doch dürfte der deutsche Handel sich in Marokko
heute bereits die zweite Stelle nach den Engländern erobert
haben, trotz der Ansprüche der Franzosen, die zum Teil auf
künstlicher Werterhöhung des zu Lande nach Algerien ausge-
führten Viehes beruhen.
Infolge der Mißregierung, welche bei Dürre und Heuschrecken-
plage, trotz aller Ausfuhrverbote Hungersnöte nicht hintanzuhalten
vermag, aber so häufige Aufstände, bei denen ganze Landschaften
systematisch ausgemordet und verwüstet werden, hervorruft, daß
man sagen kann, irgendwo sei jederzeit ein Aufstand, ist die
Volksdichte auch in den reichst gesegneten Landschaften ge-
ring. Ich glaube, selbst in dem verhältnismäßig dicht bevölkerten
Abda, wo man alle Viertelstunden auf einen allerdings meist
kleinen Duar stößt, dürften nicht mehr als 50 Köpfe auf i qkm
kommen. Ich glaube, daß diejenige Schätzung, welche der ganzen
Ländergruppe etwa acht Millionen Bewohner zuschreibt, der
Wahrheit ziemlich nahe kommen dürfte. Sicher ist das aber eine
Höchstzahl. Davon ist aber nur ein Teil staatlich geeinigt und
dem Sultan unterworfen. Von den etwa 600 000 qkm, die ich
dieser Ländergruppe zuschreibe, gehört der bei weitem größte
Teil zu dem im Lande selbst so genannten Beled-es-Ssiba, dem
unabhängigen Gebiet, auf das der Sultan höchstens als religiöses
Oberhaupt einen gewissen Einfluß ausübt, nur etwa 180000 qkm
zum Beled-el Makhzen, dem Land der Kanzlei, den wirklich dem
Sultan gehorchenden Landschaften. Den Kern dieser letzteren
bildet das Atlasvorland mit etwa 85000 qkm und 3 Millionen
Einwohnern, also 35 Köpfe auf i qkm.
In den Händen einer europäischen Macht, die die reichen
und mannigfaltigen Hilfsquellen des heute noch in mittelalterlichen
Zuständen verharrenden Landes zu entwickeln, Lage und Welt-
stellung zur Geltung zu bringen vermag, kann Marokko zu einem
Machtfaktor ersten Ranges werden, der imstande wäre, geradezu
eine Verschiebung der Machtverhältnisse der europäischen Staaten
hervorzurufen. Allerdings ist nicht außer acht zu lassen, daß
eine Eroberung des Landes eine schwierige und langwierige Auf-
— 38o -
gäbe wäre, weniger die des Atlasvorlandes, durchweg offenen
vom Ozean aus leicht zugänglichen Landes, um so mehr die des
ziemlich dicht besiedelten Rifgebiets und des Gebirgslandes des
Atlas , dessen Unterwerfung eine Vorbedingung der Eisenbahn-
verbindung von Fäs mit Algerien wie mit dem Mittelmeere ist.
Die Zersplitterung der Gebirgsvölker in viele kleine sich meist
demokratisch selbst regierende, untereinander in Fehde und Blut-
rache liegende Stämme würde bei ihrer unbändigen Freiheitsliebe
und den Geländeschwierigkeiten nur wenig Erleichterung bieten.
Namentlich der natürliche Weg , durch welchen Frankreich Ma-
rokko an sich ketten könnte, die oben besprochene Tiefenlinie,
auf der sich in diesem Augenblicke die Kriegsoperationen be-
wegen, wird erst sicher sein, wenn die Gebirgsvölker im Norden
und im Süden davon, die mächtigen Stämme der Rhiata,
Hiaina u. a. völlig besiegt sein werden. Und gerade diese nord-
marokkanischen Berbern sind jetzt mit den besten europäischen
Hinterladern bewaffnet, die ihnen der Schmuggel von Spanien
und Gibraltar, vielleicht neuerdings auch von Algerien her zuge-
führt hat. Es will scheinen, als wollten die europäischen Mächte
im klaren Bewußtsein der furchtbaren Gefahr, die die Aufrollung
der marokkanischen Frage für den Weltfrieden in sich birgt, auch
jetzt unbedingt dieses europäischer Gesittung hohnsprechende
Staatswesen aufrecht erhalten. Für Frankreich handelte es sich
bei Erregung oder Förderung des Aufstandes des Bu Hamara
zunächst wohl nur darum, den übergroß gewordenen englischen
Einfluß am Hofe zu brechen. Die großen Erfolge, welche es
durch die Unklugheit des Sultans und seiner englischen Ratgeber
erzielte, ermöglichten dann den Vertrag vom 8. April 1904,
welcher scheinbar Marokko Frankreich völlig überließ. Freilich
hat sich seitdem gezeigt, was jeder Kenner schon voraussah, daß
die friedliche Eroberung ein schöner Traum war. Will Frankreich
Marokko besitzen, so muß es es erobern, mag es wollen oder
nicht: eine Aufgabe, die für Frankreich, das schon 6 Millionen
haßerfüllte Eingeborene in Algerien und Tunesien niederzuhalten
hat, geradezu verhängnisvoll werden kann. Merkwürdig mutet es
dabei an, daß für das Deutsche Reich in Marokko überhaupt
keine politischen Interessen vorhanden sein sollen, während an
der Meerengenfrage alle Handelsvölker beteiligt sind und wir
doch in bezug auf die wirtschaftlichen Interessen dort in zweiter
- 38r -
Stelle stehen. Diese wären dem Untergange geweiht, unsere
Stellung als Welt- und Welthandelsmacht wäre aufs äußerste ge-
fährdet, wenn Marokko in irgend einer Form in die Hände
Frankreichs fiele. Für das Deutsche Reich ist Aufrechterhaltung
Marokkos als unabhängiger Staat geboten, allerdings unter wirt-
schaftlicher Erschließung mit gleichem Licht und gleicher Sonne
für alle Völker. Wird einmal eine Veränderung der politischen
Karte dieses Teils von Afrika unvermeidlich, so muß das Deutsche
Reich sein Teil erhalten: el Haus und Sus. Unser Interesse
an der Meerenge ist zur Not gewahrt, wenn sich dort zwei
Mächte, Spanien selbstverständlich nicht als Macht gerechnet, die
Wage halten. Jedenfalls sind die geographischen Verhältnisse
der von jeher latent vorhanden gewesenen politischen Zerteilung
dieser Ländergruppe günstig.
5. Französische Kolonialpolitik in Nordwestafrika.^)
Der Abschluß des deutsch-französischen Kamerunvertrages
vom 15. März 1894 legt es nahe, einmal einen zusammenfassen-
den Blick auf die Vorgänge und Bestrebungen zu werfen, welche
in diesem Vertrage mit einem glänzenden Erfolge Frankreichs
nunmehr einen äußeren Abschluß erhalten haben.
Ein Triumph Frankreichs ist dieser Vertrag unzweifelhaft,
seine Bedeutung wird noch dadurch erhöht, daß er dem ver-
haßten Feinde, dem Deutschen Reiche, abgekämpft ist. Durch
Glück und die Gunst der geographischen Verhältnisse mit herbei-
geführt, ist er doch als ein wohlverdienter zu bezeichnen. Es hat
lediglich hier zielbewußtes, opferbereites, durch keinen Mißerfolg
zu erschütterndes Streben seinen Lohn gefunden. Dieser Aus-
gang des Kampfes um das Hinterland von Kamerun war bereits
vorauszusehen in dem Augenblicke (1885), wo die Regierung,
sich den nur auf den augenblicklichen Nutzen gerichteten, eng-
herzig eigensüchtigen x\uschaungen der Hamburger Kaufleute an-
schließend, trotz Drängens von anderer Seite grundsätzlich darauf
verzichtete, durch größere Unternehmungen auf den eben er-
schlossenen Wasserstraßen des Ubangi, dem sich 1 890 der noch
l) Preuß. Jahrbücher. Bd. 76. Heft 2. 1894.
— 382 -
günstigere Sanga anreihte, vom Kongo aus das weitere Hinterland
von Kamerun zu sichern. Der Mangel an Wagemut und weitem
Blick trat da recht bedauerlich auf unserer Seite hervor. Frei-
lich, der deutsche Philister nennt das, was Engländer und Fran-
zosen im letzten Jahrzehnt in Afrika getrieben haben, abenteuer-
liche Politik und vollberechtigtes, starkes Nationalbewußtsein ist
ihm Chauvinismus. Jener erste Mißgriff der Regierung findet
zum Teil wenigstens eine Entschuldigung darin, daß es in den
breiten Schichten des deutschen Volkes und vollends in unserer
Volksvertretung an Verständnis und an Opferwilligkeit für diese
überseeischen Dinge fehlt, während beide in Frankreich in hohem
Maße vorhanden sind. Wenn man mitten in diesen Dingen drin
steht und sieht, wie klein die Zahl derjenigen bei uns ist, die
überhaupt eine Ahnung davon haben, daß es sich in der Kolo-
nialpolitik um nichts Geringeres als um die Sicherung der Zu-
kunft unseres Volkes handelt, und daß diese wenigen zum großen
Teil nicht zu den mit Glücksgütern gesegneten gehören, vermag
man sich tiefer Entmutigung nicht zu erwehren. Welche Mühe
kostet es bei uns, um die kleinen Summen zusammenzubetteln!
In letzter Stunde noch werden 50 000 Mark zusammengebracht
zur Ausrüstung der Uechtritzschen Expedition, die doch dazu
beigetragen hat, einiges zu retten, während die Franzosen in
wenigen Wochen 1892 130000 Francs und bis Ende des Jahres
257000 Frcs. zur Ausrüstung der Maistreschen Expedition zu-
sammen hatten. Die Opferwilligkeit würde allerdings auch bei
uns größer sein, wenn ein zielbewußtes weitausschauendes Vor-
gehen der Regierung dazu ermutigte. Während unsere Sendlinge
sich mit ihren schwachen Kräften und Mitteln durch die feuchten
Urwaldgehölze und feindliche Völker zu Lande von Kamerun
aus vorzudringen abmühten, sozusagen den Stier bei den Hörnern
packten, kamen uns die Franzosen auf den bequemen Wasser-
straßen vom Kongo, ja selbst vom Binue aus zuvor, schlössen
Verträge und gründeten Stationen an Orten, die wir unserem
Machtbereich bereits für gesichert hielten. Daß wir noch so viel,
eine Ausdehnung unseres Machtbereiches bis zum Schari und
zum Tschadsee, erreicht haben, also . über Gebiete, auf die wir
tatsächlich keine anderen Rechtsansprüche erworben haben, als
diejenigen, die jemand aus der rein wissenschaftlichen Tätigkeit
deutscher Forscher früherer Zeiten herleiten möchte, das beruht
— 383 —
wohl im wesentlichen darauf, daß die Franzosen, abgesehen von
der Uechtritzschen Expedition, mit Rücksicht auf die Engländer
und namentlich wegen der Zusammenstöße mit denselben im
Innern von Oberguinea zu einem Abschlüsse und einer Regelung
der Grenze uns gegenüber zu kommen wünschten.
Da jetzt nur noch in Togoland ähnliche Fragen, aber von
untergeordneter Bedeutung, zu regeln sind, so bildet dieser Ver-
trag den wirkUchen Abschluß der Aufteilung Afrikas und unserer
an derartigen traurigen Episoden nicht gerade armen Geschichte
der Gründung unseres Kolonialreiches; für Frankreich bezeichnet
er die Erreichung eines großen mit bewundernswerter Opfer-
freudigkeit und Tatkraft, erst unsicher und tastend, bald aber
immer sichereren Schrittes angestrebten Zieles. Da die Franzosen
schon vorher, in ähnUcher Weise wie uns, dem Kongostaat ein
gewaltiges Ländergebiet vorweg genommen hatten, reicht ihr
Machtbereich, teils durch internationale Verträge anerkannt, teils
von niemand bestritten, von 5° südlich vom Äquator bis 37*^ Nord,
vom Kongo bis zum Mittelmeere, dessen Südgestade in Klein-
afrika in etwa 25 stündiger Fahrt der Südküste Frankreichs gegen-
über liegt. Sehr rasch hat somit das Ende 1890 erst gegründete
Comite de l'Afrique fran^aise, eine große, alle Stände und
Berufsarten umfassende Gesellschaft, ihr Ziel, alle Besitzungen
Nord- und Westafrikas durch Erschließung des Iimem unter
sich zu verbinden und zunächst das französische Kongogebiet
nordwärts bis zum Tschadsee auszudehnen, äußerlich wenigstens
erreicht. Nur die (bekanntlich seitdem auch erreichte) Ver-
bindung des Sudan mit Algerien fehlt noch. Im Süden bildet
somit heute der Kongo von unterhalb des Stanleypool bis zur
Mündung des Ubangi, seines großen rechten Zuflusses, dann
dieser selbst bis zur Mündung seines rechten Zuflusses Mbomu
{2^° ö. L. V. Gr.) die anerkannte Grenze des französischen Ge-
bietes gegen den Kongostaat, östlich von unserem Kamerun-
gebiet, das immerhin noch ungefähr 495 000 qkm umfaßt, also
dem Deutschen Reiche selbst wenig nachsteht, ist fast das ganze
Scharibecken, also namentlich die große von G. Nachtigal er-
forschte Landschaft Bagirmi Frankreich überantwortet. Das gleiche
gilt vom größeren Teile des mehr einem flachen, sich periodisch
ausdehnenden und verkleinernden Sumpfe ähnelnden Tschadsees,
da, von dem kleinen uns jetzt zugesprochenen südlichen Uferstück
— 384 -
abgesehen, der englisch-französische Vertrag vom 5. August 1890
nur das allerdings wertvollste, vom Golf von Guinea am leich-
testen zu erreichende Südwestufer des Sees im Reiche Bomu,
England zusprach. Dieser Vertrag erkannte ausdrücklich die
Freiheit des weiteren Hinterlandes von Kamerun an und gab so
den Franzosen den sofort benutzten Anstoß vom Kongo aus in
diese Länder vorzudringen, wie der uns verhältnismäßig günstige
englisch-deutsche Vertrag vom 15. November 1893, der uns den
Zugang zum Tschadsee sicherte, sofort die nunmehr befriedigten
Ansprüche Frankreichs hervorrief. Die englisch-französische Grenze
im mittleren Sudan verläuft im allgemeinen von Barrua am Tschad-
see in westUcher Richtung nach Say am Niger, so daß also, wie
schon seit längerer Zeit das Senegalgebiet, so jetzt auch das
ganze obere Nigergel)iet als französischer Einflußbereich anerkannt
und in der Tat auch schon zum Teil französisches Schutzgebiet
ist. Auch hier haben die Franzosen sofort nach Abschluß des
Vertrages durch Major Monteil, der vom Senegal ausgehend
(Oktober 1890), über Segu und Say am Niger, Sokoto und Kano
den ganzen westlichen Sudan bis Kuka am Tschadsee (April 1892)
durchquert hat, die Grenzlandschaften gegen den englischen
Machtbereich zwischen Niger und Tschad in ihrem Interesse
durchreisen und bearbeiten lassen. Doch ist der wirkliche Ver-
lauf der Grenze hier noch sehr zweifelhaft, da die Engländer,
besonders die englische Nigergesellschaft, als Schutzherren der
wichtigen Fellatahstaaten, alles in Anspruch nehmen, was irgend-
wie zum Reiche Sokoto gehören könnte, selbst die Landschaft
Damergu, ja sogar die bereits in der Sahara gelegene Oasen-
landschaft Agades und A'ir.^)
I) Nach Vertrag vom 14. Juni 1898 mit England verläuft die Nord-
grenze des englischen Nigeria zwischen Tschadsee und Niger ungefähr unter
14" n. Br. Was nördlich davon liegt, so namentlich der größte Teil der
mittleren und der westlichen Sahara, abgesehen von dem spanischen Gebiet
des Rio de Oro am Ozean, ist als französisches Einflußgebiet anerkannt.
Im Jahre 1900 wurde die wichtige Oasengruppe von Tuat, der Knoten-
punkt der Handelswege vom Nigerbogen und dem französischen Timbuktu
her nach den Atlasländern erobert. Wird die Herstellung einer regel-
mäßigen Verbindung, die viel erörterte Transsaharaeisenbahn zwischen Al-
gerien und dem Niger auch noch lange auf sich warten lassen, so ist es
doch endlich nach jahrzehntelangem Bemühen und großen Verlusten dem
- 385 -
Mit einem gewissen Rechte können die Franzosen somit
heute ganz Nordwestafrika bis zu einer Linie von der Kleinen
Syrte zum Tschadsee und Kongo als französischen Machtbereich
ansehen, innerhalb welches zerstückt deutsche, englische, portu-
gisische, spanische Gebiete und Marokko, alle rings von fran-
zösischem Gebiet umschlossen, liegen. Vielleicht träumt man
schon davon, daß eine Aufsaugung dieser fremden Einschlüsse
nur eine Frage der Zeit ist. Jedenfalls wird eine endgültige,
den geographischen Verhältnissen mehr Rechnung tragende Auf-
teilung Afrikas erst durch einen europäischen Krieg herbeigeführt
werden. Hoffen wir, daß bis dahin auch bei uns die nötige
Einsicht durchgedrungen ist, die das ganze Afrika nicht mehr als
eine Last ansieht, die man lieber abschütteln als weiter ver-
mehren möchte.
Man kann dies französische Nordwestafrika auf 9,6 Mill. qkm,
so viel wie ganz Europa, fast y^ von Afrika, das 18 fache von
Frankreich, mit sSYg Mill. Bewohnern schätzen. Wie schon letz-
tere Zahl erkennen läßt, ist ein sehr großer Teil dieser ungeheuren
Landmasse überhaupt unbewohnbar, der Rest sehr dünn bevölkert,
wenn auch einer großen Verdichtung der Bevölkerung zugänglich.
Vor allem gilt dies vom Nordrande von Kleinafrika, der viele
Millionen europäischer Ansiedler aufzunehmen fähig ist. Den bei
weitem besten Teil des tropischen Nordwestafrika haben aller-
dings die Engländer an sich gerissen, das untere Nigergebiet
und den Zentralsudan bis zum Tschadsee, Länder, die schon
heute dicht bevölkert, reich an großen Städten als Sitzen des
Handels und der Gewerbtätigkeit mit wohlgeordneten Staatswesen
sich rasch zu einem wichtigen Absatzgebiete britischer Erzeug-
nisse zu entwickeln vermögen, um so rascher, da hier allein
Innerafrika durch große Wasserstraßen, wie sie der Niger und
sein großer linker Zufluß Binue bilden, von der tiefen Ein-
buchtung von Guinea aus zugänglich ist. Immerhin sind aber
auch das französische obere Nigergebiet und das Senegalgebiet
sehr zukunftsreich. Sie bergen Sitze tief ins Mittelalter hinein-
Reisenden Foureau 1898 gelungen, von Algerien aus die Sahara nach dem
Sudan zu durchqueren, ja 1904 begegneten sich zwei französische militä-
rische Forschungsgesellschaften, die eine unter Laperrine von Tuat, die andere
unter Thevoniant von Timbuktu ausgegangen, mitten in der Wüste in Ti-
missao unter 22 * n. Br.
Fischer, Mittelmeerbilder. 25
— 386 -
reichender Gesittung, alte Staatenbildungen und sind durch die
Wasserstraße des oberen Niger, welche sich freilich sehr unvoll-
kommen im Senegal fortsetzt, beide zwischen Kayes am Senegal
und Bammako am Niger durch eine Eisenbahn verbunden, vom
Ozean aus zugängUch. Hier liegt eine, wohl die wichtigste Zu-
gangsstraße Frankreichs zu Innerafrika. Dakar, der Haupthafen
der Senegalkolonie, dicht unter dem Grünen Vorgebirge, ist in
elf Tagen von Marseille erreichbar.^) Bedeutungsvoll ist dabei,
daß die Senegalkolonie zugleich eine der ältesten französischen
Kolonien überhaupt ist, der einzige vor der unersättlichen Länder-
gier Englands gerettete größere Rest des ersten französischen
Kolonialreiches. Seit vollen zwei Jahrhunderten herrschen hier
die Franzosen, aber sehr langsam hat sich ihr Einfluß nach dem
Innern, selbst längs dem Senegal ausgedehnt, etwas rascher
eigentlich erst seit 1880; erst 1883 setzten sie sich unter Oberst
Desbordes in Bammako am oberen Niger fest und drangen von
da, Stationen gründend und Schutzverträge schließend, nicht ohne
heftige, Wechsel- und verlustvolle Kämpfe, die bei uns die Kurz-
sichtigkeit und Parteiwut wahre Orgien hätten feiern machen,
sowohl stromauf, wie stromab weiter vor. Namentlich gelang es
auch durch Schutzverträge die französische Elfenbeinküste mit
dem oberen Nigergebiet in Verbindung zu bringen, so daß dort
jede Ausdehung der englischen und portugiesischen Besitzungen
wie der Republik Liberia nach dem Innern unterbunden ist.
Überall rückt die unmittelbare Herrschaft Frankreichs der Schutz-
herrschaft rasch nach. Den äußersten Punkt französischer Herr-
schaft bildet das heute wieder einmal vielgenannte Timbuktu,
das am 10. Januar 1894 besetzt wurde, nachdem französische
Kanonenboote schon seit April 1893 in Kabara, dem Flußhafen
von Timbuktu am Niger, stationiert gewesen waren. Damit ist,
wenn auch mit Rücksicht auf Anbahnung besserer Beziehungen
zu den Tuareg vielleicht zu früh, ein hochbedeutungsvoller Schritt
geschehen. Denn behaupten wird Frankreich Timbuktu unter
allen Umständen, wie die neuesten Nachrichten tatsächlich auch
bereits von in Ausführung begriffenen Festungsanlagen dort
melden.
l) Es wird jetzt zu einem großen Seekriegshafen und Flottenstützpunkte
ausgebaut.
- 38? -
Die augenblickliche Bedeutung von Timbuktu ist eine ge-
ringe, es ist durch Lahmlegung des Handels infolge der unauf-
hörlichen, sich meist um den Besitz dieses wichtigen Punktes
drehenden Kämpfe zwischen den Bewohnern der Wüste, heute
den Tuareg, und den Bewohnern des Kulturlandes, heute der
Fulbe, ziemlich entvölkert und verödet. Schon H. Barth, durch
den wir es zuerst kennen gelernt haben, fand es 1853 gesunken
und schätzte seine kennzeichnend für die Handelsstadt außer-
ordentlich bunt gemischten Bewohner nur auf 13000, O. Lenz
1880 auf etwa 20000, seitdem scheint aber ein rascher Rück-
gang stattgefunden zu haben und der Handel arg darnieder zu
liegen. Die Lagenverhältnisse von Timbuktu sind aber so aus-
gezeichnete, daß es in den Händen einer starken Macht rasch
wieder die Bedeutung erlangen muß, die es in früheren Jahr-
hunderten gehabt hat. Die Stadt liegt 15 km nördlich vom Niger,
der aber bei Hochwasser noch die Umgebung überflutet, in
wüstenhafter Umgebung, nur durch den Flußhafen Kabara, der
aber auch an einem Seitenarme liegt, mit dem Strome verkehrend.
Dieser bildet hier ein auffälliges Knie und ändert seine bisherige
Nordostrichtung, also in die große Wüste hinein, erst in Ost,
weiterhin in Südost. Um diese Lage, die die Stadt als gegen
die Wüste vorgeschoben, aber durch die beiden schiffbaren
Schenkel des Stromes mit dem Sudan verbunden erscheinen läßt,
noch bedeutungsvoller zu machen, wird hier der oberhalb mehr-
fach geteilte, große Zuflüsse aufnehmende Strom, also ein Bündel
von Wasserstraßen, in eine einzige Rinne zusammengedrängt.
Timbuktu ist also ein zum Austausch der Erzeugnisse völlig ver-
schieden ausgestatteter Gebiete, des Sudan und der Sahara und,
da Wasserplätze und Oasen sowohl von Südwestmarokko, wie
von Tuat und Tripolitanien her die Wüstenstraßen auf diesen
Punkt lenken, auch der Mittelmeerländer und Europas wie ge-
schaffener Punkt. Sind doch die Beziehungen zu den zissaha-
rischen Ländern so enge, daß man nicht nur zahlreiche Vertreter
aller nordafrikanischen Völker in Timbuktu findet, sondern ein
marokkanisches Heer 1588 die Stadt eroberte, die auf ein Jahr-
hundert Marokko Untertan blieb. Als Handelsstadt war Timbuktu
namentlich im Mittelalter, aber auch noch später, obwohl oft er-
obert und verwüstet, ein Sitz des Reichtums, wenn auch nicht in
dem Maße wie es wohl geschildert worden ist, eine Stätte mo-
25*
- 388 -
hammedanischer Gesittung und Gelehrsamkeit, die wohl von hier
aus zuerst in den Sudan kulturfördernd eingedrungen ist. Wer
will behaupten, daß es in nicht ferner Zukunft, wenn es den
Franzosen gelingt die Verbindung mit dem Mittelmeere her-
zustellen, in ähnlicher Weise der Ausgangspunkt europäischer
Gesittung für den Sudan wird? Das Klima scheint derartig zu
sein, daß Europäer in großer Zahl und andauernd als Kultur-
träger dort wohnen können. Die geographischen Bedingungen
zu einem neuen Aufblühen Timbuktus sind nur in geringem
Maße dadurch geändert, daß der zentrale Sudan durch Niger
und Binue einen bequemeren Weg zum Meere und nach Europa
erhalten hat, aber die Erzeugnisse der Sahara, das für den Sudan
überaus wichtige Salz, Datteln, Lederarbeiten u. dgl. sind noch
die gleichen, ebenso die des Sudan, die unter europäischen Ein-
flüssen nur in weit größeren Mengen hervorgebracht werden und
für welche die sich mehrende Bevölkerung immer größere Mengen
europäischer Waren wird aufnehmen können.
Verfrüht kann die Besetzung von Timbuktu namentlich in-
sofern erscheinen, als die Anbahnung friedlicher Beziehungen zu
den Tuareg, die sich nun sozusagen zwischen zwei Feuer ge-
nommen sehen, abgesehen von dem Verluste von Timbuktu zu-
gleich als Einnahmequelle, immer schwieriger werden muß. Und
solche herzustellen, da Gewalt anzuwenden sehr schwierig ist,
schien gerade in letzter Zeit das eifrige Streben der französischen
Kolonialpolitiker zu sein. - Denn seit langem ist es eines der
Hauptziele derselben von Algerien aus den Verkehr mit dem
Sudan, der seit der Eroberung Algeriens durch die Franzosen
ganz aufgehört hat, neu zu beleben, ja Timbuktu und den Sudan
durch eine Eisenbahn (le Transsaharien) an Algerien und Frank-
reich zu knüpfen. Seit etwa anderthalb Jahrzehnt steht diese
Eisenbahn in Frankreich im Vordergrunde der Erörterung und
mit zähester Folgerichtigkeit, durch keinen Mißerfolg entmutigt,
arbeiten die Regierung und weite Kreise der Nation an der Vor-
bereitung und Weiterführung dieses großen Planes. Man ist
sogar so weit gegangen, sich um die friedliche Mitwirkung der
Herren der Wüste, der Tuareg, zu bemühen, obwohl der schwerste
Mißerfolg, den Frankreich hier erfahren hat, die Ermordung des
Obersten Flatters mit fast seiner ganzen Begleitung, gegen
150 Mann, durch die Tuareg in der Sahara zwischen Assiu und
- 389 —
Air, etwa unter dem 20. Parallel im Februar 1881 noch heute
ungerächt ist.
Es lohnt einen Augenblick bei den Bestrebungen der Fran-
zosen zu verweilen, denen schon viele Millionen und Hunderte
von Menschenleben geopfert worden sind und die, trotzdem die
damit erzielten Erfolge gleich Null sind, mit einer Zähigkeit, ge-
rade in den letzten Jahren, weitergeführt werden, der schließlich
der Erfolg nicht fehlen wird. Es ist eben dieses Vorgehen der
Franzosen in Afrika zurückzuführen auf den wohlberechtigten
Nationalstolz dieses Volkes. Wie derselbe in Europa zur Wieder-
erlangung der verlorenen Vorherrschaft den letzten Mann, der
nur eben Waffen tragen kann, in das Heer einreiht und dafür
die drückendsten Geldopfer bringt, so ist er gleichzeitig bemüht
über See dem gewaltig anschwellenden Angelsachsen- und
Slawentum gegenüber, die schon heute, und nächst ihnen die
Deutschen, an Kopfzahl die Franzosen weit in Schatten gestellt
haben, die größten Ländergebiete dem französischen Einflüsse,
dem französischen Handel zu sichern. Ein so unentwegt folge-
richtiges Vorgehen, trotz der unablässig wechselnden Ministerien,
wäre nicht möghch, wenn nicht die breitesten Schichten der Nation,
wie Regierung und Volksvertretung von der Überzeugung durch-
drungen wären, daß die äußere Machtstellung eines Volkes sich auch
in der Anerkennung wiederspiegelt, welche seine Erzeugnisse auf
dem Weltmarkte finden, und daß es sich in dem gewaltigen
wirtschaftlichen Ringen der Völker darum handelt, über See
Frankreich ein großes geschlossenes W^irtschaftsgebiet zu sichern,
in welchem sich seine reichen Geldmittel und seine Kulturkräfte
unter dem Schutze des eigenen Staates nutzbringend betätigen
können; Länder zu erwerben, welche Frankreich für den Bezug
von Roh- und Nährstoffen, für den Absatz der Erzeugnisse des
eigenen Gewerbefleißes vom Auslande mehr und mehr unab-
hängig zu machen imstande sind. Wie weit sind wir Deutschen,
Hoch und Niedrig, noch von dieser Erkenntnis entfernt, wie
kläglich ist das Schauspiel, welches unsere Volksvertretung und
unser Volk bietet, wenn es sich um Sicherung unserer Zukunft
auf dem Wege der Kolonialpolitik oder um die Vermehrung un-
serer Streitkräfte und Aufbringung der Mittel für dieselben han-
delt. Trotzdem wir mit unserem Heere und mit den geringen
Mitteln, die uns zur Erwerbung und Entwickelung unserer Schutz-
— 390 —
gebiete zur Verfügung standen, Großes geleistet haben! Trotzdem
wir Geschick und Kulturkräfte, an denen, wie wir sehen werden,
Frankreich gewiß keinen Überfluß hat, ja selbst Geld in Fülle
besitzen! Ungeheuere Verzinsung suchende Summen haben unsere
in allen überseeischen Dingen kläglich unwissenden, mißleiteten
Sparer an so vertrauenerweckende Völker wie Griechen und
Portugiesen verloren, die sie auf mindestens ebenso gewagte
Unternehmungen verwendet haben, wie in unseren Kolonien, nur
ohne daß unsere redliche Verwaltung die Verwendung überwachen
konnte. Wenn nur ein Bruchteil derselben in Eisenbahnen, Pflan-
zungen und dergleichen in unseren Schutzgebieten, wo wenig-
stens gegen Rechtsanschauungen, wie sie jene Völker zeigen,
Gewähr geleistet M'äre und wir selbst die Verzinsung in der
Hand hätten, angelegt worden wäre, wieviel weiter wären wir
schon heute!
Die Katastrophe der Flattersschen Expedition hat die Ver-
suche der Franzosen, durch die Sahara ihren den Niger abwärts
vordringenden Streitkräften die Hand zu reichen, nur für kurze
Zeit unterbrochen. Namentlich hat auch die Wissenschaft durch
dieselben und die Vorarbeiten für die Eisenbahn wesentliche
Förderung erfahren. Die Oberflächenformen, den geologischen
Aufbau der großen Wüste, die Lage der so wichtigen wasser-
führenden Schichten kennen wir heute, namentlich durch die er-
folgreiche Tätigkeit des Geologen G. Rolland, der die Vorarbeiten
für die Eisenbahn leitet, wesentlich besser. Es scheint trotz des
Wettbewerbs der anderen Provinzen doch der von Constantine
und Philippeville am Mittelmeere ausgehenden Linie der Vorzug
zu geben zu sein, da diese nicht nur seit mehreren Jahren bis
Biskra, am Rande der Wüste, in Betrieb, sondern bereits darüber
hinaus bis Tuggurt im Bau und bis Wargla vorbereitet ist. Wie
schon von Biskra an die Schwierigkeiten nur in dem Mangel an
Wasser und drohenden Sandverwehungen liegen, so scheint auch
von Wargla nach den Forschungen von M. G. Mery im Jahre
1893 das Gelände unter Benutzung des 12 — 13 km breiten
sandfreien Bettes des Wadi Jgharghar auf volle neun Tagereisen
keine Schwierigkeiten zu bieten. Freilich bleibt auch dann
noch eine ungeheuere Strecke unerforscht und die Entfernung
des äußersten von den Franzosen besetzten Postens, Hassi Inifei,
von Timbuktu beträgt noch i 700 km, d. i. so viel wie von Berlin
— 391 —
nach Konstantinopel. Und wenn wirklich alle Schwierigkeiten,
welche Natur und Menschen entgegenstellen, überwunden würden,
so würde die Ertragsfähigkeit der Eisenbahn noch lange eine so
mangelhafte sein, daß nur ihre große politische Wichtigkeit einen
Ausgleich gewähren könnte. In jeder Hinsicht würde die Be-
deutung derselben aber eine gewaltige Einbuße erleiden in dem
Augenblicke, wo diejenige Linie gebaut würde, welche die Natur
selbst vorgezeichnet hat: von Tripoli zum Tschadsee. So sehr
die Franzosen die Vorzüge dieser Linie zu leugnen bemüht sind,
so deutlich verraten ihre auch auf Tripolitanien , im Wettbewerb
mit Italien, gerichteten begehrlichen Blicke, daß sie innerlich von
denselben vollauf überzeugt sind.
Seit einer Reihe von Jahren rücken die Franzosen planmäßig
in der Sahara vor, indem sie einerseits ihre festen Posten immer
weiter vorschieben, die älteren verstärken und besser nach rück-
wärts verbinden, andererseits die Tuareg zu gewinnen suchen.
In letzterer Hinsicht ist die Reise eines Abgesandten der Eisen-
bahngesellschaft, des eben erwähnten M. G. Mery, im Jahre 1893
zu erwähnen, der am jetzt trockenen Menkhoughsee mit den
Häuptern der Tuareg Asdscher eine Zusammenkunft hatte. Die-
selben gaben die Erklärung ab, daß sie friedlichen Verkehr der
Franzosen nicht hindern würden, einem bewaffneten Vordringen
jedoch allen Widerstand entgegensetzen würden. Um dieselbe
Zeit verhandelte F. Foureau, einer der unerschrockensten und
erfolgreichsten neueren Saharaforscher, dessen Bekanntschaft ich
1886 in Biskra machen konnte, in der Nähe von Ghadames
mit anderen Häuptern der Tuareg. Ihm kam es namentlich
darauf an, die Tuareg zur Anerkennung des von den Franzosen
immer wieder hervorgezogenen Vertrages zu bringen, welchen
Oberst Mircher 1862 in Ghadames im Namen des Marschall
Pelissier mit den Tuareg abgeschlossen hatte und der nach fran-
zösischer Auffassung allen französischen Kaufleuten im ganzen
Machtbereiche der Tuareg vollkommene Sicherheit gewähren sollte.
Foureau ist soeben von einer letzten, in diesem Winter zu ähn-
lichen Zwecken nach Ghadames unternommenen Reise nach
Algerien zurückgekehrt, während vom Senegal aus L6on Fabert
die Stämme der südwestlichen Sahara seit i8gi zu gewinnen
sucht. Auch Gesandtschaften der Tuareg sind wiederholt und
noch 1892 in Algier gewesen und haben selbstverständlich stets
— 392 —
eine ausgezeichnete Aufnahme gefunden. Alle diese Bemühungen
sind aber bisher erfolglos, ja zum Teil unheilvoll gewesen, indem
sie bei den Franzosen eine Vertrauensseligkeit hervorriefen, die
zu solchen Katastrophen wie die Vernichtung der Flatterschen
Expedition führten. Die Besetzung von Timbuktu dürfte wohl auf
lange Zeit Anknüpfungsversuche unmöglich machen.
Langsamer, aber sicherer muß die immer weitere Vorschie-
bung französischer Posten zum Ziele führen. Wargla, der größte
dieser Posten, 32^ n. Br., schon 1852 von den Franzosen be-
setzt, als Mittelpunkt einer sehr großen Oase im Mittelalter ein
Hauptsitz des Handels, birgt schon eine kleine bürgerliche fran-
zösische Kolonie, namentlich auch eine Niederlassung der Väter
der Missionsgesellschaft von Äquatorialafrika und ist heute der
Ausgangspunkt aller Unternehmungen in der Sahara. An El
Golea, das, 300 km weiter südwestlich, 1873 in Besitz genommen
ist, sind im Herbst 1892 noch Hassi Inifei, noch weitere 150 km
südwärts, ein spärlich mit Wasser versehener Punkt, ohne Bedeu-
tung für den Handel, aber strategisch wichtig zur Beherrschung
der Wege nach Tuat, ferner Mey und Berrec^of, dieses in der
Richtung auf Ghadames, besetzt und befestigt worden. Eine
eigene Kamelreiterei ist für den Dienst so tief im Innern der
Wüste errichtet worden. Allerneueste Berichte französischer Zei-
tungen erwähnen noch drei noch weiter gegen Tuat vorgescho-
bene Punkte, die soeben besetzt und befestigt worden sind oder
werden. Von den Forschern wird auf Errichtung von Posten in
El Biodh, Temmassinin, Messegem und Amgid, kleinen, nur zum
Teil bewohnten Oasen mit Quellen und Brunnen, gedrungen, durch
welche man das Tuaregland selbst in Schach halten und die
Straßen von Ghadames und Rhat nach Tuat beherrschen könnte.
Noch wichtiger freilich wäre die längst geplante Besetzung der
großen Oasengruppe von Tuat und Tidikelt, namenthch In-Salah,
die noch kein Franzose hat betreten dürfen. Damit wäre ein
Hauptherd des Widerstandes gegen die Ausdehnung der Fran-
zosen in der Sahara, der wichtigste Knotenpunkt der Straßen,
besonders der nach Timbuktu führenden und vor allem der Punkt
in Frankreichs Gewalt, auf welchen die Tuareg für den Bezug
von Brotstoffen, Datteln, Pulver und dergleichen angewiesen sind.
Bisher haben die Tuater dieser Gefahr durch auffällige Anerken-
nung der Herrschaft von Marokko vorzubeugen gesucht. Es will
— 393 —
indessen scheinen, als sei ein Schlag gegen Tuat soeben nur
durch die rasche Beilegung des spanisch-marokkanischen Streites
vereitelt worden,^) Welche Aufmerksamkeit man in Frankreich
neuerdings den Vorgängen in der Wüste schenkt, darauf deutet
auch die Reise (1894) des jetzigen Generalgouvemeurs von Al-
gerien Cambon, eines der geschicktesten Verwalter und Diplo-
maten des heutigen Frankreich, bis nach Golea. Cambon hat es
sich besonders große Mühe kosten lassen, mit den Tuareg zu
einem Einverständnis zu kommen.
Der bei weitem größere Teil des französischen Kolonial-
reichs in Nordwestafrika ist also erst seit wenigen Jahren er-
worben, ja ist zum Teil erst auf der Karte französisch, viele
seiner Bewohner haben vielleicht den Namen Frankreichs noch
nie gehört. Vielfach wird es großer Klugheit und langer Kämpfe
bedürfen, um überhaupt die französische Herrschaft zur Anerken-
nung zu bringen. Alte Staaten, wie Baghirmi, werden noch ganz
anderen Widerstand entgegen stellen, wie Samory und Ahmadu^),
die Herrscher wenig in sich gefestigter Beiche im oberen Niger-
gebiet. Noch schwieriger erscheint allerdings die Aufgabe, welche
in dieser Hinsicht die Engländer im Niger- und Binuegebiet
übernommen haben, aber diese lassen ihre Herrschaft zunächst
durch eine Handelsgesellschaft vorbereiten und haben in der Be-
handlung von Herrschern und Völkern auf einer Stufe der Ge-
sittung, wie die dortigen, reiche Erfahrungen gesammelt. Jeden-
falls liegt die Bedeutung des französischen Nordwestafrika noch
in der Zukunft und kein Denkender wird erwarten, daß dasselbe
schon heute ein wesentlicher Faktor im Wirtschaftsleben Frank-
reichs, eine Machtquelle ist, die sich bei der Entscheidung der
Geschicke Europas schon heute geltend machen könnte. Daß
aber die Möglichkeit einer raschen Entwickelung an und für sich
vorhanden ist, das wird kein Einsichtiger leugnen. Denn schon
heute spielt Afrika mit seinen Erzeugnissen im Wirtschaftsleben
Europas, nächst England vor allem auch Deutschlands, eine sehr
große Rolle, obwohl noch kein halbes Jahrhundert, im Völker-
leben eine verschwindend kurze Spanne Zeit, vergangen ist, seit
durch Unterdrückung der Sklavenjagden und des Sklavenhandels
1) Die Franzosen haben bekanntlich 1900 Tuat besetzt.
2) 1898 unterworfen.
— 394 —
an der Westküste, — an der Ostküste und in einem großen
Teile des Innern ist ja diese Zeit noch nicht ganz vorüber —
gesetzmäßiger Handel dort hat Fuß fassen können. Denn bis
dahin kamen neben Sklaven sonstige Erzeugnisse Afrikas kaum
in Betracht und besonders für das Wirtschaftsleben Europas war
Afrika kaum vorhanden. Was wird demnach Afrika bei dem
fieberhaften Wettbewerbe aller Völker für Europa und besonders
für diejenigen Völker nach weiteren 50 Jahren sein, die sich einen
Anteil an diesem Erdteile zu sichern gewußt haben! Um so
wertvoller muß Afrika werden, je mehr die Yankees die Monroe-
doktrin, die nächst England uns Deutsche schädigen muß, zur
Anerkennung bringen.
Einen Einblick in das, was für Frankreich diese ungeheueren
Länder einmal werden können, kann, wenn auch nur bis zu
einem gewissen Grade, vielleicht eine Betrachtung dessen gewähren,
was dasselbe in dem am längsten seiner Herrschaft unterworfe-
nen, ihm am nächsten gerückten und überhaupt in vieler Hin-
sicht am meisten begünstigten Teile, nämlich in Algerien, geleistet
hat. Es unterscheidet sich Algerien allerdings vom übrigen fran-
zösischen Nordwestafrika, abgesehen von Tunesien, sehr wesent-
lich dadurch, daß dasselbe auch zur Aufnahme europäischer An-
siedler fähig ist, da sich sein Klima nur wenig von demjenigen
der Südküste Frankreichs untersclieidet. Dies muß aber doch
wohl als ein ungeheuerer Vorzug aufgefaßt werden, namentlich
für Frankreich, dem sich nun die Möglichkeit bietet, auf jung-
fräulichem Boden, fast im Angesichte des Mutterlandes, dessen
Bevölkerung im Gegensatz zum ganzen übrigen Europa stehen
bleibt oder zurückgeht, eine jugendfrische französische Bevölke-
rung heranwachsen zu sehen, die, infolge der räumlichen Nähe,
dem Mutterlande selbst von größtem Werte sein müßte und zu-
gleich berufen wäre, die Träger französischer Gesittung tiefer in
das afrikanische Festland hinein zu liefern. Daneben war hier
aber auch die gleiche Aufgabe gestellt, wie im ganzen übrigen
französischen Afrika, nämlich die Kulturerziehung und Anähn-
lichung fremdrassiger Landesbewohner. Daß diese bereits eine
eigene Kultur besaßen, mußte die Aufgabe ungewöhnlich er-
schweren, die Möglichkeit, Franzosen in Menge unter ihnen an-
zusiedeln, erlaubt aber auch eine Masseneinwirkung auf die Ein-
geborenen, während die Kulturerziehung in den Tropen nur von
— 395 —
einzelnen, noch dazu individuell unablässig wechselnden Kultur-
trägern ausgehen kann. Algerien als Kolonie bietet Frankreich
Vorzüge, wie sie von allen europäischen Völkern nur noch den
Russen im Besitz von Sibirien und Turkestan in noch höherem
Maße zuteil geworden sind. Allerdings wird man auch schon
jetzt sagen können, daß Turkestan, das in vieler Hinsicht als
europäisches Kolonialland mit Algerien verglichen werden kann,
nach 64 jähriger Herrschaft Rußlands diesem, trotz weit ge-
ringerer Opfer, weit mehr sein wird, als Algerien heute Frank-
reich ist.
Algerien ist französische Kolonie geworden fast wider den
Willen Frankreichs. Als die Franzosen am 14. Juni 1830 an
seiner Küste landeten, handelte es sich für sie nur um eine Züch-
tigung des Raubstaates, also um das gleiche, wie schon wieder-
holt vorher den Holländern, den Franzosen selbst und den Eng-
ländern, die erst 14 Jahre vorher unter Lord Exmouth Algier
beschossen hatten. Jahrelang, ja bis gegen 1850, schwankte man,
ob man sich dauernd festsetzen , ob man die Eroberungen aus-
dehnen oder auf die Küstenplätze, wie es früher die Spanier
getan hatten, die ja erst 1791 Oran geräumt hatten, beschränken
solle, ja noch heute beklagen französische Patrioten diese Er-
oberung, weil sie die Aufmerksamkeit von der Ostgrenze abge-
lenkt habe, und setzen den Verkist Elsaß-Lothringens zu der
Eroberung von Algerien in ursächliche Wechselbeziehungen. Bis
1835 hatten sich die Franzosen erst weniger Küstenplätze be-
mächtigt und erst 1847 konnte man nach den langen, wechsel-
vollen Kämpfen mit Abd el Kader die Unterwerfung des Teil,
des wertvollsten, in seiner ganzen Ausdehnung europäischer Be-
siedelung zugänglichen, von kleinen Ebenen durchsetzten Hügel-
landes längs dem Mittelmeere, für vollendet ansehen, obwohl
erst zehn Jahre später das Gebirgsland der großen Kabylei, fast
im Angesichte von Algier, bezwungen wurde. Schon vorher war
aber auch die Unterwerfung des Hochlandes und der Gebirgs-
landschaften des Saharaatlas angebahnt, ja schon 1849 wurde
das wichtige Biskra am Südfuße des Hochlandes und am Rande
der Wüste dauernd befestigt. Um 1860, also nach 30jährigen
Kämpfen, war die Eroberung vollendet. Aber noch zahlreiche,
bald örtlich beschränkte, bald allgemeinere Aufstände, wie 1871,
1879, 1881 und 1882 folgten. Es leuchtet ein, daß jenes
— 396 —
Schwanken, die langen Kämpfe und sich wiederholenden Auf-
stände der Entwickelung der Kolonie nicht günstig sein konnten.
Die Schuld an diesen Erschwerungen lag aber zum großen Teil
bei den Franzosen selbst.
Rein theoretisch betrachtet boten sich zwei Wege, die Ko-
lonie zur Entwicklung zu bringen: entweder man vernichtete die
Eingeborenen bzw. drängte sie in die Wüste und setzte an ihre
Stelle europäische Ansiedler, also wie es die Angelsachsen in
Nordamerika und Australien gemacht haben, oder man suchte,
durch französische Besatzungen den Besitz des Landes sichernd,
ähnlich den Engländern in Indien, die Eingeborenen durch Ge-
währleistung von Ruhe und Sicherheit, Förderung ihres mate-
riellen und geistigen Wohles unter Wahrung ihrer Religion und
sonstigen Eigenart für Frankreich zu gewinnen. Beide Wege hat
man zu gehen gesucht, träumte man doch unter Napoleon III.
von einem arabischen Königreiche, der erstere war aber zu allen
Zeiten, namentlich bei den in Algerien lebenden Franzosen, der
bei weitem beliebtere und derjenige, den die Regierung immer
und immer wieder eingeschlagen hat, wenn auch ohne es offen
einzugestehen; es war der Weg vor allem, den, meist ungestraft,
jeder Kolonist auf eigene Hand wandelt. Beide Wege erwiesen
sich aber schließlich als ungangbar und nicht zum Ziele führend,
der letztere mußte zum Verluste der Kolonie führen, denn er
hätte zu seiner Durchführung ein ganz außerordentliches Geschick
in der Behandlung der Eiiigeborenen gefordert, wie es den
Franzosen nicht eigen ist. So viele ausgezeichnete Eigenschaften
dieses Volk auch besitzt, Verständnis fremder Eigenart, die Fähig-
keit sich in eine fremde Volksseele hineinzuversetzen, ihr ge-
recht zu werden und somit auf sie einzuwirken, eine Eigen-
schaft, die wir Deutschen leider im Übermaß besitzen, ist ihm
nicht gegeben. Das zeigt, wie wir noch weiter ausführen werden,
namentlich auch die 64jährige Geschichte der Beziehungen der
Franzosen zu den Eingeborenen Algeriens recht deutlich. Der
erste Weg war ungangbar, weil es Frankreich tatsächlich an der
Macht fehlte, die Eingeborenen zu vernichten und noch viel mehr
an Menschen, um französische Ansiedler an ihre Stelle zu setzen,
die, einmal erstarkt, wie die Angelsachsen in den Vereinigten
Staaten, am kräftigsten das Vernichtungswerk hätten betreiben
können. Auch daraus ergab sich ein der Kolonie wenig förder-
— 397 —
liches Schwanken. Bald drängte man die Eingeborenen mit allen
Mitteln zurück und suchte Einwanderer unter allen möglichen
Vergünstigungen herbeizuziehen, bald tat man das Gegenteil.
Klarheit und Bestimmtheit hat bei den Regierenden fast immer
gefehlt, nicht nur die Menschen, auch die Anschauungen, Pläne
und Methoden haben unablässig gewechselt.
So ist Algerien zu einer kolonialen Mischform geworden,
sowohl Besiedelungskolonie, in welcher Europäer körperlich ar-
beitend das Land durch Ackerbau, Bergbau, Fischerei, Handel
und dergleichen ausbeuten, wie Betriebskolonie, in welcher die
Eingeborenen, freilich fast unbeeinflußt in althergebrachter Weise,
aber doch im wesentlichen zum V^orteile Frankreichs, Ackerbau
und Viehzucht treiben.
Man hat also in Algerien zwei Bevölkerungselemente zu
unterscheiden, die eingewanderten Europäer und die Eingeborenen,
zu denen wir die alteingesessenen Juden rechnen wollen, denen
bei ihrem Bildungsstande und ihren Beziehungen zu den Moham-
medanern 1870 das volle Bürgerrecht gewährt zu haben, heute
wohl allgemein als ein Fehler anerkannt wird.
Die Europäer, wenn wir uns diesen zunächst zuwenden
wollen, sind zum Teil durch den Staat, zum Teil durch groß-
kapitalistische Unternehmungen angesiedelt worden, nur wenige
und meist auch erst im letzten Jahrzehnt sind einzeln und selb-
ständig eingewandert.^) Der bis 1886 an und für sich geringen
französischen Auswanderung erschienen bis vor kurzem die Zu-
stände in Algerien so wenig verlockend, daß sie das ferne
Amerika vorzog. Die staatliche Kolonisation zeigt eine Fülle von
Mißgriffen. Man dekretierte Kolonien, ohne sich um die Mög-
lichkeit und Zweckmäßigkeit derselben zu kümmern, man baute
Dörfer fix und fertig, aber in fieberschwangeren Gegenden oder
ohne Wasser und Wege. Als Kolonisten bot sich meist nur der
l) Damit es nicht scheinen möge, als sei das folgende Bild von deut-
scher Mißgunst eingegeben, bemerken ^vir, daß wir absichtlich auf Wieder-
gabe der eigenen bei zwei Reisen durch das Land gesammelten Eindrücke
verzichten und uns nur auf französische Gewährsmänner erster Ordnung
stützen: einen Jules Ferry, der das Land kurz vor seinem Tode an der
Spitze eines parlamentarischen Ausschusses bereist hat, den früheren Unter-
staatssekretär Vignon, einen Kolonialpolitiker von Fach, den Minister Burdeau,
die Kammerverhandlungen und andere Quellen.
- 398 -
Abhub der großen Städte, namentlich von Paris dar, zumal auch
die Regierung lange Zeit Algerien als Ablagerungsstätte für solche
lästige Elemente ansah. In einem Falle z. B. war ein nettes
Dorf mit lauter steineren Häusern aufgebaut worden, jedes mit
umfriedigtem Garten und Hofraum und 6 ha Land. Wer sich
meldete, erhielt eine solche Stelle einzig unter der Bedingung,
daß er während der ersten zwei Jahre, in denen er vom Staate
unterhalten wurde, den sechsten Teil seines Besitzes urbar machte.
Das Gesindel, welches sich an diesen gedeckten Tisch setzte,
war natürlich unfähig oder auch nicht geneigt die gestellte Be-
dingung zu erfüllen, nach den zwei Jahren verschwand es von
selbst oder wurde es entfernt, bald war die Kneipe, die indessen
alle Barmittel dieser ,, Kolonisten" aufgenommen hatte, das einzige
noch bewohnte Haus.
Die großen Gesellschaften, welche sich zur Ausbeutung des
Landes bildeten, zogen natürlich brauchbarere Elemente heran.
Das waren aber vorwiegend Spanier oder Italiener. Namentlich
gilt dies von den Haifagesellschaften. Die Haifa (span. : Esparto),
ein starrhalmiges Steppengras von sehr geringem Nährwerte, ist
in den trockenen Landstrichen Algeriens, aber auch in Tunesien
und Tripolitanien, vor allem auch in Südostspanien so verbreitet,
daß man namentlich das Hochland von Algerien in großer Aus-
dehnung geradezu als Haifasteppe bezeichnen kann. Obwohl
schon von Karthagern und Römern in der Umgebung von Car-
thagena (Campus spartarius) im großen zur Herstellung von Schiffs-
tauen u. dgl. ausgebeutet, hat das Haifagras doch erst seit Anfang
der 6oer Jahre Bedeutung auf dem Weltmarkte erlangt, seit man
in England aus der Faser Papier, besonders für Zeitungen her-
zustellen begann. Große bis dahin selbst als Weideland gering-
wertige Flächen wurden nun in Ausbeute genommen und vor
allem mit der Pflanze und ihrer Behandlung schon vertraute, ge-
nügsame Spanier dafür herbeigezogen, die sich nach Ersparung
einer kleinen Summe, meist im Lande, vor allem in der haifa-
reichsten, Spanien am nächsten liegenden Provinz Oran, als Acker-
bauer niederließen und andere Landsleute nachzogen. So sind
heute in dieser Provinz, in welcher überhaupt die Zahl der
Fremden weit größer ist als die der Franzosen, 152000 Spanier^)
I) 1901 zählte man 155 OOO Spanier.
— 399 —
angesiedelt und sitzen dieselben in der Umgebung von Oran so
dicht, daß dort selbst die Franzosen spanisch sprechen müssen.
So ist ein beträchtlicher Teil der Provinz durch diese eine
Pflanze erschlossen und besiedelt worden. Häfen und Eisen-
bahnen, bis weit über das Hochland hin, die natürlich Verkehr
und Ansiedelung auch sonst gefördert haben, sind durch sie ge-
baut worden, sie ist, wenn auch jetzt sich ihre wirtschaftliche
Bedeutung zu mindern scheint, in ähnlicher Weise zum Segen
Algeriens geworden, wie etwa das Gold für Kalifornien.
Ein schädliches Tier hat in anderer Weise die gleiche Rolle
gespielt: die Reblaus. Die Verwüstung der französischen Wein-
berge durch die Reblaus hat zuerst eine freiwillige, wirklich wert-
volle Auswanderung von Franzosen nach Algerien hervorgerufen,
das von derselben noch ziemlich verschont geblieben ist und
sich für den Weinbau, wie wir schon aus dem Altertum wissen,
vorzüglich eignet. Trotz der sehr bedeutenden Kosten der Ur-
barmachung meist mit Gestrüpp bewachsenes Land ist die der
Rebe gewidmete Fläche von 1881 — 91 von 30000 auf 107000 ha
gestiegen.
Trotzdem so besonders in den letzten zwei Jahrzehnten die
europäische Einwanderung sehr gestiegen und auch die natürliche
Vermehrung selbst unter den Franzosen eine wesentlich günstigere
geworden ist, zählte die europäische Bevölkerung doch i8gi
immer erst 480000 Köpfe ^), Heer und Fremdenlegion mit
65 — 68000 Mann eingerechnet. Von diesen 564000 Europäern
werden 364000 zu den Franzosen, 200000 zu den Fremden
gerechnet, so daß erstere heute zur großen Beruhigung der fran-
zösischen Patrioten endlich das Übergewicht erlangt hätten.^)
Untersuchen wir aber die Zahl etwas näher, so erscheint sie
weniger rosig. Zu diesen „Franzosen" gehören zunächst etwa
72 000 Italiener, Spanier und Malteser, namentlich fast die ganze
italienische Fischerbevölkerung, die sich, einem kräftigen Drucke
folgend, seit i88g hat naturalisieren lassen. Vorher waren
Naturalisationen verhältnismäßig selten, in den 22 Jahren 1867
bis 1888 nur 12000. Bei der Lebensweise jener Fischer ist
1) 1901 waren es 564 000.
2) Dazu kommen (1901) 57 000 naturalisierte Juden, die sich zu dem
herrschenden Volke halten.
— 400 —
kaum anzunehmen, daß sie wirklich Franzosen geworden sind
oder bald werden werden. Auch von den übrigen Naturalisierten
gilt dies zum großen Teile. Ferner gehören zu den 364 000
französischen „Kolonisten" mehr als 5 1 000 Beamte mit ihren
Familien, 10 000 Beamte der Eisenbahngesellschaften mit ihren
Familien, 20000 Angehörige des geistlichen Standes u. dgl. —
alle Priester müssen Franzosen sein und dürfen nur französisch
sprechen — ferner alles, was an Gastwirten, Lieferanten u. dgl.
vom Heere lebt. So bleiben von wirklichen französischen Kolo-
nisten und deren Nachkommen, die also tatsächlich im Lande
wurzeln, vielleicht noch nicht über 200 000 Köpfe übrig und von
diesen ist eine große Zahl, jetzt im Durchschnitt etwa jährlich
5000, erst in den letzten Jahren als Weinbauer eingewandert.
Es kommt also heute von der überraschend gestiegenen und
wegen des Mangels an natürlicher Vermehrung recht bedenk-
lichen französischen Auswanderung (i88g: 31000) immerhin ein
ansehnlicher Teil auf Algerien. Derselbe geht also Frankreich
nicht verloren, sondern wird nur um so wertvoller.
Kaum 200 000 wirkliche Kolonisten, das ist also alles, was
Frankreich mit ungeheuren Geldopfern und den verschieden-
artigsten Lockmitteln herüberzuziehen, bzw. von den vielen Hun-
derttausenden von ausgedienten Soldaten und Beamten im Laufe
von 84 Jahren im Lande festzuhalten vermocht hat! Ackerbauer
sind aber selbst von diesen nur ein Teil, da man von den Euro-
päern überhaupt nur etwa 200 000 als solche ansieht und wir
wissen, daß namentlich die Spanier darunter sehr zahlreich sind.
Was an produktiver Arbeit im Ackerbau, Bergbau, Fischerei, Haifa-
gewinnung, Straßenbau u. dgl. geleistet worden ist, ist überwiegend
das Werk der Fremden. Einer meiner Gewährsmänner, ein eifriger
Algerier und Fremdenhasser, die dort wohl ebenso zahlreich sind
wie im Mutterlande, muß dies offen eingestehen. Die hohen An-
sprüche, welche der Franzose an das Leben stellt, machen ihm in
der Kolonie den Wettbewerb mit Spaniern und Italienern, denen
überdies das Klima noch mehr zusagt, natürlich noch schwerer.
Auch läßt die Fremdenfurcht jetzt täglich neue Mittel in Vor-
schlag bringen, um dieselben vom Lande überhaupt, besonders
aber von den Vergünstigungen der staatlichen Kolonisation fern-
zuhalten, ihnen das Fortkommen zu erschweren, sie rascher auf-
zusaugen u. dgl. Eine Massennaturalisation der Fremden, ohne
— 40I —
vorhergegangene Anähnlichung, wie sie 1884 vom Generalgouver-
neur Tirman vorgeschlagen wurde, würde natürlich noch größere
Gefahren bringen. Die Spanier z. B. warten nur darauf, um als
französische Bürger und Wähler erst recht ihre nationalen Inter-
essen zu vertreten, sich der Gemeindeverwaltungen zu bemächtigen,
spanische Schulen zu errichten u. dgl. m.^)
Wir sehen also, daß die Menschenarmut (in Verbindung mit
den wirtschaftlichen Verhältnissen) Frankreichs ein großes Hinder-
nis der Entwicklung dieser Kolonie ist, ja, daß dieselbe geradezu
Gefahren für ihren Besitz heraufbeschworen hat. Fehlerhafte
Verwendung des vorhandenen Kolonistenbestandes hat diese
Schattenseiten noch verschärft. Wie rasch hat sich in der gleichen
Zeit und mit sehr geringen Opfern das weltentlegene Australien
und Neuseeland bevölkert, aus denen heute ungeheure Summen
englischen Geldes, unter der Überwachung Englands angelegt,
den englischen Sparern ein sicheres Einkommen gewähren.
Die Zahl der Eingeborenen betrug i8gi 3570000 (igoi:
4 1 00 000 , die Marokkaner und Tunesier eingerechnet) und ist
jetzt in raschem Wachsen begriffen. Sie zerfallen, wenn wir von
der im Verschwinden begriffenen sogenannten maurischen Städte-
bevölkerung absehen, in ureingesessene Berber und eingewanderte
Araber. Die Berber, bei weitem die Mehrzahl, wenn sie sich
und ihre Sprache auch noch hier und da in den Gebirgen rein
gehalten haben, sind seßhaft, arbeitsam, eifrig auf Erwerb, be-
sonders von Grundeigentum bedacht, gute Landbauer und Baum-
züchter, demokratisch in allen ihren Einrichtungen, kurz grund-
verschieden von ihren Unterjochern, den nomadischen, trägen,
wenig fürsorglichen, aristokratisch-feudalen Arabern. Sehr be-
zeichnend für die mangelnde Fähigkeit der Franzosen, fremdes
Volkstum zu verstehen, ist es, daß sie lange Zeit gar nicht
merkten, daß sie (wohl weil die Berber bis auf wenige Reste die
arabische Sprache angenommen haben) zwei so grundverschiedene
Völker vor sich hatten, die ganz verschieden hätten behandelt
werden müssen. Man hat die Berber förmlich gezwungen mit ihren
verhaßten Unterdrückern, den Arabern, gemeinsame Sache zu
machen; man hat sie mit allen Mitteln zu arabisieren versucht,
man hat ihnen, die meist nur äußerlich Mohammedaner sind,
i) Ist seitdem sehr häufig eingetreten.
Fischer, Mittelmeerbilder. 26
— 402 —
Moscheen gebaut, hat ihnen das arabische Feudalsystem auf-
gedrängt und zwingt sie, indem man nur arabisch mit ihnen
spricht, noch mehr Arabisch zu lernen, also ähnlich wie aus
Mangel an Nachdenken und Selbstachtung sogenannte gebildete
Deutsche im Auslande zur Verbreitung der französischen Sprache
beitragen, indem sie hartnäckig Französisch statt der eigenen
oder der Landessprache sprechen, selbst wenn die Landes-
bewohner Deutsch können oder sich Übung darin verschaffen
möchten.
Die Behandlung, welche die Eingeborenen von vornherein
und bis heute erfahren haben, ist eine sehr üble. Schon der
Umstand, daß man, auch Gebildete, ganz besonders aber
die Kolonisten den Namen Araber, womit man alle Ein-
geborenen zusammenfaßt, selten ohne „schmückende" Beiwörter,
wie sale oder cochon, aussprechen hört, ist kennzeichnend.
Lange Zeit, und bei den Kolonisten noch heute, galt der
Grundsatz, man müsse die Eingeborenen mit jedem Mittel,
durch den Alkohol und Krankheiten, durch Verarmung und
Schürung von Zwietracht vernichten; eben noch erklärte einer
meiner Gewährsmänner, nur Gewalt und Grausamkeit mache auf
den Eingeborenen Eindruck. Man hat Aufstände gewaltsam
hervorgerufen, um einzelnen Generälen Gelegenheit zu Siegen
und Auszeichnungen zu geben. Scheußlichkeiten aller Art haben
die von Offizieren geleiteten arabischen Bureaux geradezu sprich-
wörtlich gemacht. Von 1830 — 45 hat man den Eingeborenen
18^4 Millionen Hammel, 2)^/^ Millionen Rinder und Q17000 Ka-
mele weggenommen. Noch 187 1 haben sie als Strafe für den
Aufstand 2)^^l'i Millionen Francs aufbringen und 446 000 ha des
besten Landes in den Tälern im Werte von ig Millionen Francs
abtreten müssen. Ungeheure Summen werden jahraus jahrein
den schon blutarmen Eingeborenen als Strafgelder für Übertretung
von Gesetzen auferlegt, die ihnen entweder unverständlich sind
oder ohne deren Übertretung ihnen das Dasein geradezu un-
möglich ist, z. B. das Weidenlassen von Vieh im Walde. Je
zahlreicher solche Verurteilungen, um so zahlreicher sind die
Waldbrände, die in ihrer wachsenden Häufigkeit die Stimmung
der Eingeborenen kundgeben. Von dem, was an Geld, ob in
Gestalt von ungerecht verteilten und unerschwinglichen Steuern
oder sonstwie von den Eingeborenen eingetrieben wird, kommt
— 403 —
fast nichts wieder an sie zurück: Straßen, Brücken, Brunnen,
Entwässerungen und Bewässerungen, alles nur für die Kolonisten.
Alles gute Land wird nach und nach diesen übergeben, ja Fälle,
wo dieselben ungestraft einem Eingeborenen das Wasser ab-
schneiden, mit welchem dieser bisher seinen Frucht- und Wein-
garten erhielt, sind häufig genug.
Von einem Einflüsse der Franzosen auf die Eingeborenen
in wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht ist keine Rede, man
darf sich nicht durch vereinzelte Erscheinungen täuschen lassen.
Die Masse der Eingeborenen ist unbeweghch und unbeeinflußt
geblieben, nur einige Laster hat sie aufgenommen. Eine un-
übersteigliche Kluft ist zwischen beiden Bevölkerungselementen
befestigt, selbst in den Städten, wo dieselben noch heute völlig
gesonderte Viertel bewohnen. Fanden doch in den neun Jahren
von 1882 — go nur 34 Heiraten zwischen Europäern und Ein-
geborenen statt. Naturalisationen kamen fast gar nicht vor, im
großen durchgeführt würden sie auch, schon durch Schaff'ung
einer Million Frankreich durchaus feindlicher Wähler, eine große
Gefahr sein. Noch schlimmer wäre es, sie zur allgemeinen
Heerespflicht heranzuziehen, denn schon heute gelten die etwa
1 2 000 Eingeborenen im französischen Heere , wenn sie heim-
kehren, als die schlechtesten Elemente und als eine Gefahr.
Kommt es doch vor, daß Eingeborene, die es als französische
Linienoffiziere bis zum Oberstenrang gebracht haben, nach ihrer
Verabschiedung in Algier wieder als Araber leben und zu Ara-
bern werden. Ebenso gefährlich würde es sein, die allgemeine
Schulpflicht auf sie auszudehnen. Schon 187 1 machten sich die
Eingeborenen im Kampfe gegen die Franzosen das in fran-
zösischen Schulen Gelernte zunutze. Das ganze Werk des Unter-
staatssekretärs Vignon über Algerien zeigt eigentlich, wie man es
machen muß, um eine Kolonie nicht zur Blüte und ihre Bewohner
zur Verzweiflung zu bringen. Vignon hat den patriotischen Mut
offen einzugestehen, daß ein Aufstand, furchtbarer als jemals,
bei der ersten sich bietenden Gelegenheit droht. Die ganze
Eingeborenenbevölkerung harre nur der ersehnten Stunde, um
das furchtbare Joch abzuschütteln. Und ähnlich äußern sich fast
alle andern Landeskundigen. Weim schon 1871 86000 Mann
nötig waren, um die 800000 Aufständischen, welche 200000
Waffenfähige stellten, niederzuwerfen, so wird bei einem nächsten
26*
— 404 —
Aufstande eine weit größere Truppenraacht in Algerien fest-
gehalten werden, denn dieser wird bei der furchtbaren Er-
bitterung der Eingeborenen, die heute namentlich auch durch
die religiösen Orden eine Art Organisation und Beziehungen
zur übrigen mohammedanischen Welt besitzen, ein ganz all-
gemeiner sein.
' Zahlreihe Anzeichen deuten auf die drohende Gefahr hin.
Die öffentliche Sicherheit ist eine sehr schlechte und wird täg-
lich schlechter. Die Zahl der Angriffe auf Personen und Eigen-
tum, obwohl viele gar nicht zur amtlichen Kenntnis gelangen, ist
so groß, daß beispielsweise im Jahre i8go in der Gemeinde
Medea, einem im Gebirge des Teil gelegenen, in wenigen Stun-
den von Algier aus erreichbaren Städtchen von 5000 europäischen
und 8000 eingeborenen Bewohnern, so viele Verbrechen vor-
kamen, daß man im Verhältnis in Paris jährlich zählen müßte:
10 000 Morde, 6000 Mordversuche und 400000 Diebstähle.
Es ist so weit gekommen, daß sich besondere geheime Gesell-
schaften, die sogenannten Bechara, gebildet haben, durch deren
Vermittlung der Kolonist Heber unter Zahlung des Viertels, ja
der Hälfte des Wertes das gestohlene Gut zurückkauft, statt sich
an die staatliche Gerichtsbarkeit zu wenden, die trotz ihrer Viel-
schreiberei und Kostspieligkeit in der Regel nichts erreicht.
Zwischen 1881 und 1890 sind 900 algerische Eingeborene, Räu-
ber und Mörder, von Cayenne entkommen und bilden Banden,
die zu vernichten sehr schwer ist, da sie bei den Eingeborenen
Unterstützung finden.
Zu diesen namentlich von den Eingeborenen drohenden Ge-
fahren kommen die Schäden der Verwaltung. Gedankenlos, ohne
jede Rücksicht auf die anders gearteten Verhältnisse, die grund-
verschiedenen Rechts- und religiösen Anschauungen werden die
französischen Gesetze von einer starren Bureaukratie zur Anwen-
dung gebracht, von einer besonderen Vorbildung der Beamten
für diesen Dienst, Erlernen der Sprache und dergleichen ist keine
Rede. Unaufhörlich, fast jedes Jahr werden die Beamten von
einem Ende des Landes zum andern versetzt, so daß sie sich
nirgends tiefer in die Verhältnisse einleben und eine ersprieß-
liche Wirksamkeit ausüben können. Ganz ähnlich werden ja die
Zustände auch in anderen französischen Kolonien geschildert. Es
fehlt am Zusammenarbeiten der verschiedenen Verwaltungszweige.
— 405 —
So hat man z. B. vor kurzem in der Provinz Constantine, da
keine Verständigung zwischen dem Kataster, der topographischen
und der allgemeinen Aufnahme stattfindet, 49000 ha doppelt,
3000 ha dreifach aufgenommen und so eine Million Francs ver-
schleudert. Große Summen und wertvolles Staatsgut werden, wie
Vignon nachweist, alljährlich durch allgemein verbreitete Miß-
bräuche verschiedenster Art, Durchstechereien, Vergünstigungen
und dergleichen verbraucht. Während die Straßen vielfach un-
genügend und schlecht sind, so daß große Dörfer, ja Städte im
Winter nicht selten ganz vom Verkehr abgeschnitten sind, werden
anderwärts, wo fast gar kein Verkehr ist, aus persönlichen Rück-
sichten oder zu Wahlzwecken Straßen gebaut. So schlimme Er-
scheinungen, wie sie namentlich am Senegal und im Sudan
neuerdings fast an der Tagesordnung zu sein scheinen, eigen-
mächtiges Handeln der Truppenführer, der unteren gegenüber
den oberen, dieser gegenüber den Zivilgouverneuren, treten in
Algerien allerdings weniger hervor, finden aber ihre Erklärung in
den Verhältnissen der Volksvertretung und der Presse in Paris,
die einem erfolgreichen Führer nicht nur Straflosigkeit, sondern
Ehren und Auszeichnungen in Aussicht stellen. Wie bedenklich
solche Erscheinungen aber sind, bedarf keiner Ausführung. Die
Besetzung von Timbuktu und vielleicht auch jene Zusammenstöße
im Innern von Sierra Leone mit den Engländern stehen wohl
damit in Beziehung.
So gewaltige Summen Frankreich der Entwickelung von Al-
gerien geopfert hat, die Zufriedenheit der Kolonisten hat es da-
mit nicht erkauft, im Gegenteil, diese fordern immer neue Opfer.
Jetzt sollen z. B. sofort 570 ^lillionen Frcs. durch eine Anleihe
beschafft werden, um die Hilfsquellen des Landes rascher zu er-
schließen. Der Grundbesitz ist allgemein tief verschuldet, Zwangs-
verkäufe finden in unglaublicher Zahl statt. Die Kolonisten
werden, dem Augenschein nach mit Recht, als dem Kneipenleben,
dem Absinth und Billardspiel ergeben geschildert.
Das ist das Bild, welches die Kolonie Algerien heute bietet
nach 84jährigen schweren Opfern an Geld und an Menschen,
welche Krieg und Fieber dahin gerafft haben. Die Summe,
welche Frankreich auf Algerien verwendet hat, wird in zuverläs-
sigster Weise für die Zeit von 1830 — 91 zu 5350 MiUionen Frcs.
berechnet. Davon kommen auf die öffentliche Verwaltuno-, öffent-
■ — 4o6 —
liehe Arbeiten, Kolonisation und dergleichen nur i 780 Millionen,
alles übrige hat das Heer verschlungen. Algerien selbst hat da-
von nur 1 400 Millionen aufgebracht, so daß die Reinausgabe
Frankreichs vier Milliarden beträgt. Noch 1891 standen 40,4
Millionen Einnahmen 125,4 Millionen Ausgaben gegenüber, wo-
von 54,5 Millionen allein für das Heer. Die französische Volks-
vertretung ist es müde in dieses Danaidenfaß zu schöpfen und
die Verhandlungen über das Budget von Algerien werden jedes
Jahr erregter, Untersuchungsausschüsse werden ernannt und be-
reisen das Land, Heilmittel der verschiedensten Art werden
vorgeschlagen. Ob man aber diejenigen finden wird, die ge-
eignet sind, diese heutige Lage Algeriens als Ergebnis einer
derartigen 84jährigen Kolonialpolitik zu bessern, ist billig zu
bezweifeln.
So große Bewunderung man der Einsicht, der Zähigkeit, der
Opferfreudigkeit und Tatkraft des französischen Volkes in bezug
auf seine Kolonialpolitik entgegenbringen muß, auf das koloni-
satorische Können kann sie sich nicht erstrecken. Es ist wohl
keine Überhebung, weim wir von der deutschen Kolonialpolitik,
selbst in der halben Weise wie sie bisher betrieben worden ist,
Besseres erwarten. Die Franzosen selbst scheinen in Algerien
doch auch vieles gelernt zu haben, indem sie in Tunis, aller-
dings unter wesentlich günstigeren Verhältnissen, von vornherein
die Sache weit klüger angefaßt und unleugbar schon heute recht
wesentliche Erfolge erzielt haben. Sie behandeln Tunis wesent-
lich als Betriebskolonie, die aber Frankreich, nachdem soeben
der Kriegshafen von Biserta, dessen Bedeutung nicht leicht über-
schätzt werden kann, wieder großen Schiffen zugänglich gemacht
worden ist, in seinem Streben nach der Herrschaft auf dem
Mittelmeere bereits einen gewaltigen Schritt weiter geführt hat.
Indessen läßt sich, wenn wir von der augenblicklichen Lage als
Frucht dessen, was im Laufe von 84 Jahren geschehen ist, ab-
sehen, doch auch Algerien ein freundlicheres Aussehen abge-
winnen. Wer das Land betritt und nur flüchtig durchreist, wird
die tiefen Schäden nicht bemerken und freudig anerkennen, was
ein großes Kulturvolk hier geschaffen hat. In manchen Städten,
namentlich an der Küste, könnte man glauben, sich in Frankreich
selbst zu befinden, und die Franzosen lieben es, von Frankreich
in Afrika zu sprechen und ihre Leistungen mit denen ihrer Vor-
— 407 —
ganger auf diesem Boden, der Römer, zu vergleichen. Die
meisten Küstenstädte besitzen unter großen Kosten geschaffene
Hafenanlagen, die freilich den furchtbaren Stürmen, die hier
zeitweilig hereinbrechen, nicht gewachsen sind, ausgedehnte Land-
schaften sind fast unter Verdrängung der Eingeborenen mit euro-
päischen Ortschaften bedeckt, zahlreiche Stauseen liefern Wasser
zur Berieselung in der langen Trockenzeit, ein 3000 km langes
Netz von Eisenbahnen und ebenso lange Staatsstraßen durch-
ziehen das Land von der Grenze von Marokko bis zu der von
Tunis und setzen sich bis Tunis selbst fort. Die Küste ist
sorgsam aufgenommen und mit Leuchtfeuern besetzt, das der
Landesaufnahme zugrunde liegende Dreiecksnetz ist durch eine
für alle Zeiten denkwürdige geodätische Operation quer über
den Westzipfel des Mittelmeeres und über Spanien mit dem
europäischen verbunden, eine rasch fortschreitende topographische
Aufnahme liefert Karten, die sich den besten Europas zur
Seite stellen lassen, das Land ist in geschichtlicher und natur-
kundlicher Hinsicht heute schon besser erforscht als viele
Länder Europas, eine reiche Literatur über dasselbe ist in den
Bibliotheken aufgespeichert. Die Bevölkerung, der Anbau, der
Verkehr hat sich bedeutend gehoben. Der Gesamthandel in
Aus- und Einfuhr ist von 1850 von 83 r^Iillionen Francs auf
500 Millionen im Jahre 1892, 600 MiUionen 1904 gestiegen, die
Ausfuhr, die noch 1850 kaum in Betracht kam, nähert sich schon
bedeutend der Einfuhr, ja übersteigt sie schon gelegentlich.
Namentlich ist die erste Handelsstadt Frankreichs, Marseille, zum
großen Teil das geworden, was es heute ist, durch die Bezie-
hungen zu Algerien. Dieses nimmt unter den Ländern, nach
welchen die französische Ausfuhr gerichtet ist, bereits die fünfte
Stelle ein, und die Beteiligung Fremder, die grundsätzlich, wenn
es irgend geht, aus den französischen Kolonien ausgeschlossen
werden, am Handel mit Algerien ist bereits auf i97o herab-
gedrückt. Die Handelsbewegung aller französischen Kolonien,
also Algerien mit 500 Millionen eingerechnet, betrug 1891, so
wenig entwickelt dieselben auch sind, bereits 1078 Millionen
Francs. Eine so gewaltige Summe befruchtet also schon heute
selbst das Wirtschaftsleben Frankreichs durch seine Kolonial-
politik,
— 4o8 —
6. Fünfzehn Jahre französischer Kolonialpolitik
in Tunesien. 0
„Frankreich versteht nicht zu kolonisieren". Das ist ein Satz,
den man in und außerhalb Frankreichs oft hören kann, zu dem
aber das Verhalten der französischen Regierung und der Mehr-
heit der französischen Volksvertretung in grellem Gegensatze
steht. Denn wir sehen, daß Frankreich zu seinem älteren Be-
sitze in Amerika, den letzten dürftigen Resten seines früheren
Kolonialreichs, sich ein bereits recht ansehnliches Kolonialreich
in Südostasien geschaffen hat und weiter auszudehnen bemüht
ist und daß es vor allem in Afrika, abgesehen von der Riesen-
insel Madagaskar j der Verwirklichung des großen Planes, den
ganzen Nordwesten des Erdteils zu einem großen französischen
Afrika vom Mittelmeer bis zum Kongo zu machen, sehr nahe
gerückt ist.^)
Betrachtet man dieses ungeheuere französische Kolonialreich
in fünf Erdteilen, das an Ausdehnung nur dem englischen und
russischen nachsteht,^) etwas näher, so erscheint es allerdings
mehr als ein Wechsel auf die Zukunft. Dasselbe kostet das
Mutterland ungeheuere Summen, von denen nur ein Bruchteil
mittelbar wieder in jenes zurückströmt. Es handelt sich eben
um die Schaffung eines großen französischen Wirtschaftsgebietes,
innerhalb welches, ungestört von außen, das Mutterland die Er-
zeugnisse seines Gewerbefleißes absetzen und die nötigen Roh-
und Nahrungsstoffe erzeugen kann, in welchem sich vielleicht
auch die Möglichkeit bietet, daß französische Auswanderer auf
jungfräulichem Boden, unter neuen Naturbedingungen durch
reichen Kindersegen dem schon nicht mehr relativen Rückgange
der französischen Nation erfolgreich steuern. Selbst derjenige,
welcher von der Richtigkeit des Satzes, daß Frankreich nicht zu
1) Erschienen in den Preuß. Jahrbüchern 1898.
2) Seitdem kann man diesen Plan als verwirklicht ansehen. Alles, was
hier Engländer, Deutsche, Portugiesen, Spanier besitzen, erscheint als Ein-
schlüsse in diesem ungeheuren französischen Besitze. Ebenso Marokko, auf
welches Frankreich eben seine Hand zu legen im Begriff ist. Dieser Teil
des französischen Kolonialreiches ist für sich so groß wie Europa.
3) Dasselbe mag jetzt einen Flächeninhalt von 1 1 Mill. qkm und
48 Mill. Einwohner haben.
— 409 —
kolonisieren verstehe, überzeugt ist, wird der Folgerichtigkeit, dem
Geschick, der Tatkraft, die beide wir Deutschen ja am eigenen
Leibe erprobt haben, und der Opferwilligkeit des französischen
Volkes auf kolonialpolitischem Gebiete seine Bewunderung nicht
versagen körmen. Das französische Volk glaubt eben an sich
und seine Zukunft! Es ist politisch und wirtschaftlich hinreichend
gereift, um einzusehen, daß nur diejenigen Völker und Staaten
Europas sich auf die Dauer in einer Großmachtstellung behaupten
können, die sich außerhalb Europas neue Machtquellen schaffen,
d. h. zugleich Weltmächte sind: recht im Gegensatze zum Deut-
schen Reiche, wo die Scheuklappen der Partei noch manchen
hindern, diese Wahrheiten zu erkennen oder das Parteiinteresse
manchen zwingt, die erkannte Wahrheit zu verleugnen.
Daß der Wechsel auf die Zukunft, als welchen man heute
im wesentlichen die überseeischen Erwerbungen Frankreichs wird
bezeichnen müssen, doch in einzelnen Fällen in nicht sehr ferner
Zukunft fällig sein dürfte, das lehrt nun Tunesien. Die Leistungen
und Erfolge Frankreichs in Tunesien in einem Zeiträume von
kaum einundeinhalb Jahrzehnt sind ganz danach angetan, die
Vorstellungen von der kolonisatorischen Unfähigkeit des fran-
zösischen Volkes, wo immer solche herrschen mögen, zu er-
schüttern. Zugleich kann das, was die Franzosen in Tunesien
zur Erschließung und wirtschaftlichen Ausbeutung des Landes
getan haben, in vieler Hinsicht vorbildUch sein. Namentlich wir
Deutschen können sehr viel in Tunesien lernen, denn wir haben
sehr vieles von dem, was selbstverständlich zunächst und sofort
in einem neuen Lande geschehen muß, — am nächsten liegt
der Vergleich mit Südwestafrika — nicht getan, allerdings zum
Teil weil es gewissen Kreisen an Verständnis und gutem Willen
fehlte, zu tun, was von Verständigen gefordert wurde. ^)
Um die in seiner Lage und seiner geographischen Ausstat-
tung begründete heutige und zukünftige Bedeutung Tunesiens,
seine Rolle in der Geschichte zu verstehen, müssen wir uns zu-
nächst die geographischen Grundzüge dieses Landes veranschau-
lichen.
I) Die hier gegebene Darstellung entspricht dem Bilde, das man sich
zwei Jahrzehnte hindurch machen mußte. Der folgende Aufsatz, Tunesien
1901, zeigt, daß dies rasche Aufblühen des Landes eine vorübergehende Er-
scheinung v.-ar.
/[lO
Tunesien ist ein Teil des Atlantischen Faltenlandes, d. h.
des südwestlichsten zum Atlantischen Ozeane ausstreichenden
Stücks der eurasischen Faltengebirge, die in vorwiegend westöst-
licher Richtung die Erdteile Europa und Asien durchziehen und
deren Oberflächengestalt in erster Linie bestimmen. Erst spät
mit der großen Wüstentafel Nordafrikas verbunden und durch
Bildung der Meerengen von Gibraltar und von Pantellaria von
Europa losgelöst, ist das Atlantische Faltenland nach Entstehung
und Oberflächenform europäisch, ein durchaus fremdartiges An-
hängsel Afrikas. Im großen einheitlich, zerfällt es doch durch
gewisse Züge seiner Oberflächengestalt in drei Länder, die, wenn
auch mit sich häufig verschiebenden Grenzen, in verschiedenen
Abschnitten der Geschichte ungefähr in dem, was wir heute Ma-
rokko, Algerien und Tunesien nennen, ihren staatlichen Ausdruck
gefunden haben. Dadurch, daß die beiden Atlantischen Faltengürtel
je weiter nach Osten sich um so mehr einander nähern und der
südliche, der sogenannte Saharaatlas, nach Nordosten, also nach
Sizilien hin, abschwenkt, dessen Appennin in der Tat sich in
den Gebirgen Nordtunesiens fortsetzt, dadurch daß zugleich im
tunesischen Teile des Saharaatlas ein gewisses Auseinanderstreben
der allerdings immer niedriger und kürzer werdenden Gebirgszüge
hervortritt, die mehr sich in gleicher Richtung aneinander an-
schließenden, aus der Ebene aufsteigenden Bergrücken von
elliptischer Gestalt gleichen, erreicht Afrika hier seine höchste
nördliche Breite, nähert sich Tunesien Sizilien auf 150 km (etwa
Berlin — Magdeburg), neigt und öff"net es sich gegen das Mittel-
meer. So entsteht eine orographisch vom Mittellande Algerien
gut gesonderte, durch große Zugänglichkeit vom Mittelmeere aus,
durch geringe Meerfernen, Mangel an hohen abgeschlossenen
Bergländern , gekennzeichnete östliche Abdachung des Atlas-
gebiets, kurz ein Länderindividuum niederer Ordnung, das wir
jetzt Tunesien nennen. Es sind namentlich vier Höhenzüge, die
die senkrechte und die wagrechte Gliederung Tunesiens, nament-
lich die Aufschließung des Landes durch drei Meerbusen und
sich zu denselben abdachenden Hohlformen, bestimmen. Die
beiden nördlichsten, die man als Fortsetzungen der in Algerien
gewöhnlich als Teil- und Saharaatlas bezeichneten Gebirgssysteme
ansehen kann, endigen ersteres westöstlich, letzteres südwest-
nordöstlich streichend, in den hohen Vorgebirgen des Ras Sidi
— 4" —
Ali el Mekki und des Kap Bon. Zwischen ihnen öffnet sich als
vom Meer überflutetes Ende eines großen Längstales der Golf
von Tunis, dem in dem noch überseeischen breiten Längstale,
einen bequemen Weg ins Innere bildend, der größte Fluß Tu-
nesiens, der Medscherda, zustrebt. Dies ist Nordtunesien. Ein
dritter, jenen beiden paralleler, aber niedrigerer und weniger
scharf ausgeprägter Höhenzug verursacht den stumpfen Landvor-
sprung am Ras Dimas und Ras Kapudia. Dazwischen öff"net
sich der flache und durch jüngere Landbildung noch flacher ge-
wordene Golf von Hammamet, welchem ebenfalls eine flache, sich
nach Nordosten neigende Mulde und ein Fluß, der Wed Zerud,
entspricht, dessen Gewässer freilich in diesem schon weit nieder-
schlagsärmeren Gebiet meist im Kelbia See verdunsten und nur
ganz ausnahmsweise das langgestreckte Haff von Hergla und das
Mittelmeer erreichen. Andere Höhenzüge weiter nach Süden,
wie der Djebel Orbata, haben nicht mehr die vorherrschende
Nordostrichtung, sondern streichen mehr in Ostnordost gegen den
Nordrand der Kleinen Syrte. Sie bilden die Südgrenze Mittel-
tunesiens. Allerdings muß betont werden, daß diese Höhenzüge,
abgesehen von den beiden nördlichsten, keineswegs das Meer er-
reichen, sie endigen vielmehr im Innern. Die annähernd meri-
dional verlaufende Ostküste Tunesiens wird von jüngeren, plio-
zänen und quartären ungestörten Schichten gebildet und ist
keineswegs als eine Querbruchküste aufzufassen. Südlich von
diesen Höhenzügen zieht sich nun von der Kleinen Syrte, dem
südlichsten der drei Golfe, die sogenannte Schott-Depression tief
ins Innere des Landes. Die flachen Salzseen, deren Spiegel zum
Teil unter dem des Mittelmeeres liegt, nach denen diese die
Grenze des Atlantischen Faltenlandes und der großen Wüstentafel
kennzeichnende Depression benannt ist, sind der Ausdruck der
noch größeren Niederschlagsarmut Südtunesiens, die es nicht mehr
zur Bildung eines Flusses kommen läßt. Der östlichste dieser
Schotts liegt aber zwischen zwei scharf ausgeprägten westost-
streichenden , also auf die Kleine Syrte zielenden Höhenzügen.
Die am Eingange der Kleinen Syrte gelegenen Inseln, die Ker-
kenahgruppe am nördlichen, die große gartenartig angebaute
Djerba am südlichen, beide ganz flache aus seichtem Meere sich
erhebende Tafeln derselben jungen, festländisch gebildeten Schich-
ten, aus denen das nahe Festland besteht, von dem sie abge-
4^2
gliedert sind, kennzeichnen die Kleine Syrte geradezu als die
Gegend der reichsten wagerechten Gliederung des ungefügen
Afrika. Da nun hier zugleich die Oberflächenformen und die
Oasenzüge die Verkehrswege aus der Sahara und durch die Sa-
hara ans Mittelmeer leiten, so bildet der Golf von Gabes nicht
nur das Eingangstor von Südtunesien, sondern eines der wich-
tigsten Eingangstore von Afrika überhaupt. Wie schon die alten
Griechen die hier gelegenen Küstenstädte, namentlich Tacape
(Gabes) als Emporia, die Handelsplätze, bezeichneten, sind noch
heute die Bedingungen gegeben, unter denen ein beträchtlicher
Teil des Sahara- und Sudanhandels über die Kleine Syrte und
Tunesien überhaupt gehen könnte. In römischer Zeit drangen
von hier aus römische Ansiedler und römische Gesittung, wie
noch heute die Altertümer bezeugen, tief ins Innere ein bis in
die Oasenstadt Rhadames (Cydamus), namentlich auch in das
erst jetzt aufgeschlossene Gebirgsland der Höhlenberbern im
Süden der Kleinen Syrte, die heute Arad genannte Landschaft,
den Anteil Tunesiens an der großen Wüstentafel.
Das Eingangstor von Mitteltunesien ist der Golf von Ham-
mamet, der freilich heute keine so günstigen Verhältnisse mehr
bietet. Hier entwickelte sich in römischer Zeit, aber schon eine
alte phönikische Ansiedelung, Hadrumetum (heute Susa) zu einer
volkreichen Seehandelsstadt, welche den Verkehr des dicht be-
siedelten Mitteltunesien bis nach Tebessa im heutigen Algerien
hin vermittelte.
Noch wichtiger ist der Golf von Tunis, da er sich gegen
Sizilien hin und an der großen Einschnürung des Mittelmeeres
öffnet und das Tal des Medscherda in der gleichen südwestlichen
Richtung den bequemsten Weg ins Innere bildet, auf welchem
römische Ansiedler, Sprache und Gesittung bis aufs Hochland der
heutigen algerischen Provinz Constantine vordrangen. Der Golf
von Tunis, an welchem sich die römische Weltstadt Karthago
entwickelte, und das Medscherda Tal sind die beiden wichtigsten
geographischen Ausgangspunkte der völligen Romanisierung der
nordöstlichen Atlasländer. Nichts stände im Wege, daß dieselben
auch in Zukunft wieder ihre Wirkung ausübten — wenn Frank-
reich Kinder entsenden könnte. Die Bedeutung des Golfs von
Tunis und Nordtunesiens wird noch größer dadurch, daß an dem-
selben bzw. in unmittelbarer Nähe nun auch die besten Häfen
— 413 —
des Landes liegen, die durch Kunst leicht den höchsten Anfor-
derungen der Zeit entsprechend zu verbessern mit ihrem weiten
und reichen Hinterlande, fast in der Mitte des Mittelmeers und
an der Einschnürung, durch welche zu allen Zeiten eine wich-
tige, wenn nicht die wichtigste Straße des Welthandels gehen
muß, Sizilien und Sardinien gegenüber gelegen, durch allen
Wechsel, welchem die Geschicke der INIenschen unterworfen sind,
immer und immer wieder zu Brennpunkten des Weltverkehrs und
der politischen Macht werden müssen. So Utica, das punische
und das römische Karthago, Tunis. Noch mehr als Tunis selbst
wird in Zukunft Biserta in dem Kampfe um die Herrschaft auf
dem Mittelmeere hervortreten.
Aufgeschlossenheit gegen das Mittelmeer, das ist also der
entscheidende geographische Charakterzug Tunesiens: soweit der
Einfluß der drei Golfe, aber vor allem der des beherrschenden
von Tunis reicht, so weit rücken die Grenzen Tunesiens der vom
Kap Bon annähernd nach Süden verlaufenden Küste parallel ins
Innere, also bald weiter, bald weniger weit. Dieses Land er-
streckt sich also als ein verhältnismäßig schmaler meridionaler
Streifen, in den heutigen Staatsgrenzen im Mittel etwa 200 km
breit, auf rund 600 km von Norden nach Süden. Der tunesische
Staat umfaßt daher nur etwa iiöoooqkm, weniger als ein Fünftel
der Bodenfläche Frankreichs. Das dazu gerechnete Wüstengebiet
eingeschlossen sind es 167000 qkm. Die Meerfernen Tunesiens
sind also überall so gering, daß auch die fernsten Punkte in
einem Schnellzuge überall in drei bis vier Stunden erreicht werden
könnten, denn das ganze Land neigt sich auch zum Mittelmeere.
Es ist nicht, wie Algerien und Marokko, durch hohe Gebirgswälle
von demselben geschieden. Auch in meridionaler Richtung bieten
sich dem Verkehr auch zu Lande nur geringe Hindernisse. Von
abgeschlossenen Gebirgslandschaften, die wie natürliche Festungen
die Eingeborenen gegen übermächtige Feinde zu schützen und
zu kräftigen, kriegerischen, freiheitsliebenden Bergvölkern zu er-
ziehen vermöchten, wie das Auresgebirge und der Djurdjura
(Mons ferreus der Römer) in Algerien, der hohe Atlas und das
Rifgebirge in Marokko, ist in Tunesien keine Spur vorhanden.
Die höchsten Erhebungen des Landes kommen nur denen der
deutschen Mittelgebirge gleich. Nirgends hindern leicht zu ver-
teidigende Engpässe das Eindringen ins Innere. Tunesien ist
— 4H —
durchaus ein offenes Land. Die Form der Ebene, namentlich
am Meere entlang, und welliges Hügelland herrschen vor. Diese
Aufgeschlossenheit kommt auch den klimatischen Verhältnissen
zugute: überall vermögen die feuchten Winde vom Mittelmeere
her einzudringen, die Hälfte des Landes ist noch genügend be-
netzt, langsam und unmerklich vollzieht sich von Norden tiach
Süden der Übergang zur Steppe und zur Wüste, nicht schroff
und unvermittelt wie in Algerien liegen diese Gegensätze neben-
einander.
Diese Grundzüge der Landesnatur haben bewirkt, daß in
Tunesien sich berberisches und arabisches Volkstum einander
mehr angeähnlicht haben und sich ersteres, wenn es auch bei
weitem überwiegt, nur örtlich und in geringer Ausdehnung ver-
hältnismäßig rein erhalten hat. Der Anteil der seßhaften, gesitte-
teren Bewohner ist weit größer wie in Algerien, der Gegensatz
zwischen Seßhaften und Noraaden geringer, da der Prozentsatz
der Halbnomaden groß ist. Wenn man auch neben 57 000 be-
wohnten Häusern 81 000 Zelte gezählt hat, so sind diese Zelt-
bewohner durchaus nicht alle Nomaden, meist höchstens Halb-
nomaden. Wie in der Landesnatur alles Großartige und Wilde
fehlt, so erscheinen auch die Landesbewohner im Vergleich zu
denen der übrigen Atlasländer als friedlich, weniger freiheits-
liebend und leicht regierbar. Sie neigen weit weniger zu reli-
giösem Fanatismus.
Tunesien erscheint durch seine überall vorhandene Frucht-
barkeit des Bodens zu einem Lande des Ackerbaues bestimmt.
Zur Entwicklung des Bergbaues sind die Bedingungen nur in
geringem Maße, zu der der Gewerbtätigkeit so gut wie gar nicht
gegeben. Die Lage des Landes zum Mittelmeere und zu Inner-
afrika, die Fülle der eigenen Bodenerzeugnisse befähigen aber
seine Bewohner, sich an gewinnreichem Handel zu Lande wie
zur See zu beteiligen. Der ungeheure Reichtum der tunesischen
Küsten an Fischen und anderen wertvollen Erzeugnissen des
Meeres (Edelkorallen, Schwämme) erzieht tüchtige Seeleute. Zählt
doch, obwohl Italiener und Griechen, die eigentlichen Fischer-
und Schiffervölker des Mittelmeeres, noch immer einen bedeuten-
den Anteil an den tunesischen Fischereien haben, die Fischer-
bevölkerung des Landes nicht weniger als 60 000 Mann, am Golf
von Gabes allein 6000. Die natürliche Fruchtbarkeit des Lan-
— 415 —
des kommt freilich nur zum Teil zur Geltung, da nur in Nord-
tunesien überall die wie im ganzen südlichen Mittelmeergebiete
auf die milden Winter beschränkten Niederschläge (50 — 60 cm
im Jahr) dem Anbau von Weizen und der Zucht der Frucht-
bäume des Mittelmeergebietes, abgesehen von Apfelsinen und
Limonen, auch ohne künstliche Bewässerung genügen. Seßhaftig-
keit und kleiner oder mittlerer Grundbesitz ist hier das Natur-
bedingte. Auch in Mitteltunesien ist Olivenzucht noch überall
möglich und lohnend, aber der Weizenbau steht bereits unter
ungünstigeren Bedingungen, da die Niederschlagsmenge bei größe-
rer Wärme schon von 50 bis auf 20 cm sinkt und vor allem so
veränderlich ist, daß man bei Kairuan schon nur jedes dritte,
bei Sfaks nur jedes fünfte Jahr auf eine gute Weizenernte rechnen
kann. Ja, hier tritt bereits salzhaltiger Steppenboden und Salz-
seen auf. Das ist der Gürtel der Riesengüter, von denen frei-
lich immer nur ein kleiner Teil angebaut, der größere als Weide-
land benutzt ist. In Südtunesien schließlich herrscht durchaus
Steppe oder Wüste. Aller Anbau ist an künstliche Berieselung
gebunden, also auf die geringen Bodenflächen der Oasen be-
schränkt, in denen naturgemäß Kleinbesitz mit Gartenbau auf
Gemüse und ähnliche Nährfrüchte im Schatten der lichte Dattel-
palmenhaine bildenden Oasen.
Frankreich hatte die Besetzung Tunesiens von langer Hand
her vorbereitet. Es galt Italien zuvorzukommen, dessen Einfluß
durch die größere räumliche Nähe, große wirtschaftliche Interessen
und eine starke Einwanderung in gefahrdrohender Weise gewachsen
war. Ein Vorwand war jeden Augenblick zu finden, da, wie an
der Westgrenze gegen Marokko, so auch an der Ostgrenze gegen
Tunis es fast nie an Reibungen unter den Stämmen der Ein-
geborenen fehlt. Der berberische, äußerlich arabisierte Stamm der
Krumir, der nur etwa 6500 Köpfe zählend das nördliche Küsten-
gebirge an der Grenze von Algerien bewohnt, bot denselben
durch Einfälle auf französisches Gebiet. Fast ohne Kampf wurde
das ganze Land besetzt und das Verhältnis Tunesiens zu Frank-
reich durch den später im einzelnen ergänzten Vertrag von Bardo
am 12. Mai 1881 geregelt. Der völlig zerrüttete und durch un-
erhörte Mißwirtschaft an den Rand des Abgrundes gebrachte
Staat wurde französisches Schutzgebiet.
— 4^^ — •
Es muß anerkannt werden, daß Frankreich vom ersten Tage
an und bis heute in Tunesien zwar tatkräftig, zielbewußt und
folgerichtig, aber mit großer Klugkeit und Mäßigung vorgegangen
ist. Letztere beiden waren allerdings auch in hohem Grade
durch internationale Rücksichten, namentlich gegenüber Italien
und England geboten, während die Bismarcksche Politik diese
kolonialpolitischen Pläne der französischen Regierung offensichtig
begünstigte. Wenn jener dabei vielleicht die Hoffnung vor-
schwebte, es werde gelingen durch erfolg- und hoffnungsreiche
überseeische Unternehmungen die Franzosen mehr und mehr von
Elsaß-Lothringen abzuziehen, so kann man zweifeln, ob bis heute
Aussicht auf Verwirklichung dieser Hoffnung eröffnet ist. Das
eine ist aber sicher erreicht worden: eine Wiederannäherung
Italiens an Frankreich ist völlig unmöglich geworden, falls nicht
Italien auf die Stellung einer Groß- und Mittelmeermacht ganz
und gar verzichten und sich in untergeordneter Stellung politisch
und wirtschaftlich in größere Abhängigkeit von Frankreich begeben
will wie zuvor. Die Vereitelung seiner geographisch und politisch
naheliegenden, wirtschaftlich berechtigten Hoffnungen auf Tunesien
würde Italien verschmerzen können, aber eine fast dreitausend-
jährige Geschichte, welche die merkwürdigen Wechselbeziehungen
zwischen Süditalien und Tunesien grell beleuchtet, lehrt, daß die
Unabhängigkeit und der Besitzstand Italiens (Sizilien und Sardinien)
bedroht ist, wenn eine starke Macht am Golf von Tunis steht.
Und vollends wenn Frankreich seine Pläne auf Tripolitanien eines
Tages auszuführen in der Lage ist! Zwischen Tunesien und
Italien steht allerdings England, das auch hier eine der Lebens-
adern seiner Weltmachtstellung zu verteidigen hat. Möge sich
der Leser den Wert dieser englischen Interessengemeinschaft selbst
zurechtlegen. Ob die Leiter der französischen Politik in Tune-
sien auch einen Ersatz für Elsaß- Lothringen gesucht haben, lassen
wir dahingestellt sein, jedenfalls kann man sagen, daß Tunesien
heute schon mehr als ein solcher Ersatz ist für jeden, der sich
die politische Einsicht nicht durch Gefühle, seien es auch noch
so edele und berechtigte, trüben läßt. Der Verlust von Elsaß-
Lothringen hat Frankreichs Stellung nur dem Deutschen Reiche
gegenüber verschlechtert. Daß dieses an nichts weniger als an
Angriffe auf Frankreich denkt, davon werden sich alle einsichtigen
Franzosen nachgerade wohl überzeugt haben. Dagegen hat Tune-
— 417 —
sien die Weltmachtstellung Frankreichs ganz außerordentlich ge-
fördert und eröffnet es wirtschaftlich und national die weitesten,
in den Erfolgen von nur 15 Jahren fest begründeten Aussichten.
Frankreich hat mit großem Geschick im Innern stets den
Schein gewahrt, als sei die tunesische Dynastie und Regierung
nach wie vor Herr im Lande, während tatsächlich vom ersten
Tage an alle Macht in den Händen Frankreichs lag. Man hat
alle Vorteile des tatsächlichen Besitzes erlangt, ohne den Haß
auf sich zu laden, den notwendig die unverhüllte Angliederung,
die Absetzung der Dynastie, die Beseitigung des ganzen Beamten-
heeres, der plötzliche Umsturz aller Verhältnisse hätte hervorrufen
müssen. Auch sonst hat man sorgsam die zahllosen Fehler ver-
mieden, die in Algerien nie wieder gut zu machendes Unheil
gestiftet haben. Dort ist heute, nach 67 Jahren, nicht nur die
eingeborene Bevölkerung von glühendem Hasse gegen Frankreich
erfüllt, an Zahl gewachsen, aber wirtschaftlich zurückgegangen, —
die Eingeborenen wirtschaftlich zu vernichten war ja längere Zeit
Grundsatz der französischen Verwaltung — nein, auch die euro-
päischen Ansiedler, die französischen vielmehr wie die spanischen
und italienischen, sind meist überschuldet, unzufrieden, ja er-
bittert. Sie machen ja daraus auch kein Hehl und wer die Ver-
handlungen im französischen Parlament verfolgt hat, kann sich,
auch ohne in Algerien selbst gewesen zu sein, überzeugen, wie
schwere Sorgen dies heute Frankreich macht. Von all dem in
Tunesien keine Spur! Dort hatte die einheimische Regierung
gründlich abgewirtschaftet und die religiösen Anschauungen der,
wie schon erwähnt, auch zu Fanatismus wenig geneigten Be-
wohner wurden vom ersten Tage an so sorgsam geschont, daß
man von Franzosen im Lande geradezu von einer Begünstigung
des Islam sprechen hören kann. Darf doch beispielsweise kein
Christ im ganzen Lande eine Moschee betreten, außer in der
heiligen Stadt Kairuan, wo dieselben von vornherein bei der Er-
oberung von den französischen Soldaten betreten worden waren.
Alle örtlichen Einrichtungen blieben bestehen, man begnügte
sich sie zu verbessern und zu überwachen, Eingriffe in die Be-
sitzverhältnisse wurden soviel wie irgend möglich vermieden, wo
es galt unangenehme Dinge durchzuführen, traten die einheimischen
Beamten in den Vordergrund. Am meisten Eindruck machte es
aber, daß Frankreich sofort und mit Erfolg an Ordnung, Milderung
Fischer, Mittelmeerbilder. 27
— 4IÖ —
und gleichmäßige Verteilung des ungeheuren Steuerdruckes ging, daß
das herrschende, wahrhaft blutsaugerische Verwaltungssystem beseitigt
wurde, welches das Land in eine Wüste zu verwandeln drohte
und zum Teil verwandelt hat. Wie in Marokko noch heute,
konnten die Steuern nur an der Spitze eines Heeres eingezogen
werden, wobei auch gelegentlich eine widerspenstige Landschaft
„aufgegessen" wurde. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ein-
geborenen wurden, wie wir im einzelnen sehen werden, tat-
kräftig gefördert, ohne daß es, wohlverstanden, Frankreich auch
nur einen Centime kostete. So muß schon heute der wohltuende
Gegensatz von einst und jetzt auch dem Blödesten und Fana-
tischsten klar sein. Nur fünf Jahre nach der Eroberung fand
ich, abgesehen von einer Stelle, auch in den abgelegensten
Teilen des Landes keine Spur von religiösem Fanatismus oder
Haß gegen Frankreich. Daß es in Algerien leider nicht so ist,
das weiß man in den leitenden Kreisen Frankreichs nur zu gut
und auch dem einfachsten Reisenden drängt sich bald diese
Überzeugung auf. Von Tunesien muß man aber schon heute
sagen, daß die französische Schutzherrschaft und die Art und
Weise, wie sie ausgeübt wird, für das Land eine Wohltat und
auch vom allgemein menschlichen Standpunkte aus dank-
bar zu begrüßen ist.
Der Bey und seine Regierung hat nach wie vor alle Ab-
zeichen der Herrschaft, selbst eine Leibwache von 600 Mann
umgibt ihn, der tatsächliche Herrscher aber ist der Vertreter der
französischen Regierung, der Generalresident. Dieser allein hat
das Recht die Befehle des Bey bekannt zu machen, ihre Aus-
führung anzuordnen und zu überwachen. Ihm unterstehen die
Truppen. Er ist Vorsitzender des Ministerrates und zugleich
Minister des Auswärtigen, wie der Befehlshaber des Besatzungs-
heeres Kriegsminister ist. Dieses ist meist in Lagern aus niedrigen
steinernen Kasernen, hier und da auch in den alten Zitadellen
über das ganze Land bis in den äußersten Süden verteilt. Es
zählt 15000 Mann, wozu noch gegen 2000 Mann eingeborene,
aber französisch organisierte und befehligte Truppen kommen.
Diese geringe Macht genügt vollkommen und würde wohl schon
heute verringert werden können, wenn nicht andere Verhältnisse
für das Gegenteil sprächen. Die Finanzen, die öffentlichen Ar-
beiten, der Unterricht, der Ackerbau, Post- und Telegraphen-
— 419 —
Verwaltung unterstehen französischen Beamten, die allgemeine
Verwaltung eingeborenen Ministem, denen aber je ein Franzose
als Generalsekretär der tunesischen Regierung beigegeben ist, der
also in der Lage ist, alles zu überwachen. Es überwiegt also
im Ministerräte das französische Element durchaus. Ebenso stehen
den Kaids der 17 Verwaltungsbezirke Franzosen als Zivilkontrol-
leure zur Seite.
Nachdem sich Frankreich in dieser Weise zum Herren von
Tunesien gemacht hatte, mußte es selbstverständlich erste Auf-
gabe sein, das bis dahin nur in den gröbsten Zügen bekannte
Land zu erforschen, um zu wissen, was man vor sich habe.
Schon vom militärischen Standpunkte aus war das nötig. Un-
mittelbar darauf, zum Teil gleichzeitig mußte die Erschließung
des Landes durch Häfen, Straßen, Eisenbahnen, Post usw. in
Angriff genommen werden. Dann konnte, auf beiden Vorgängen
als Voraussetzung beruhend, die wirtschaftliche Entwicklung ge-
fördert werden.
Zuerst galt es eine Karte des Landes herzustellen. In
wenigen Jahren war ein Dreiecksnetz vermessen, bald auch nach
der einen Seite mit Algerien, nach der anderen über die Insel
Pantelleria mit SiziUen verbunden und auf dieser Grundlage eine,
wenn auch zunächst nur flüchtige, Aufnahme des ganzen Landes
durchgeführt. Die so hergestellte topographische Karte in i : 200 000
ist seitdem in ununterbrochener Verbesserung begriffen, wird aber
bereits durch eine Neuaufnahme und eine neue Karte in dem großen
Maßstabe von 1:50000 ergänzt, die sich an die in Ausführung
begriffene von Algerien im gleichen Maßstabe anschließt. Die
topographische Abteilung ist vor allem auch mit Aufnahme einzelner
großer Güter des Staates oder der toten Hand zur Eintragung
ins Grundbuch und mit Herstellung von Stadtplänen beschäftigt.
Ferner ist die geologische Erforschung und die Herstellung einer
geologischen Karte so eifrig und erfolgreich in die Hand ge-
nommen worden, daß heute schon Tunesien, das vor 15 Jahren
geographisch und geologisch noch ganz unbekannt war, besser
erforscht ist als beispielsweise etwa Spanien oder die europäische
Südosthalbinsel. Schon heute liegt die wirtschaftUche Bedeutung
dieser wissenschaftlichen Arbeiten klar zutage. An die geo-
logische Durchforschung schließt sich unmittelbar eine landwirt-
schaftliche Bodenuntersuchung an, wie sie wenige europäische
420
Länder besitzen. Durch zahllose Bohrungen ist die oberste Boden-
schicht etwa bis zu i m Tiefe sorgsam untersucht worden. Die-
selbe hat das Rätsel der im Altertum so gerühmten und als
schier unerschöpflich erscheinenden Fruchtbarkeit des Landes
durch den Nachweis eines fast überall vorhandenen großen Phos-
phatgehaltes gelöst. Durch die französische Marine ist femer die
ganze Küste aufs sorgsamste aufgenommen und durch Lotungen
sind bis weit ins offene Meer hinaus die Tiefen und die Be-
schaffenheit des Meeresgrundes erforscht. An allen Punkten, wo
es nötig schien, sind Leuchttürme errichtet, Bojen verankert und
sonst alles getan, was der Schiffahrt und der Fischerei in dieser
Hinsicht förderlich sein kann, selbstverständlich unter Verwendung
französischer Ingenieure und französischen Materials zu gunsten
fast ausschließlich der französischen Schiffahrt, aber auf Kosten
des tunesischen Staates.
Bei der großen Wichtigkeit, die in einem verhältnismäßig
niederschlagsarmen Lande die Kenntnis der klimatischen Ver-
hältnisse haben muß, wurde auch sofort die Einrichtung eines
meteorologischen Beobachtungsnetzes in Angriff genommen. Eine
meteorologische Kommission hat 2 1 gut über das ganze Land
verteilte Stationen eingerichtet, von denen heute bereits zum
großen Teil zehnjährige Beobachtungen vorliegen, die somit ein
in den großen Zügen richtiges Bild des Klimas, aber ganz be-
sonders der Niederschlagsverhältnisse zu entwerfen gestatten.
Damit ist landwirtschaftlichen Unternehmungen der unentbehrliche
Anhalt geboten, zugleich aber auch das Verständnis für die
Landesnatur vertieft worden. Es hat sich dabei beispielsweise
ergeben, daß im Krumirgebirge an der Nordküste, wo die Fran-
zosen in 805 m Höhe in Ain Draham ein befestigtes Lager er-
richtet haben, die mittlere Niederschlagshöhe 1754 mm, die Zahl
der Tage mit Niederschlag 131 beträgt, jeden Winter Schnee
fällt und zuweilen Yg "^ hoch einige Zeit liegen bleibt. Ihren
pflanzlichen Ausdruck finden diese ungewöhnlich günstigen Ver-
hältnisse in den dort noch erhaltenen herrlichen Wäldern. Jen-
seits des Gebirges sinkt die Niederschlagshöhe freilich sofort auf
etwa 600 mm und in Mitteltunesien auf unter 300 mm. Da diese
Niederschläge überall auf wenige Monate der sehr milden Winter
beschränkt sind — der Januar hat in Tunis eine Mitteltemperatur
von 10" C, in Sfaks von 10,5*' C, in Gabes von 11° C — so gibt
— 421 —
es eigentlich nur einen dauernd fließenden Fluß, den Med-
scherda, doch führt der auch in den Golf von Tunis mündende
kleine Wed Miliane fast immer Wasser, ebenso der mitteltune-
sische Wed Zerud, Die Beschaffung von Wasser für Menschen
und Tiere und zu Berieselungszwecken während der langen
Trockenzeit muß daher von besonderer Wichtigkeit sein. Man
hat daher nicht nur bei der topographischen und geologischen
Landesaufnahme den Flüssen, Quellen und Brunnen besondere
Aufmerksamkeit geschenkt, sondern hat eine ganz besondere
archäologische Erforschung des Landes in die Wege geleitet, die
in erster Linie den Altertümern gilt, insofern diese als Zeugen
für die dichte Besiedelung und den Reichtum des Landes in
spätrömischer Zeit, besonders im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr.,
dienen und zugleich einen Einblick in die Mittel und Wege ge-
währen können, auf denen diese Blüte ermöglicht wurde. Vor
allem galt die Forschung den Bewässerungsanlagen der Römer,
auf die man in der Tat überall stößt, oft noch so gut erhalten,
daß sie, wie die Wasserleitung von Tunis zeigt, mit geringen
Kosten wiederhergestellt werden können. Da ist nun fest-
gestellt worden, daß schon damals Niederschlagsarmut herrschen
mußte, denn es wird auch schon im Altertum über häufige
Dürre und sengende Winde geklagt und die erhaltenen Reste
zeigen, daß man überaus sorgsam alles Wasser sammelte, auf-
speicherte und verwertete. Alle Gewässer, auch die kleinsten,
wurden überwacht und geregelt. Es gab sorgsam ausgearbeitete
strenge Gesetze über die Wasserbenutzung, dieselben wurden auf
Marmortafeln verzeichnet und zu jedermanns Einsicht öffentlich
angebracht. Einzelne sind uns daher erhalten. Alles dauernd
oder zeitweilig fließende Wasser wurde hinter Staudämmen, oft
von gewaltigen Ausmaßen, wie bei Kasserin, oder in offenen oder
bedeckten Behältern aufgespeichert. Vielfach sind die Täler, in
denen nur nach heftigen Winterregen Wasser floß, durch Quer-
dämme, hinter denen sich das Wasser und die fruchtbare Erde
sammelte, förmlich in Stufen zerlegt. Die Staudämme verhinderten
zugleich Überschwemmungen und Verwüstung des angebauten
Landes.
So großartige Wasserleitungen, wie die von Karthago, die
im Jahre 117 n. Chr. unter Hadrian begonnen und 163 vollendet
wurde, war natürlich eine Ausnahme. Sie führte das Wasser der
— 422 —
starken Quellen der höchsten Berge Nordtunesiens, des Djebel
Zaghwan und des Djebel Djukar, die weit gegen das Meer vor-
geschoben die Wasserdämpfe desselben verdichten und in den
Spalten und Klüften ihrer Kalkfelsen aufspeichern, 130 km
vi^eit, wovon 17 über hohe Bogenstellungen, nach Karthago in die
zum Teil noch erhaltenen riesigen Behälter von La Malka. Aber
auch die Stadt Thysdrus, das heutige El Djem, 35 km vom
Meere in einer heute verödeten Gegend des südlichen Mittel-
tunesien, bekannt durch ihr großartiges, dem Kolosseum in Rom
nach seinen Ausmessungen nur wenig nachstehendes Amphitheater,
besaß eine Wasserleitung, die das in der Umgebung sorgsam
durch unterirdische Kanäle abgefangene Wasser wie in unseren
heutigen Städten den einzelnen Privathäusern zuführte. Zu ihrer
Ergänzung besaß sie aber noch zahlreiche große Zisternen. In
Uthina, heute Udna südlich von Tunis, wurde alles Regenwasser
von den Straßen und öffentlichen Plätzen in Zisternen gesammelt,
deren noch jedes Haus, ähnlich wie in Jerusalem, eine besaß.
Selbst an den Landstraßen waren überall Zisternen gegraben, die
das Wasser in der Umgebung zur Benutzung der Reisenden und
ihrer Tiere sammelten. Namentlich wurden Felsflächen für solche
Zwecke benutzt. Die römische Stadt Vallis westsüdwestlich von
Tunis gewann das unentbehrliche Wasser, das bei ihrer Lage hoch
am felsigen Südhange des Djebel M'rabba, der das obere Tal des
Wed Melah beherrscht, nicht anders zu beschaffen war, dadurch,
daß alles Regenwasser, welches im Winter auf die felsigen Hänge
des Berges fiel, in zementierten Rinnen einer dreifachen Reihe
zementierter Sammelteiche zugeführt und von da in die öffentliche
Zisterne der Stadt geleitet wurde, die mehr als 15000 cbm fassen
konnte. Die sogenannten Feskias von Sfaks, zum Teil bedeckte
Sammelbecken, die bei heftigen Regen vom Wed Aguareb ge-
füllt werden, vermögen 18000 cbm zu fassen, das sogenannte
Becken der Aglabiten in Kairuan, allerdings eine Schöpfung der
Araber, vermag sogar 50000 cbm zu fassen. Dazu kamen nun
zahllose Brunnen, namentlich auf der Insel Djerba, um Sfaks und
anderwärts, aus welchen das Wasser durch meist sehr einfache
Hebevorrichtungen mit Hilfe von Kamelen oder Eseln in Sammel-
becken emporgehoben und aus diesen durch die Gärten geleitet
wird und in römischer Zeit noch mehr geleitet wurde. An Quellen
im allgemeinen nicht reich, ist Tunesien doch an warmen Quellen
— 423 —
nicht gerade arm, von denen viele noch heute die Trümmer
römischer Bade- und Berieselungsanlagen erkennen lassen. Heute
meist unbenutzt, dienten sie noch den Arabern zu Badezwecken,
wie schon die häufigen mit Hammam (= Bad) gebildeten Orts-
namen zeigen. Auch hier handelt es sich um noch ungehobene
Schätze. Namentlich dürfte die Oase Gafsa, die ja in kürzester
Zeit von Sfaks aus mit der Eisenbahn zu erreichen sein (tatsäch-
lich heute erreicht) wird, mit Hilfe ihrer starken warmen Quellen
bald zu einer ausgezeichneten Winterstation werden, wie es Biskra
in der algerischen Sahara schon ist. Die Quellen liefern täglich
mehr als 6000 cbm Wasser von 28 — 30" C, sind also im Winter
warm, im Sommer kühl und wurden in römischer Zeit hoch
geschätzt.
Unter so sorgsamer Ausnutzung alles vorhandenen Wassers,
im Schutze römischer Militärstationen, die die Wüstenstämme zu-
rückhielten, durch ein großartiges Netz von Straßen, die von
Karthago, Hadrumet und Tacape (Gabes) ausgingen und im In-
nern hie und da noch sehr gut erhalten sind, war es den rö-
mischen Ansiedlem möglich, immer tiefer ins Innere vorzudringen,
das Land immer intensiver anzubauen und in ein blühendes
Kulturland zu verwandeln. Es muß im dritten und vierten Jahr-
hundert nach Christus ganz Nord- und Mitteltunesien so dicht
bevölkert gewesen sein, wie heute die besten ackerbauenden
Gegenden Mitteleuropas. Um Mitte des vierten Jahrhunderts
zählten Städte, die noch zur Zeit der Antonine gar nicht vorhanden
gewesen waren, wie Thelepte, dessen Trümmer nahe bei dem
heutigen armseligen Oasenörtchen Feriana liegen, Ammaedara,
das heutige Haidra, Cillium (Kasserin), Suffetula (Sbeitla) 20 — 60000
Einwohner. Ihre großartigen Trümmer mit zum Teil wohl erhal-
tenen Resten von Tempeln, Kirchen, Theatern, Amphitheatern,
Hippodromen, Mausoleen, Triumphbogen und dergleichen liegen
in einer Gegend, in der man noch 1886 tagelang reiten konnte
und vermutlich noch heute, abgesehen von den neuerrichteten
befestigten Karawansereien, reiten kann, ohne auch nur ein be-
wohntes Haus zu finden. Wohl aber begegnet man auf Schritt
und Tritt den Trümmern von Städten, Dörfern, Meierhöfen, Öl-
mühlen und dergleichen. Mit herrlichen Skulpturen geschmückte
Grabmäler erheben sich in öder mit Gestrüpp und Unkraut be-
deckter Steppe. Wo einst viele Hunderttausende hochgesitteter
— 424 —
Menschen in Wohlstand lebten, da finden heute etwa 1500
Nomaden des arabisierten Berberstammes der Freschisch, deren
Gastfreundschaft ich genoß, mit ihren Herden dürftigen Unterhalt.
Wie dicht diese Gegenden damals bewohnt waren und
worauf diese Volksdichte beruhte, darüber gewähren vor kurzem
von den Franzosen vorgenommene Untersuchungen Aufschluß.
Ein französischer Landmesser hat zu Besiedelungszwecken eine
Landfläche von 2 7 000 ha in der Umgebung von Sbeitla, wo noch
heute großartige Trümmer von entschwundener Pracht zeugen,
vermessen und dabei so sorgsam wie möglich alle Reste des
Altertums festgestellt und verzeichnet. Es ergibt sich daraus, daß
außer Sbeitla in diesem Gebiet, das also ungefähr der Hälfte
eines preußischen Kreises mittlerer Größe gleichkommt, noch drei
Städte, 15 größere und 49 kleinere Wohnplätze vorhanden waren.
Er zählte 1007 noch erhaltene Ölpressen, während heute weit
imd breit nicht ein Baum, geschweige ein Ölbaum zu sehen ist.
Nimmt man für Sbeitla, sehr niedrig, 20000 Einwohner an, für
die anderen Städte im Mittel etwa 3000, 600 für die größeren,
100 für die kleineren Siedelungen und auf jede Ölmühle 400
Ölbäume, so standen auf dieser Fläche etwa 400000 Ölbäume
und lebten dort 43000 Menschen, also 160 auf i qkm. Es war
also die Baumzucht, besonders die Olivenzucht, welche Mittel-
tunesien zu solcher Blüte gebracht hatte. Ganz Mitteltunesien
war im Laufe der Jahrhunderte, indem der Anbau immer weiter
ins Innere und nach Süden vorrückte, mit unabsehbaren Oliven-
hainen bedeckt worden und mochte landschaftlich fast den glei-
chen Eindruck machen, wie die Halbinsel des Kap Bon, die
nach der Schilderung, welche der Sizilier Diodor bei Darstellung
der Landung des Tyrannen Agathokles von Syrakus gibt, ein
ungeheurer Garten und Fruchthain war, durch welchen die ein-
zelnen Häuser der Bewohner verstreut waren. Ist es doch noch
heute so auf der von fleißigen Berbern bewohnten Insel Djerba
und in weiten Strichen des sogenannten tunesischen Sahel, dem
Küstenlande Mitteltunesiens, die noch riesigen Olivenhainen glei-
chen. Es war in römischer Zeit in Nord- und Mitteltunesien aller
schwerer Boden, also die Täler und die Ebenen, dem Weizen-
bau, aller leichterer und die Hänge dem Ölbaum in einer Aus-
dehnung gewidmet, von der wir uns heute kaum eine Vorstellung
machen können, die aber die ungeheueren Mengen Öl erklär-
— 425 —
lieh machen, welche Tunesien nach Rom lieferte. So konnten
die als Wüstenbewohner darüber erstaunten Araber sagen, ob-
wohl jene Blütezeit längst vorüber war, daß man von Tripolis
bis Tanger im Schatten der Bäume von Dorf zu Dorf wandern
könne.
Aber eben diese Araber waren es, die als Nomaden Feinde
des Anbaues und der Baumzucht die schon durch die Kriege
und Aufstände gelichteten Fruchthaine vollends vernichteten.
Viele Siedelungen wurden zerstört, die Bevölkerung getötet, die
Bewässerungsanlagen verfielen, das Land verödete allmählich und
verfiel in den Zustand, den wir heute vor uns haben oder vor
15 Jahren vor uns hatten. Diese Schilderung von dem, was Tu-
nesien einst war, kann uns eine Vorstellung von dem geben, was
es wieder werden kann. Wir sehen also, daß durch Aufspeiche-
rung imd peinliche Ausnutzung der Wasservorräte, wie Einfüh-
rung der geeigneten Gewächse ein Land, welches nur Nomaden
zu ernähren geeignet erscheint, von einer dichten, hoch gesitteten
Bevölkerung bewohnt werden kann. Ja, das Haurangebiet Palä-
stinas, das in derselben Zeit wie Tunesien ein reiches Kulturland
war, liefert den Beweis, daß durch solche Mittel sogar ein Land,
das selbst für Nomaden nur in der niederschlagsreichen Jahres-
hälfte bewohnbar ist, für hochgesittete Menschen dauernd be-
wohnbar gemacht werden kann.
Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes galt es für die
Franzosen vor allem Häfen, Eisenbahnen, Straßen und ähnliche
Anlagen ins Leben zu rufen. Bei der Einrichtung der franzö-
sischen Schutzherrschaft besaß Tunesien nicht einen einzigen den
Anforderungen unserer Großschiffahrt genügenden Hafen. Der
1886 eingesetzten Direktion der öflfentlichen Arbeiten lag vor
allem ob, diesem Übelstande abzuhelfen. So wurden nach reif-
lichen Erwägungen, ob man den Hafen von Tunis vor Goletta,
das bis dahin den Seeverkehr durch seine wenig geschützte Reede
vermittelt hatte, oder bei Tunis selbst im Haflf anlegen solle, die
Arbeiten an letzterem Punkte begonnen. Entscheidend war dafür
wohl die Erwägung, daß ein so gleichsam im Innern des Landes
gelegener Hafen auch von einer überlegenen Flotte nicht ge-
fährdet werden könne. Hinzu kam der Vorteil von Tunis, dessen
europäische Entwickelung dadurch naturgemäß gefördert werden
mußte, und die Schädigung der Goletta mit Tunis verbindenden
— 426 —
Eisenbahn, die bis dahin den ganzen Verkehr zu bewältigen ge-
habt hatte. Dieselbe ist nämlich in italienischem Besitz und war
mit keinem Mittel zu beseitigen gewesen.^) So gelangen heute
auch größere Mittelmeerdampfer auf einem 8 km langen, 6,5 m
tiefen Kanäle, der in dem seichten Haflf ausgehoben worden ist,
bis in den Hafen von Tunis selbst, dem die europäische Neustadt
rasch entgegenwächst. Goletta ist zu einem Seebadeorte herab-
gesunken. Dient der Hafen von Tunis nur dem friedlichen Ver-
kehr, so ist der von Biserta zum großen Kriegshafen, einem der
besten der Welt, bestimmt. Seine geographische Lage an einer
flachen, leidlichen Schutz bietenden Bucht dicht an der Nord-
spitze Afrikas, an der Straße von Pantelleria, also in einer
Flankenstellung zur wichtigsten Welthandelsstraße zwischen Gibral-
tar und Malta, Sizilien, Sardinien und dem Tyrrhenischen Meere
gegenüber, die von hier aus die Karthager, die Vandalen, die
Araber beherrscht haben, fast in der Mitte des Mittelmeers, in
kaum 40 Stunden von Toulon erreichbar, ist eine ausgezeichnete.
Ein nächster Krieg, der notwendig Italien an Englands Seite
finden wird, wird die große Bedeutung von Biserta erweisen. An
diesem Punkte führt ein enger natürlicher Kanal in einen weiten
und tiefen See, der seinerseits noch den Abfluß einen zweiten
noch weiter landeinwärts gelegenen aufnimmt. Dieser Kanal war
im Laufe der Jahrhunderte mit dem Schutt und Unrat der Stadt,
der schon in punischer und römischer Zeit eine große Rolle
gespielt hatte, angefüllt worden und war nur noch für kleine
Fahrzeuge fahrbar. Statt ihn zu reinigen, schien es vorteilhafter,
einen neuen Kanal von 9 m Tiefe und 64 m Breite^) geradeaus
in den See zu graben, der nun einen den größten Kriegsschiffen
zugänglichen, ungeheueren, durchaus sicheren und unangreifbaren
Hafen bildet, der jetzt stark befestigt und mit Docks und an-
deren Anlagen für die Kriegsmarine versehen wird. Zwei je
1000 m lange Dämme bilden an der äußeren Mündung des
Kanals einen Vorhafen. Eine Eisenbahn, von welcher unmittel-
bar die Waren in die Schiffe verladen werden können, verbindet
bereits Biserta mit Tunis. Dasselbe könnte sich so auch zum
Handelshafen entwickeln, wird aber vorzugsweise der Beherr-
1) Sie ist seitdem in französische Hände übergegangen.
2) Siehe den folgenden Aufsatz.
— 427 —
schung des Mittelmeeres durch Frankreich und in erster Linie
als Trutz-INIalla dienen. Einfachere Hafenanlagen sind in Susa
und Sfaks geschaffen worden. Ein ähnlich wie Biserta der An-
legung eines Kriegshafens günstiger Punkt, auf den schon mehr-
fach hingewiesen worden ist, findet sich bei Zarzis nahe der
Grenze von Tripolitanien. Es ist damit allen Bedürfnissen der
Gegenwart genügt. Diese Hafenbauten haben mehr als 40 Mill.
Eres, gekostet, die der tunesische Staat aufgebracht hat. Selbst-
verständlich sind dabei nur französische Ingenieure und soweit
wie möglich französisches Material verwendet worden. Und da
der Seeverkehr Tunesiens schon beinahe ein Monopol Frankreichs
geworden ist, so kommen diese Anlagen nur dem Wirtschafts-
leben Frankreichs zugute.
Die Hafenbauten mußten notwendig durch Straßen und
Eisenbahnen ergänzt werden. Sofort nach der Besetzung nahm
Frankreich auch dies in Angriff. Wie man das von Algerien
gewohnt ist, wurden zunächst Soldaten zum Straßenbau verwendet.
Von großer Wichtigkeit ist dabei, daß das Gelände fast gar
keine Schwierigkeiten bietet; es sind keine großartigen, kost-
spieligen Brücken über die Flüsse zu bauen, da solche fast nicht
vorhanden sind; keine hohen Gebirge sind mühsam in Tunnels
zu durchbohren und dergleichen mehr. In Mittel- und Südtunesien
namentlich sind die Geländeschwierigkeiten so geringe, daß man
nur Wagen herbeizubringen brauchte , mit denen man ohne jede
Wegebahnung sofort durch die Steppen und Wüsten fahren
konnte. Schon 1886 fand ein großer Teil der Warenbeförderung
auf leichten Karren von Tunis, Sfaks oder Gabes aus bis in die
Oase Gafsa und in die des Beled el Djerid statt. Dort im Süden
galt es nur für Wasserstationen und Karawanserais zu sorgen.
Und das ist auch sehr bald geschehen. Auf den Linien von
Sfaks und Gabes nach Gafsa und Tozer sind solche meist in
einem Abstände von 40 km errichtet worden. Da diese Kara-
wanserais meist als sogenannte Bordj, d. h. Mauervierecke mit
nur einer (Tor-) Öffnung, alle Räume nur von innen zugänglich,
also als kleine Festungen an den Wasserstellen errichtet sind, so
wäre es im Falle von Unruhen nur nötig, sie mit Besatzungen
zu versehen, um im Besitze der Wasserstellen jeden Widerstand
unmöglich zu machen. Auch die sehr geringen Löhne, die den
Arbeitskräften, sowohl den einheimischen, wie den sich in Menge
— 420 —
anbietenden Italienern gezahlt werden, erleichtern die Sache. So
waren bis Ende 1896 bereits 1400 km Kunststraßen hergestellt,
die man vorher in Tunesien kaum gekannt hatte. Diese haben
nur 13 Millionen Frcs. gekostet, die natürlich die tunesische Ver-
waltung aufgebracht hat. Mit noch weiteren 3 — 4 Millionen Frcs.
wird allen Bedürfnissen der Gegenwart genügt sein.
Von Eisenbahnen war die nur 34 km lange, aber sehr
wichtige italienische Linie von La Goletta und La Marsa vor-
handen, dazu die französische Linie von Tunis durch das Med-
scherdatal nach Algerien. An diese gliedern sich heute bereits
zahlreiche Abzweigungen und Anschlußlinien an nach Biserta,
Zaghuan, Susa usw. Es waren Ende 1896 bereits 499 km im
Betriebe, zu denen in kürzester Zeit noch 176 weitere hinzu
kommen sollten. Namentlich ist auch hier schon auf die wich-
tige Linie von Sfaks über Gafsa in das Gebiet der Phosphat-
gruben hinzuweisen. In Tunis ist bereits eine Straßenbahn vor-
handen. Telegraphenlinien von 2500 km Länge durchziehen das
ganze Land, ein regelmäßiger Postdienst bis in die entlegensten
Orte ist eingerichtet, ein eigenes Kabel verbindet seit 1893 Tunis
mit Marseille!
Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes gehört vor
allem auch die Wasserversorgung, zunächst wenigstens der Städte.
Schon die Rücksicht auf die französischen Truppen, Beamten
und Ansiedler, die doch zunächst sich den Städten zuwenden,
erfordert dies. Die wichtigste Anlage dieser Art, die Wasser-
versorgung von Tunis, fällt allerdings schon in eine frühere Zeit,
ist aber auch eigentlich das Werk eines Franzosen, des General-
konsuls L6on Rocher. Unter dessen Einfluß wurde 1861 unter
einem Kostenaufwande von 13 Millionen Frcs. die alte römische
Wasserleitung von Zaghuan her bei Tunis wiederhergestellt. Die
französische Verwaltung hat seitdem für gute Unterhaltung und
Verbesserung der Leitung gesorgt, so daß Tunis und Umgebung
heute wohl unter allen Städten Afrikas die am reichlichsten mit
vortrefflichem Trinkwasser versehene ist. In ähnlicher Weise sind
seit 1881 auch Biserta, Kef, Kairuan, Susa, Sfaks und andere
Orte mit Wasser versehen worden, auch vielfach unter Wieder-
herstellung römischer Anlagen. In der heiligen Stadt Kairuan ist
nicht nur das Becken der Aglabiten wieder in guten Zustand
versetzt, sondern auch das Wasser der Quellen von Cherichera
— 429 —
in 30 km langer Leitung herbeigeführt werden. Es ist daher
nur ein Aufwand von 6 Millionen Frcs. nötig gewesen. Dazu
hat die französische Verwaltung der Oase Gabes 1894 durch ein
neues Stauwerk im Wed Gabes größere Wassermengen zur Ver-
fügung gestellt. Andere Arbeiten ähnlicher Art müssen aber
dort und anderwärts nachfolgen, denn noch bleibt ^^ der vor-
handenen Wasservorräte unbenutzt. Es ist also noch eine große
Erweiterung der Dattelhaine möglich. Wie es in Algerien mit so
großem Erfolge geschehen ist, so haben auch in der Umgebung
der Kleinen Syrte und auf der Insel Djerba künstliche Brunnen-
bohrungen stattgefunden und finden solche noch immer statt.
Ein Erfolg ist nicht ausgeblieben, wenn er auch bisher noch
nicht besonders hervortritt. Die großen Wassermassen, welche
der Medscherda, der zehn Monate im Jahre ein breiter und tiefer
Strom ist und auch bei niedrigstem Stande noch 2 cbm Wasser
in der Sekunde führt, dem Meere mitten durch fruchtbares Allu-
vialland dem Meere zuwälzt, sind heute noch so gut wie unbe-
nutzt. Sie vermögen aber ein weites Gebiet von Nordtunesien
in einen Garten zu verwandeln. Bei Djedeida könnten unter
Benutzung alter, wohl römischer Stauwerke 4500 ha, bei Teburha
7 — 8000 ha berieselt werden.
Es sind femer zahlreiche Bauten für die verschiedensten
Zweige der Verwaltung errichtet worden: für die Post- und Tele-
graphenverwaltung, für den Zoll- und Steuerdienst, Gendarmerie-
posten, Gefängnisse, Schlachthäuser und dergleichen mehr. Die
Städte sind kanaUsiert, die Straßen gepflastert, zum Teil sogar
schon mit Bäumen bepflanzt worden. Es ist für Straßenreinigung
gesorgt worden und dergleichen mehr. Es leuchtet ein, daß
durch alle diese Maßregeln auch die öffentliche Gesundheit ganz
außerordentlich gefördert worden ist.
Alle diese Arbeiten haben die verhältnismäßig geringe Summe
von 1 50 Millionen Frcs. erfordert ! Und diese ist nicht etwa
durch Anleihen, auch nicht durch erhöhte Steuern aufgebracht
worden, sondern sogar unter Erleichterung derselben, nur durch
geordnete Verwaltung aus den regelmäßigen Einnahmen! Da-
durch sind Überschüsse erzielt worden, die in einzelnen Jahren
30 Millionen Frcs. erreicht haben. Die Summen, welche im
Budget Frankreichs auf Tunesien kommen, sind ledigUch der
Eroberung des Landes und der Unterhaltung des Besatzungs-
— 430 —
heeres zuzuschreiben, das natürlich auch sonst unterhalten wer-
den müßte. Die tunesische Staatsschuld war durch Anleihen
und unglaubliche Verschleuderungen von 1 2 Millionen Frcs. im
Jahre 1860 auf 160 Millionen im Jahre 1870 gestiegen. Da-
durch in erster Linie ist das Land um seine Selbständigkeit ge-
kommen. Frankreich hat die Finanzen von Tunesien durch An-
leihen und Umwandlungen, die natürlich alle dem französischen
Geldmarkte zugute kamen, in einer Weise geordnet, daß dies
Land, das schließlich überhaupt kein Geld mehr geliehen erhielt,
heute nur noch 3^^ Zinsen zu zahlen braucht! Auch das Münz-
wesen ist europäisiert worden. Das Meter- und Dezimalsystem
ist eingeführt worden, alles Maßregeln, die natürlich der wirt-
schaftlichen Betätigung der Franzosen höchst förderlich sind.
In dieser Weise ist also ein neuer wirtschaftlicher Auf-
schwung Tunesiens angebahnt worden, der schon heute überall
erkennbar ist. Selbstverständlich ist es die Nation , die die Ge-
fahr auf sich genommen, die die Arbeit geleistet hat, die nun
auch die Früchte erntet.
Tunesien ist, wie wir sahen, in erster Linie ein Land des
Ackerbaues. Wenden wir uns daher zunächst den landwirtschaft-
Uchen Unternehmungen der Franzosen zu. Hier galt es vor
allem Klarheit und Rechtssicherheit in die, wie in allen moham-
medanischen Ländern, so auch hier sehr verwickelten Besitzver-
hältnisse zu bringen, schon um Reibungen und Unzufriedenheiten
vorzubeugen. Es galt festzustellen, was Privat-, was Staats-, was
Besitz frommer Stiftungen ist. Damit ist erfolgreich begonnen
worden. Ununterbrochen werden Güter vermessen und ins Grund-
buch eingetragen. Namentlich ist eine Behörde geschaffen
worden, deren Entscheidungen entgültige sind und klare Ver-
hältnisse schaffen. Auch hat man angefangen in der Umgebung
von Tunis die Güter der toten Hand, die unveräußerlich sind,
in Rentengüter umzuwandeln. Der Staat läßt zu Landkaufs-
zwecken unentgeltlich Analysen von Bodenproben vornehmen. So
ist der europäische, d. h. französische Grundbesitz sehr rasch
gestiegen: Ende 1896 waren bereits 450000 ha in europäischen,
d. h. zu 90^0 in französischen Händen. Und schon sind es nicht
bloß reiche Privatleute, Banken und Gesellschaften, welche Land
kaufen, sondern es entwickelt sich schon mittlerer und kleiner
Besitz. Ja, man kauft schon Grundbesitz, der in Fülle angeboten
— 431 —
wird, und läßt ihn ganz in der bisherigen Weise von Eingeborenen
bewirtschaften. Damit erzielt man noch immer eine Verzinsung
des Kapitals zu s'^/q, gegen 3°/o oder weniger in Frankreich, un-
gerechnet die natürliche Wertsteigerung. Diese letztere ist eine
rasche und bedeutende. Während man 15 km von Tunis an-
fangs der achtziger Jahre den Hektar guten Landes für 100 Frcs.,
25 km von Tunis für 50 Frcs. kaufen konnte, muß man jetzt im
Umkreise von 25 km bereits 300 — 500 Frcs. zahlen. Etwas
weiter ins Innere ist aber noch immer gutes Land zu 25 Frcs.
zu haben. Naturgemäß erwerben Franzosen vorzugsweise in Nord-
tunesien Grundbesitz, aber auch in der Umgebung von Sfaks
mehren sich die französischen Grundbesitzer rasch. Man zählt
bereits 800 europäische Grundbesitze. Davon sind einzelne von
ungeheuerer Größe. Das vielbesprochene Enfidagut am Golf von
Hammamet umfaßt allein gegen 10 000 ha und einzelne Güter
haben Anlagesummen bis zu 2 Millionen Frcs. erfordert.
Anfangs warfen sich die Franzosen auf den Weinbau. Mit
fieberhaftem Eifer sah man 1886 in Nordtunesien unter großen
Kosten überall das Land zu Weinbau herrichten. Die dem
Weinbau gewidmete Fläche ist schon auf 6000 ha gestiegen und
das darin angelegte Kapital wird zu 25 Millionen Frcs. berechnet.
Freilich hat man zunächst nur Enttäuschungen mit dem Weinbau
erfahren, da bisher nur gewöhnliche Rotweine erzielt werden
und die Entwickelung des tunesischen Weinbaus mit dem Wieder-
erstarken desselben in Frankreich zusammenfiel. Bessere Aus-
sichten bietet aber die jetzt im Vordergrunde stehende Oliven-
zucht, die allerdings gegen 10 Jahre erfordert, ehe die Bäume
zu vollem Ertrage kommen. Sie tragen dann aber geradezu
jahrhundertelang und um Sfaks gibt es Pflanzungen, wo ein
Baum 15 — 25, ja bis zu 40 Frcs. jährlich abwirft. Tunesien ist
sozusagen das Olivenland schlechthin. Wie es im Altertume un-
gemessene Mengen Öl nach Rom lieferte, so ist Olivenöl auch
noch heute eines der wichtigsten Erzeugnisse Tunesiens. Man
schätzt die Zahl der Ölbäume auf 11 — 12 Millionen^), ihren Er-
trag, trotz ungeeigneter Behandlung des Öls, auf 25 Millionen
Frcs. Der tunesische Sahel, das Küstengebiet um Susa, Monastir,
Mahedia bildet auf Hunderte von Quadratkilometern einen lichten
I) 1901 waren es bereits 20 Millionen.
— 432 -
Hain von Ölbäumen. Auch pflegen hier die Eingeborenen den
Ölbaum in so ausgezeichneter Weise , wie sonst nirgends in den
Mittelmeerländern. Die Art und Weise den Baum zu pflanzen,
zu düngen, zu beschneiden, den Boden zu bearbeiten, — min-
destens fünfmal im Jahre! — wie sie sich durch Erfahrung im
Laufe von Jahrhunderten in der Umgebung von Sfaks entwickelt
hat, ist mustergültig. Hier geht auch immer mehr Olivenland in
französische Hände über, namentlich seit der ungeheuere Land-
besitz der Familie Siala zu Staatsgut gemacht worden ist und
von der Regierung der Hektar zu lo Pres, verkauft wird unter
der Bedingung, daß er binnen vier Jahren mit Ölbäumen bepflanzt
ist. So sind seit 1892 bereits 72000 ha verkauft worden. Dazu
halte man sich gegenwärtig, daß so ziemlich ganz Nord- und
Mitteltunesien mit Ölbäumen wieder bepflanzt werden kann und
daß ein Hektar Land, der heute als Weideland in Nordtunesien
20 Frcs., in Mitteltunesien 10 Pres, kostet, mit Ölbäumen be-
standen 700 — 800 Pres, wert ist. Eine so riesige Wertsteigerung
bewirkt dieser edle Fruchtbaum! Derselbe bringt hier überdies
Früchte hervor, deren Fettgehalt größer ist als irgendwo und von
Norden nach Süden zunimmt. Während derselbe in der Provence
selten zo^j^ erreicht und auf 13% herabgeht, auch in Bari nur
20 — 2T)^/q beträgt, steigt er in Tunesien bis auf 3i7o'- Hier ist
also ein ungeheures Feld gewinnreicher Betätigung für franzö-
sische Landwirte und Geldleute! Diese haben auch bereits an-
gefangen die minderwertigen Verfahren der Eingeborenen bei der
Ölbereitung durch das in der Provence eingebürgerte und durch
vervollkommnete Maschinen zu ersetzen. Es waren bis Ende 1896
bereits 125 französische Ölfabriken mit 18 Dampfmaschinen und
532 französische Ölpressen in Betrieb.
An die Olivenhaine ist noch heute die größte Volksdichte
in Tunesien gebunden. Im sogenannten Sahel allein wohnen
etwa 150000 Menschen, d. h. 200 — 250 auf i qkm, V4 der Be-
wohner sitzen überhaupt in einem schmalen Küstengürtel. Das
Innere dagegen , das ebenso oder annähernd ebenso dicht be-
wohnt sein könnte, ist sehr dünn von Nomaden oder Halbnomaden,
in Zelten oder Reisighütten (Gurbis) etwa drei Köpfe auf i qkm,
bewohnt. Nach einer 1890 von der französischen Heeresverwal-
tung durchgeführten Aufnahme gab es in Tunesien 138000 Woh-
nungen, von denen 57000 Häuser, 81 000 Zelte waren. Feste
— 433 —
Dörfer findet man im baumarmen oder baumlosen Innern sehr
selten und nur im Gebirge, wo sich die Berbern noch in ihrer
Eigenart behauptet haben. Erst im Süden, im Gürtel der Oasen,
überwiegen feste Siedelungen, die man der Zahl der Bewohner
nach meist als Städte bezeichnen würde.
In ähnlicher Weise haben die Franzosen auch bereits in
Südtunesien den Anfang mit der Zucht der Dattelpalme gemacht,
die dort die vorzüglichsten Datteln liefert. Heißt doch ein Teil
desselben geradezu das Dattelland. Hier können die Erfahrungen,
die bei der Anpflanzung von Palmenoasen im südlichen Algerien
gemacht worden sind, sofort verwertet werden. Nur daß die
südtunesischen Dattelhaine näher am Meere liegen, die Datteln
also ausfuhrfähiger sind. Die Aufnahmefähigkeit des Weltmarkts
für diese wohlschmeckenden und nahrhaften Früchte ist heute
noch sozusagen unbegrenzt, während das tunesische Olivenöl erst
das italienische und spanische wird zurückdrängen müssen. Die
Süd- und zum Teil schon die mitteltunesischen Steppen liefern
auch bedeutende Mengen des Haifagrases, dessen Ausbeutung
heute auch im wesentlichen aus englischen in französische Hände
übergegangen ist!
Wie im Altertum, so ist auch heute noch Tunesien ein aus-
gezeichnetes Weizenland. Auch da hat bereits die französische
Unternehmung eingesetzt und erzielt naturgemäß weit höhere Er-
träge wie die Eingeborenen mit ihren schlechten Geräten und
veralteten Verfahren. Für die Zucht von Frühgemüsen sind die
Bedingungen sehr günstige. Kartoffeln geben unter künstlicher
Bewässerung drei Ernten im Jahr. Die Regierung fördert diese
Bestrebungen eifrig und erfolgreich, namentlich durch einen neu
angelegten Versuchsgarten, von welchem freigebig Pflanzen ab-
gegeben werden. Auch die von den Eingeborenen sehr urtüm-
lich betriebene Viehzucht erweist sich nach einzelnen Versuchen
als sehr lohnend.
An Wäldern ist Tunesien trotz weit fortgeschrittener Ver-
wüstung nicht so arm, wie es auf den ersten Blick scheint. Es
ist eine geordnete Forstverwaltung eingerichtet worden, ja man
hat schon mit Wiederaufforstung begonnen. Ertragreich sind von
der zu 500000 ha angenommenen Waldfläche zunächst freilich
nur die herrlichen Wälder von Kork- und Zenneichen, welche
das Krumirgebirge , also die niederschlagsreichste Gegend Tune-
Fischer, Mittelmeerbilder. 28
— 434 —
siens, trägt. Diese letzteren vermögen noch für sechs Jahre je
40000 Tonnen Gerberlohe, einen hohen Prozentsatz des euro-
päischen Gesamtverbrauchs, hervorzubringen und in wenigen Jahren
wird die normale Korkgewinnung auf einen jährlichen Reinertrag
von 600000 Frcs. gestiegen sein. Selbstverständlich handelt es
sich auch hier lediglich um französische Beamte und Gesell-
schaften.
Sehr wertvolle Ergebnisse hat die geologische und bergbau-
liche Durchforschung Tunesiens gehabt. Vorkommen von Silber,
Blei, Zink und Eisen waren zum Teil schon länger bekannt, zum
Teil in Abbau genommen, naturgemäß von französischen Gesell-
schaften unter Leitung französischer Bergleute, mit Maschinen aus
französischen Werkstätten. Die Arbeiter sind allerdings Italiener
und Eingeborene, da für die ortsüblichen niederen Löhne keine
Franzosen zu haben sind. Doch wird Tunesien niemals ein
Land bedeutenden Erzbergbaus werden. Weit wichtiger sind die
neu aufgefundenen Phosphatlager, im äußersten Südwesten zwi-
schen Gafsa und Tamerza auf dem Staate gehörigem Boden,
andere auf dem westlichen Hochlande Mitteltunesiens bei Kalaat-
es-Senam, Kalaat Djerda und Thala. Während aber die erst
1887 bei Tebessa in Algerien aufgefundenen bereits in Abbau
genommen sind und reichen Ertrag geben, weil die Eisenbahn
schon bis dorthin vollendet war, harren die schon 1885 aufge-
fundenen tunesischen noch der Aufschließung. Diese wird aber
beginnen, sobald die i8g6 beschlossene und begonnene Eisen-
bahnlinie Sfaks-Gafsa, die so gut wie gar keine Geländeschwierig-
keiten bietet, vollendet sein, wird.^) Eine französische Gesell-
schaft mit 20 Millionen Frcs. Kapital hat auf 60 Jahre die Aus-
beutung dieser bis 60 prozentigen Phosphatvorkommen, deren
Mächtigkeit mindestens 50 Millionen Tonnen beträgt, und zu-
gleich den Bau und Betrieb der Eisenbahn vom tunesischen Staate
übernommen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich um ein
sehr gewinnreiches Unternehmen handelt. Bei dem überall nach-
gewiesenen starken Phosphatgehalte des Bodens, der die sozu-
sagen unerschöpfliche Fruchtbarkeit desselben erklärt, ist nicht
ausgeschlossen, daß noch ebenso wichtige Vorkommen aufge-
funden werden.
l) Sie ist schon in Betrieb.
— 435 —
Eine weitere Quelle des Reichtums Tunesiens, die eben
beginnt auch in französische Taschen zu fließen, ist die Fülle
von Fischen, Badeschwämmen, Edelkorallen und anderer Erzeug-
nisse, welche die Haffe und die Tunesien umspülende Flachsee,
besonders im Osten, hervorbringt. Sardinen und Anchovis werden
dort in ungeheueren Mengen gefangen und Franzosen legen
immer mehr Sardinenfabriken an Stelle der unvollkommenen Ver-
fahren der Eingeborenen an. Ebenso Salzereien der sogenannten
Alacce, einer Sardinenart. Öl liefern die Olivenhaine, Salz die
Salzgärten an der Küste selbst. Auch einige große Thunfische-
reien, von denen hier mehrere seit 2000 Jahren nachweisbar
an ein und derselben Stelle bestehen, sind in französischen Be-
sitz übergegangen oder von Franzosen neu angelegt worden.
Sehr reich sind die Fischereien im See von Biserta und im Haff
von Tunis und beide werden bereits von französischen Gesell-
schaften betrieben. Die erstere sendet täglich mehrere tausend
Kilo Fische in gefrorenem Zustande nach Marseille. Die Fischer
selbst sind Eingeborene bzw. die Schwamm- und Korallenfischer
Italiener und Griechen. Ein Versuch, bretonische Fischer zur
Verdrängung der Italiener als Sardinenfischer in Tabarka anzu-
siedeln, ist kläglich gescheitert. Die tunesischen Fischereien sind
aber noch einer großen Entwickelung fähig.
Waren schon im Vorhergehenden gelegentlich gewerbliche
Unternehmungen französischer Einwanderer zu verzeichnen, so
mögen dem noch eine Reihe anderer hinzugefügt werden, wie
sie vorzugsweise in einem „neuen" Lande ins Leben zu rufen
sind: Ziegeleien und Zementfabriken für die namentlich in Tunis
rege Bautätigkeit, Faßfabriken für Wein und Öl, Eisfabriken,
Mühlen, Seifenfabriken mit dem im Lande gewonnenen Öle, Gas-
fabriken — es sind so ziemlich noch alle tunesischen Städte zu
beleuchten — Druckereien, lithographische Anstalten, Parfume-
rien, Fabriken alkoholischer Getränke und dergleichen.
Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes in den letzten
15 Jahren prägt sich wohl am besten in der Entwicklung des
Handels aus. Im Jahre 1875 betrug der Gesamthandel Tune-
siens, Aus- und Einfuhr, etwas über 20 Mill. Eres.! Im Jahre
1894 war er auf 78,9, 1895 auf 85,3 Mill. gestiegen. Dabei
geht derselbe immer mehr in französische Hände über. Italiener
und Engländer treten immer mehr in den Hintergrund. Die Er-
— 436 —
richtung einer Handelskammer in Tunis 1885, die fast völlige
Aufhebung der Zollschranken zwischen Frankreich und Tunesien
1890, die Vermehrung und Verbesserung der staatlich unter-
stützten Dampferverbindungen hat hierbei natürlich in hohem
Grade fördernd mitgewirkt. Naturgemäß wird Tunesien damit
auch politisch immer enger an Frankreich geknüpft und auch die
letzten Zölle werden wohl in kurzer Zeit in Wegfall kommen.
Frankreich selbst vermag die Nahrungs- und Genußmittel, welche
Tunesien fast allein ausführt, bei weitem nicht genügend hervor-
zubringen, bezieht dieselben also mit Vorteil aus Tunesien.
In welchem Maße somit der tunesische Handel in französische
Hände hinübergleitet, das mögen folgende Zahlen veranschau-
lichen: Der Anteil Frankreichs am Gesamthandel Tunesiens be-
trug 1885/86, als sich eben die neuen Verhältnisse geltend zu
machen begannen: 38,8^/0, Italiens 29,4, Englands 21,5. Im
Jahre 1893 war das Verhältnis bereits 66 yQ, 13%, i2 7o' Der
Anteil Frankreichs an der Einfuhr nach Tunesien betrug 1894:
60, Englands 18, Italiens io^/q, an der Ausfuhr: 70, 12,7,
8,5 y^j. Über die Hälfte des tunesischen Seeverkehrs liegt be-
reits in französischen Händen und es ist nur noch eine Frage
kurzer Zeit, daß aller fremde Wettbewerb im Wirtschaftsleben
Tunesiens bis auf einen unvermeidlichen Mindestanteil beseitigt
sein wird.
Naturgemäß hat diese Umwälzung auch eine relativ be-
deutende französische Einwanderung zur Folge gehabt, obwohl
sich gerade darin die große Schwäche Frankreichs, seine Kinder-
armut, am meisten offenbart. £s darf allerdings nicht verschwiegen
werden, daß die französische Regierung, offenbar auch auf Grund
in Algerien gemachter Erfahrungen und aus politischen Gründen,
sehr weise immer bemüht gewesen ist die Begehrlichkeit der
eigenen Landeskinder möglichst einzudämmen. Vor 1881 zählte
man unter etwa 20000 in Tunesien ansässigen Europäern, meist
Sizilianer und Malteser, nur einige hundert Franzosen. Im Jahre
1895 war die Zahl der Europäer nach Turquan auf ca. 75000,
die der Franzosen und französischen Schützlinge auf 20000 ge-
stiegen. Nicht wenige zur Entlassung kommende Soldaten lassen
sich im Lande nieder. Auch die Zahl der Italiener und Malteser
ist rasch gestiegen, aber sie setzen sich fast nur aus Angehörigen
der untersten Schichten zusammen, stehen alle im Dienste fran-
— 437 —
zösischen Kapitals und können nicht entbehrt werden, da es
eben in Frankreich an bilHgen Arbeitskräften fehlt. Die Ein-
wanderung erstreckt sich, abgesehen von wenigen vereinzelten
landwirtschaftlichen Unternehmungen, bis jetzt nur auf die Städte,
von denen namentlich in Tunis sich rasch eine europäische Stadt
an den orientalischen Kern ankristallisiert. Es zählt bereits
1 40 000 Einwohner. Dörfer europäischer Ackerbauer gibt es
noch nicht und man würde es verstehen, wenn die französische
Verwaltung, wie es den Anschein hat, die Bildung solcher nicht
begünstigt.
Daß nicht nur durch diese europäische Einwanderung, son-
dern auch durch die Sicherheit von Personen und Eigentum ge-
währleistende, den wirtschaftlichen Aufschwung fördernde fran-
zösische Verwaltung bereits eine bedeutende Vermehrung der
Bevölkerung eingetreten ist, unterliegt keinem Zweifel. Doch
fehlt es noch an sicheren statistischen Unterlagen. Amtlich wird
die Bevölkerung des Landes zu 1,5 Mill., 15,5 Köpfe auf
I qkm, angegeben. Doch mögen es bereits 1,8 Mill. sein.
Jedenfalls ist der Volksvermehrung hier noch ein ungeheurer
Spielraum gelassen. Wir stehen nicht an zu behaupten, daß
etwa zwei Drittel von Tunesien, mindestens 75 000 qkm, nach
jenen Feststellungen bei Sbeitla und nach dem zu urteilen, was
in ähnlichen Ländern, z. B. in Palästina, dagewesen ist und noch
heute möglich ist, eine Verdichtung der Bevölkerung auf 150 Köpfe
auf I qkm zugänglich ist, wie in den ersten christlichen Jahr-
hunderten tatsächlich eine derartige Volksdichte hier geherrscht
hat. Man darf nicht vergessen, daß Baumzucht, für welche sich
Tunesien besonders eignet, in den Mittelmeerländern eine sehr
große Verdichtung der Bevölkerung herbeizuführen pflegt, noch
weit mehr wie bei uns der Weinbau, und daß, selbst wo Weizen
gebaut wird, die Fruchtbarkeit so groß ist, daß man in Mittel-
tunesien, wo Mißernten, wie wir sahen, wegen ungenügender
Niederschläge nicht selten sind, sprichwörtlich sagt, wenn in vier
Jahren eine gute Ernte eintrete, die Bevölkerung leben könne;
gebe es deren zwei, so werde sie wohlhabend, bei drei reich!
Dazu fällt schwer ins Gewicht, daß in solchem Klima die Be-
dürfnislosigkeit der Bevölkerung überhaupt sehr groß und be-
sonders der Bedarf an Nahrung weit geringer ist, als in den
Ländern des Nordens. Ein gleich großes Stück gleich guten
- 438 -
Bodens vermag also in Tunesien viel mehr Menschen zu ernähren
als etwa in Deutschland,
Man wird also sagen können, daß Tunesien imstande
ist an Stelle seiner heutigen i,8 Millionen ii — 12 Millionen
weit wohlhabenderer, kaufkräftigerer Bewohner zu ernähren.
Welche Aussichten eröffnet also eine glückliche Kolonialpolitik
für Frankreich!
Trotzdem oder vielmehr infolge der überall hervortretenden
Klugkeit und Mäßigung hat die Annäherung der eingeborenen
Bevölkerung an die neuen Herren, die Anähnlichung, schon so
erkennbare Fortschritte gemacht, daß der Gedanke, es werde
Frankreich einmal gelingen, die Eingeborenen in ähnlicher Weise
aufzusaugen und zu französieren, wie es den Römern gelang, sie
zu romanisieren und hier höchster römischer Gesittung eine Stätte
zu bereiten, wenigstens ausgesprochen werden kann. Dazu wird
vor allem auch das französische Schulwesen beitragen, dem man
die größte Aufmerksamkeit schenkt, und nicht bloß der Staat,
sondern auch die Privatgesellschaft der Alliance franyaise pour
la propagation de la langue fran^aise ä l'^tranger, deren erfolg-
reiche Wirksamkeit man auch im Orient allenthalben beobachten
kann. Wie beschämend für uns Deutsche ist es dagegen, daß
die verschiedenen nur auf Erhaltung der deutschen Sprache im
Auslande gerichteten Bestrebungen so wenig Unterstützung finden!
Die wirtschaftlichen und politischen Vorteile, welche Frankreich
im Orient von der immer weiteren Verbreitung des Französischen,
besonders auf Kosten des Italienischen, zieht, sind für jeden, der
jene Länder kennt, geradezu handgreifliche. Eine große Zahl
französischer Schulen ist durch ganz Tunesien errichtet und der
Besuch steigt rasch. In dem Institut de Carthage ist auch be-
reits eine gelehrte Gesellschaft erstanden.
Wir gelangen somit zu dem Ergebnis, das schon nach
1 5 Jahren Frankreich und französische Staatsbürger in Tunesien
die Früchte einer weisen, zielbewußten Kolonialpolitik zu ernten
beginnen, wenn dies auch nur die bescheidenen Vorzeichen einer
hoffnungsreichen Zukunft sind. Schon heute erweist sich die
französische Schutzherrschaft als eine Wohltat für das tunesische
Volk und ist Tunesien ein neuer Machtfaktor Frankreichs im
Mittelmeer, ja es schickt sich an ein Faktor der Weltmacht
Frankreichs, eine Quelle des französischen Nationalwohlstandes,
— 439 —
vielleicht sogar eine Stätte neuen jugendfrischen Aufstrebens des
französischen Volkstums durch Zuführung neuer Säfte aus frem-
dem Volkstume zu werden.
7. Tunis, Biserta und Tunesien im Jahre 1904.O
Wie überall und aus naheliegenden Gründen der wirtschaft-
liche Aufschwung und die Europäisierung Tunesiens unter dem
französischen Protektorate in den Küstenstädten am augenfälligsten
zutage tritt, so ganz besonders in der Hauptstadt selbst, aber
vielleicht noch auffälliger in Biserta, bei welchem es sich geradezu
um eine großartige Neugründung handelt, Tunis und Biserta
sind unstreitig die geographisch am meisten begünstigten Punkte
in ganz Tunesien, ja, sie gehören zu den bevorzugtesten im
ganzen Mittelmeergebiete. Von Tunis leuchtet das ohne weiteres
ein, denn nur die Gunst der Lage erklärt, daß das phönikische
Karthago, auf seinen Trümmern das noch größere römische zu
Weltstädten des Altertums aufblühten und daß im Mittelalter das
ganz binnenländische Kairuan, welches die noch nicht das Meer
beherrschenden Araber gründeten, nach wenigen Jahrhunderten
von Tunis, ganz nahe der Stätte von Karthago und mit seinen
Trümmern erbaut, in den Schatten gestellt wurde. Wenn auch
die Stätte von Biserta keine so großen geschichtlichen Erinne-
rungen birgt, da Plippo Zaritus, dessen Name selbst noch heute
an dieser Stelle haftet, nur die Bedeutung einer Mittelstadt hatte,
so kann man doch schon heute fragen, ob nicht Biserta bei
seiner zur Beherrschung des Mittelmeeres und den Anforde-
rungen des Welthandels der Gegenwart gegenüber weit gün-
stigeren Lage in einer nicht fernen Zukunft die Hauptstadt über-
flügeln wird.
Wichtige Züge zumal der topographischen wie der geo-
graphischen Lage beider Städte ähneln einander. Beiden ist die
Ecklage und die Lage an der das Südostbecken des Mittelmeers
mit dem Nordwestbecken und dem Ozean verbindenden Meer-
enge von Pantelleria, also die Lage an einer der wichtigsten
Welthandelsstraßen eigen. Aber Tunis, heute durch den Kanal
i) Preuß. Jahrbücher.
— 440 —
auch für Seeschiffe von mäßigem Tiefgange (6 m) unmittelbar zu-
gänghch, liegt weit zurück, im tiefsten Hintergrunde seines Golfes
und Haffs, etwas abseits der Straße, was für den Weltverkehr der
Gegenwart den Verlust kostbarer Zeit bedingt, während Biserta
an der Straße selbst und zugleich auf der Grenze des Tyrrhe-
nischen Meeres und des Westbeckens liegt. Von dem Leucht-
turme des Kap Blanco auf dem Gipfel des Dj. Nador wird im
Durchschnitt stündlich ein großer vorüberfahrender Dampfer ge-
meldet. Für den Verkehr Tunesiens mit Sizilien und Sardinien
liegt Biserta unbedingt günstiger wie Tunis. Es liegt Neapel und
sozusagen auch Marseille gegenüber im Meridian von Genua.
Die Entfernung von Cagliari beträgt 230 km, von Trapani 240 km,
Neapel 540 km, Genua 800 km, Marseille 780 km, Gibraltar
1350 km, Algier 620 km, Malta 450 km, Port Said 2200 km.
Sehr ins Gewicht fällt in der Gegenwart, daß es eine große
Kohlenstation werden kann. Für den Seeverkehr erscheint also
die geographische Lage von Biserta unbedingt günstiger. Gewiß,
die Landbeziehungen von Tunis sind innigere und vielseitigere,
denn Tunis ist nicht nur bei seiner Lage im einspringenden
Winkel der natürliche Brennpunkt des Land- und Seeverkehrs
am Golfe selbst, der Mittelpunkt einer weiten sich zum Golfe
neigenden, offenen Landschaft, es ist auch der Knotenpunkt
natürlicher Straßen, die vom Süden, von Kairuan her und von
noch wichtigeren, die von Westen durch das Tal des Medscherda
hier an das Meer ausmünden, ja, es steht auch in bequemer
Verbindung mit der dichtbevölkerten Östküste von Tunesien,
Aber immerhin liegt Biserta dem Golfe und dem Medscherdatale
so nahe, daß es einer Biserta begünstigenden Verkehrspolitik
nicht schwer werden würde, es bei der geringen Entfernung von
Tunis (70 km) an der Gunst der Lage von Tunis voll teilnehmen
zu machen.
Und die topographischen Bedingungen sind bei Biserta auch
heute noch weit bessere. Tunis liegt auf und an einer Gruppe
niedriger Hügel miozäner Sandsteine und pliozäner Konglomerate,
die inselartig aus der Ebene aufsteigen und noch heute eine Art
Landenge zwischen zwei flachen Seebecken einnehmen, dem See
von Tunis, einem echten Haffe, und der im Sommer ganz aus-
trocknende Sebkha Sedjumi. Es ist anzunehmen, daß es sich
hier um die ältesten Deltabildungen des Wed Miliana, der nur
— 441 —
selten im Spätsommer zu fließen aufhört , und des Medscherda
handelt, der seine Mündung unter dem Einflüsse des den Golf
umkreisenden Neerstroms immer weiter nach links, also nach
Norden, verschoben hat. Derselbe Neerstrom hat auch mit den
Sinkstoff"en des Wed Miliana die Nehrung von La Goletta ge-
schaffen und so eine innerste Bucht des Golfs als Haff" von
demselben abgegliedert. Die Landengen und Hügellage gab
Tunis eine gewisse Festigkeit, während es über das Haff" und
durch den Durchstich durch die Nehrung, an welchem danach
benannt La Goletta (Verkleinerung von gola = die Kehle) ent-
stand, Beziehungen zum Meere zu unterhalten vermochte, ohne
doch unmittelbar von demselben aus angegriffen werden zu
können.
Der Boden der Umgebung ist fruchtbar und in allen Rich-
tungen wegsam, Bausteine, Mörtel, Ton, enthält der Boden von
Tunis, selbst Brunnen von geringer Tiefe, jetzt häufig an Stelle
der Ziehbrunnen Windmotoren, liefern allenthalben Wasser, erst
eine größere Entwicklung erforderte Herbeiführung besseren Trink-
wassers aus den regenverdichtenden und in starken Quellen
wieder an die Oberfläche sendenden Kalkgebirgen des Südens, wie
im Altertum so in der Neuzeit. Die alte Wasserleitung von Kar-
thago ist so im Jahre 1861 wiederhergestellt worden. Sie ver-
sieht heute auch die Umgebung, bis nach Karthago und La Go-
letta mit Wasser, das in immer größeren Mengen durch Anschluß
neuer Quellen, erst zu denen des Zaghuan die des Djebel Dju-
kar, neuerdings die des Dj, Bargu 125 km weit herbeigeführt
wird. Die von den Arabern Duames-esch-Schiatin genannten
großen antiken Zisternen nahe am Meere auf der Stätte von
Karthago, die 35000 — 40000 cbm Wasser zu fassen vermögen,
sind wiederhergestellt worden und werden durch eine Röhren-
leitung von Tunis her gefüllt. Überall längs der Leitungen sind
Brunnen eingerichtet, so daß europäische Niederlassungen und
jNIeierhöfe entstehen und die Umgebung von Tunis der Haupt-
schauplatz europäischer Ansiedelung wird. Bereits sind hier
°:. des Bodens in europäischen Händen und erstehen, im Gegen-
satz zu den dünngesäeten Ansiedelungen der Eingeborenen, die
stets auf Anhöhen liegen, in der vorher menschenleeren Ebene
im weiteren Umkreise von Tunis einzelne Meierhöfe und Gruppen
von solchen, mehr noch von Sizilianern, wie von Franzosen be-
— 442 —
wohnt. Selbst der Charakter der Landschaft, die vorher, wo
nicht Haine vernachlässigter Ölbäume sich erbalten haben, öde
und kahl, im Sommer als sonnenverbrannte Steppe dalag, beginnt
sich dadurch, durch die ausgedehnten Weinpflanzungen, durch
Pflanzungen von Eukalypten und Fruchtbäumen zu verändern.
Doch sind die künstlich berieselten Flächen noch sehr klein, nur
Gemüsegärten betriebsamer Sizilianer, da dafür nur das Wasser
der Ziehbrunnen zur Verfügung steht. Die große Staubrücke von
Bathan am Medscherda, 3 km unterhalb Teburba, die wohl rö-
mischen Ursprungs ist und im 17. Jahrhundert durch holländische
Baumeister wiederhergestellt worden war, ist ganz in Verfall,
wenn man auch noch die Kanäle erkennt, welche das Wasser
durch den heute noch 200 000 Stämme zählenden Olivenhain
von Teburba leiteten.
Wie die Beschaffung von Wasser, so hat die Entwickelung
der Verkehrswege nicht nur Tunis selbst neues Leben gebracht,
sondern auch der Umgebung weithin. Tunis ist heute bereits
ein ansehnlicher Verkehrsknoten. Hier endigt die große atlan-
tische Längsbahn, welche immer wieder, sei es wie bei Oran und
Algier, durch das Gelände selbst ans Meer gedrängt, sei es
durch Sonderlinien mit demselben verbunden, heute nahe der
Westgrenze Algeriens bei Tlemcen beginnt, naturnotwendig aber
in Zukunft über Udjda, Taza und Fäs nach Mehedia an der
Mündung des Sebu in den Ozean weitergeführt werden wird.
Auch nach Osten und Süden reicht die Eisenbahnverbindung
von Tunis bereits bis in den tunesischen Sahel und kleinere
Linien strahlen nach La Goletta, nach La Marsa und nach Bi-
serta aus. Selbst elektrische Bahnen führen schon in die Um-
gebung.
Wohl ebenso wichtig ist die Verbindung mit dem Meere,
die der 1893 vollendete Kanal quer durch das Hafi" und die
Nehrung etwas südlich von La Goletta ermöglicht hat. Zu
6,5 m Tiefe ist dieser somit nicht den größten Schiff"en zugäng-
liche Kanal, in dem höchstens 2 m tiefen, im Laufe der Jahr-
hunderte vom Unräte der Großstadt aufgehöhten Haffe aus-
gehoben und von Dämmen aus dem ausgebaggerten Schlamme
begleitet. Neun Kflometer lang endigt er in dem 1 2 ha großen
Hafenbecken von Tunis, das von Staden umschlossen und mit
allen erforderlichen Anlagen versehen ist. Diese Schöpfung hat
— 443 —
etwa 17 Millionen Frcs. gekostet, die natürlich der tunesische
Staat aufgebracht hat. Es ist hier mehr als die Hälfte des See-
verkehrs von ganz Tunesien vereinigt.
Unter diesen Einflüssen hat sich Tunis seit Errichtung des
französischen Protektorats außerordentlich entwickelt. Ganz neue,
völlig europäische Stadtteile haben sich an die alte arabische
Stadt angegliedert, vor allem gegen den Hafen hin, wo alle
neuen staatHchen Bauten, der Palast des französischen Residenten,
des wahren Herrschers des Landes, die Post, die Banken, die
Gasthäuser usw. liegen. Da aber der Baugrund hier schlecht
ist und die Ausdünstungen vom See her sich sehr lästig machen,
so entstehen europäische Stadtteile und Villen auch nach Westen
hin, ja viele europäische Familien wohnen bereits dauernd in
Landhäusern der Vororte am Meere, wie La Marsa. Die Be-
völkerung von Tunis kann jetzt schon zu 175000 angenommen
werden, und von iioooo Europäern, die igoi in Tunesien ge-
zählt wurden, wohnten nicht weniger als 68000 allein in Tunis
und Umgebung, von 24000 Franzosen 12000, von 72000 Ita-
lienern 45000. Diese, bei weitem überwiegend Sizilianer, be-
wohnen geschlossene, eigene, rasch wachsende Stadtteile, wie die
Juden. Selbst die Seebäder all der kleinen Ortschaften rings
um den Golf, die im Sommer wer es nur irgend kann aufsucht,
hat jede Nation für sich. Von einer Verschmelzung der Mo-,
hammedaner, Juden, Franzosen, Italiener ist zunächst noch keine
Rede. Am ehesten dürften sich Juden den Franzosen anähneln,
indem sie eifrig Französisch lernen, auch hier unter dem Ein-
flüsse der AlUance isra^Ute und der AUiance fran^aise welche
beide durch die Schulen eifrig französieren. Vorläufig aber bilden
Mohammedaner, Juden und Europäer noch drei völlig getrennte
Kulturkreise in der Stadt Tunis. So bunt gemischt in ethnischer
Hinsicht auch gerade die ersteren sind, die Religion einigt sie.
Tunis und Umgebung hat von jeher weithin anziehend gewirkt,
zu Lande wie zur See sind unablässig Bevölkerungselemente,
namentlich von Süden her, zugewandert. Dazu nahmen die Mo-
hammedaner hier noch mehr wie sonst in den Atlasländern christ-
liche Renegaten in sich auf: Italiener, Spanier, Griechen, Tscher-
kessen usw., von denen viele bis in die neueste Zeit einflußreiche
Stellungen erlangten und eine zahlreiche Verwandtschaft herbei-
zogen. Es gab und gibt Familien, wo der Hausherr Italiener,
— 444 —
die eine Frau Griechin, die zweite Türkin, die dritte unbekannter
Herkunft ist, aber alle Mohammedaner sind. Der bekannte
Mustapha Kasnadar, einer der einflußreichsten Minister vor der
französischen Besetzung, war Grieche, seine Frau die Tochter
eines Türken und einer Italienerin. Auch Franzosen und Ita-
liener vermischten sich vielfach. Bei den Juden sind solche Mi-
schungen unmöglich, aber auch unter ihnen scheiden sich die
alteinheimischen von den livornesischen. Die Juden widmen sich
in erster Linie dem Handel und Geldgeschäften, daneben aber
doch auch dem Handwerke. Es sind z. B. alle Schneider in
Tunis Juden, und im jüdischen Viertel gibt es kaum ein Haus,
in welchem nicht ein Schneider wohnt. Aber auch Glaser,
Klempner, Goldschmiede und dergleichen sind sie. Die Franzö-
sierung der Juden beginnt bereits auch in Tunesien die gleiche
Wirkung zu zeitigen, die ihre Gleichstellung in Algerien gezeitigt
hat: den Antisemitismus, der bei den Mohammedanern, die wirt-
schaftlich vielfach auf die Juden angewiesen sind, immer vor-
handen gewesen ist, jetzt aber auch die Europäer ergreift. Bei
den Juden selbst hat das französische Protektorat eine Vergröße-
rung der Gegensätze von reich und arm hervorgerufen.
Die topographische Lage von Biserta ähnelt insofern der-
jenigen von Tunis, als auch hier ein See eine große Rolle spielt
und der werdende maritime Stützpunkt Biserta ebenfalls im In-
nern des Landes liegt und nur durch einen Kanal zugänglich
ist. Biserta, das alte phönikische Hippo, nachmals nach der
Lage an einem natürlichen in ein kleines inneres Meer, dem See
von Biserta, bei Griechen und Römern, zum Unterschied von
Hippo Regius (Bona) Diarrhytus, Hippo Zaritus genannt, woraus
Benzert, Biserta, entstanden ist, hat die Lage, welche alle Mittel-
meerküstenstädte der Atlasländer von Biserta bis Tanger kenn-
zeichnet: es liegt an und auf Anhöhen an der Westseite eines
kleinen flachen Golfes, dessen westlicher Eingang von dem be-
kannten Kap Blanco beherrscht wird, das unentwegt als die
Nordspitze von Afrika bezeichnet wird, obwohl längst nachge-
wiesen ist, daß das etwas weiter nach Westen gelegene, freilich
nicht so hohe und daher als Landmarke weniger auffälUge Ras
Engeiah zwei Bogenminuten weiter nach Norden reicht. Nur
insofern unterscheidet sich Biserta von Bona, Bougie, Algier,
Tanger usw., als hier das Innere besser aufgeschlossen ist. Ganz
— 445 —
ähnlich wie weiter nach Westen bei La Calle und bei Bona
küstennahe Seen vorkommen, so liegen zwei Seebecken, über
deren Entstehung noch nichts gesagt werden kann, — es dürften
mit der Küste gleichzeitig gebildete Einbruchsbecken sein — der
See von Biserta und der sich landeinwärts an ihm anschließende,
nur durch eine 2 km breite Landenge davon getrennte Ischkel-
see. Dieser hat seinen Namen von einem mitten darin auf-
ragenden 500 m hohen Kegelberge, dem Djebel Ischkel, der
wohl einer der zahlreichen die Bodenplastik von Tunesien kenn-
zeichnenden domförmigen Emporfaltungen der obersten Schichten
der Erdrinde ist, jedenfalls ein Zeuge bedeutender tektonischer
Störungen. Durch den von Süden, von Mateur her einmündenden
Wed Chair ist das flache Seebecken hier so weit verlandet, daß
der macchienbedeckte Dj. Ischkel nur noch bei höchstem Wasser-
stande im Winter ein Inselberg, sonst durch sumpfiges Schwemm-
land landfest ist. Da der Ischkelsee im regenreichsten Gebiete
von Tunesien liegt — im nahen Krumir- und Mogodgebirge,
von dem her er zum Teil gespeist wird, fallen im Mittel etwa
i'^l^ m Regen — so hat derselbe dauernden Abfluß durch den
Wed Tindja zum See von Biserta und ist süß. Nur selten, bei
besonders großer sommerlicher Trockenheit, wenn sich der Spiegel
des Ischkelsees durch Verdunstung gesenkt hat, zeigt der Wed
Tindja, der überall i — 2 m tief in Schlangenwindungen die dort
nur 3 km breite, flache, zum Teil sumpfige Landenge durchzieht,
die umgekehrte Strömung und führt Salzwasser aus dem See von
Biserta herbei. Der ganze See ist wegen der Fülle von Sink-
stoff"en, die ihm die einmündenden Flüsse und Bäche zuführen,
in Auffüllung begriffen und hat nur noch bei gelblich - schlam-
migem Grunde und fast ringsum flachen, sumpfigen Ufern eine
größte Tiefe von 2 — 3 m. Er erstreckt sich heute noch auf
etwa 15 km in westöstlicher, halbsoweit in nordsüdlicher Richtung
und hat einen Flächeninhalt von etwa 120 qkm. Für den Bi-
sertasee ist er als Läuterungsbecken und vielleicht auch für die
Fischerei von größter Bedeutung. Auch dieser hat annähernd
elliptische Gestalt; die große westöstliche Achse ist 15 km lang,
die kleine nordsüdliche nur loYg km. Seine Ufer sind zwar
auch überwiegend flach, aber doch bestimmt und in der gleichen
nördUchen Richtung, in welcher ihm der Wed Tindja als wirk-
licher Fluß die Gewässer des Ischkelsees zuführt, steht er durch
— 446 —
einen breiten, sich mehrfach ausbuchtenden und erst nahe dem
Meere verengenden Arm von 7 km Länge mit dem Meere in
Verbindung. Er ist gewiß einmal eine Meeresbucht gewesen, die
ganz ähnlich dem Haff von Tunis durch eine sandige, von Dünen
besetzte Nehrung vom Meere abgeschnitten worden ist und sich
nur eine durch die Küstenversetzung und einen die Bucht um-
kreisenden Neerstrom nach Nordwesten an den Fuß der Höhen
gedrängte Öffnung, ein Tief, erhalten hat dank dem Drucke der
ein regenreiches Gebiet von etwa 2500 qkm Fläche entwässern-
den Binnenwasser, die den größten Teil des Jahres sich einen
Ausweg zum Meere offen halten mußten. Der See von Biserta
ist 150 qkm groß und hat in großer Ausdehnung Tiefen von
9 — 12 m, die also den größten Kriegsschiffen der Gegenwart ge-
nügen. Er ist salzig und gibt den größten Teil des Jahres
Wasser an das Meer ab, nur während des Sommers strömt ihm
Meerwasser zu. Wohl die reichliche Zufuhr von Süßwasser mit
reichlichen Nährstoffen von der einen, von Seewasser von der
anderen Seite bedingt den ungewöhnlichen Fischreichtum dieses
Sees, dessen Ausbeutung von jeher eine wichtige Einnahmequelle
des tunesischen Staates gebildet hat. Jetzt sind die Fischereien
an die Hafengesellschaft von Biserta verpachtet, die dieselben
namentlich mit Hilfe eines großen, am inneren Ende des in den
See führenden Kanals angebrachten Gitterwerks, das den ganzen
See absperrt und nur einen 50 m breiten durch Versenken zu
öffnenden Eingang besitzt, durch welchen die Schiffe in den See
gelangen können. Es werden jetzt im Durchschnitt jährlich mehr
als 500000 kg Fische gefangen, namentlich wenn dieselben wieder
dem offenen Meere zustreben, durchweg die edelsten Speisefische,
von denen 100 000 kg teils auf Eis, teils gesalzen oder geräu-
chert nach Frankreich eingeführt werden.
Am Eingange in diesen See, an der Westseite, auf und an
Hügeln, die Bucht und den See beherrschend, liegt mm Biserta.
Der höchste dieser Hügel, der Dj. Kebir, der große Berg, hat
eine Höhe von 277 m. Diese Hügel laden förmlich zur Be-
festigung ein und sind heute sämtlich an Stelle der alten Stein-
bauten von gewaltigen neuen Vesten gekrönt, die die ganze Um-
gebung nach der Land- wie nach der Seeseite, die Bucht, den
Vorhafen, den Kanal, den See beherrschen. Einst einer der
Hauptsitze der tunesischen Seeräuber war Biserta vor kurzem
— 447 —
noch ein verödeter Ort. Der als Hafen dienende Kanal war
vom Unräte der Jahrhunderte so verschlammt, daß meist kaum
2 m Wassertiefe vorhanden war.
Daß Frankreich schon vor der Besetzung Tunesiens die hohe
Bedeutung von Biserta erkannt hatte, unterliegt keinem Zweifel;
da das aber auch bei anderen Mächten, besonders England und
Italien der Fall war, so war zunächst äußerste Zurückhaltung und
Vorsicht geboten und empfahl es sich zu erklären, daß Biserta
nicht befestigt werden solle, also genau so wie jetzt Tanger
neutralisiert werden soll. Selbstverständlich wird Frankreich^
wenn es erst wirkhch Herr in Marokko sein wird, nach dem bei
Biserta und in Tunesien bewährten Muster verfahren und Tanger
in einem Augenblicke, wo England nicht in der Lage ist, darum
Krieg zu führen, zu einem großen maritimen Waffenplatze aus-
gestalten. Mit dem gleichen Geschick, mit welchem die franzö-
sische Diplomatie soeben in Marokko die Bahn frei zu machen
verstanden hat, hat sie auch in Tunesien in den Jahren i8g6
und 1897 alle vom früherher bestehenden und von ihm bei der
Protektoratserklärung ausdrücklich anerkannten mit der Regierung
des Bey geschlossenen Verträge, welche seine Freiheit des Han-
delns unterbanden, namentlich die sogenannten Kapitulationen,
einen nach dem andern unter verhältnismäßig geringen Opfern
auf anderen Gebieten zu lösen verstanden. Aber schon ehe
diese Fesseln abgeschüttelt und alle Mächte aus Tunesien hinaus-
komplimentiert waren, hatten in aller Stille und unter dem Ver-
wände, daß es sich um Herstellung eines Handelshafens handle,
die großartigen Arbeiten begonnen, welche, schon heute nahezu
beendet, Biserta zu einem der größten Seebolhverke der Welt
machen werden. Schon iSgo begannen die Arbeiten zur Schaf-
fung eines Handelshafens, iSgi wurde der Grundstein zu der
Neustadt gelegt, 1895 der Handelshafen für eröffnet erklärt.
Aber in demselben Jahre 1895 liefen auch die ersten großen
französischen Kriegsschiffe in diesen Handelshafen ein, wenn die
Arbeiten, die Biserta zu einem wirklichen Kriegshafen ausgestalten
sollten, tatsächlich auch erst 1897 begonnen haben, gleichzeitig
mit der Bewilligung von 200 Mill. Frcs. seitens der französischen
Volksvertretung zur Vermehrung der Flotte und zur Schaffung
von Zufluchtshäfen und Stützpunkten für dieselbe.
Da der bis auf i m Tiefe verschlammte, auch noch durch
— 448 —
eine Barre geschlossene natürliche Kanal als Zugang zum See, der
den Kriegshafen bilden sollte, nicht geeignet schien, so wurde
beschlossen, denselben zuzuschütten und nur die äußere Hälfte
zu erhalten, bis dahin, wo er sich in zwei Arme teilend eine mit
Häusern bedeckte Insel bildete. Dieser somit heute dort in
zwei Zipfel auslaufende alte Hafen dient, etwas gereinigt und am
Eingange mit Molen versehen, den Fischerfahrzeugen und den
Küstenfahrern. Statt dessen grub man etwas weiter nach Süd-
osten durch die flache Nehrung einen 1500 m langen Kanal, der
neuerdings auf 240 m Breite oben, 200 m an der Sohle und
10 m Tiefe gebracht worden ist. Vor dem Eingange wurden
zwei gewaltige Steindämme ins Meer hinaus vorgeschoben, von
denen der nördlichste jetzt auf 1223, der südöstliche auf 950 m
verlängert ist. Der so entstandene Vorhafen ist jetzt nach den
Lehren, welche die Vorgänge in Santiago de Cuba, während des
spanisch-amerikanischen Krieges geboten haben, wesentlich ver-
bessert worden. Man sagte sich nämlich, daß es unmöglich sein
werde zu verhindern, daß ein in raschester Fahrt einlaufendes
feindUches Schiff bis in die Kanalmündung gelangte und dort
versenkt, ähnlich .dem Pfropfen einer Flasche, den Kriegshafen
sperren und die darin liegenden Schiffe zur Untätigkeit zwingen
werde. Um das unmöglich zu machen, hat man quer vor die
Mündung des Vorhafens noch einen 610 m langen Steindamm
aufgeschüttet, so daß nun die Einfahrt nur durch einen der
beiden 320 und 680 m breiten Eingänge unter mehrfacher Kurs-
änderung und in langsamer Fahrt unter wirksamem Feuer aller
Forts möglich ist. Übrigens ist auch der Bau eines zweiten Ka-
nals bereits ins Auge gefaßt.
Der Raum, welcher zwischen dem neuen Kanal und der
Altstadt zum Teil durch Zuschüttung des natürlichen Kanals ge-
wonnen wurde, wurde mit den aus dem Kanal ausgehobenen
Massen aufgehöht und lieferte den Baugrund für die Neustadt.
Diese ist ganz regelmäßig angelegt, sie besitzt einen großen
öffentlichen Garten; die Staatsbauten, Bahnhof und dergleichen
sind zuerst und rasch empor gewachsen. Kohlenlager nehmen
das Südufer vor den Gärten des Dorfes Zarzuna ein. Eine 50 m
hohe, weithin sichtbare eiserne Brücke, die man über den Kanal
hergestellt hatte, ist jetzt aus militärischen Gründen wieder ab-
gebrochen und 1903 nach Brest gebracht und dort aufgestellt
— 449 —
worden. Zwei Dampffähren vermitteln jetzt den Verkehr. Sie
sollen später durch einen Tunnel ersetzt werden.
Alle Höhen ringsum krönen jetzt bereits Vesten. Der Dj,
Kebir ist der Mittelpunkt der Verteidigung und des großen ver-
schanzten Lagers von Biserta. Bis zur Vollendung der Kasernen-
bauten sind die französischen Truppen noch in Zelten und Ba-
racken untergebracht.
Die Anlagen des Kriegs- und Handelshafens, welche diese
Bollwerke zu decken bestimmt sind, hegen aber weit landeinwärts,
auch für die weitesttragenden Geschütze einer auf der Reede
liegenden feindlichen Flotte nicht erreichbar. Als Handelshafen
ist zunächst die Bucht von Sebra eingerichtet, die erste westliche
Ausbuchtung des sich nach innen erweiternden natürlichen Ka-
nals, dieselbe liegt 4 km vom Eingange in den Vorhafen und
hat Tiefen von g m. Freilich steht dieser Handelshafen vorläufig
noch leer. Der Handel von Biserta wächst sehr langsam, na-
mentlich weil es an Rückfracht fehlt. Da dies auch aus militä-
rischen Gründen insofern bedenklich ist, als damit eine stetige
Erneuerung der Kohlenbestände schwierig und kostspielig wird,
so ist man darauf bedacht, Bisertas Verbindungen mit dem In-
nern zu verbessern und es namentlich zum Ausfuhrhafen der
Erzeugnisse des Bergbaues Nordtunesiens zu machen. Doch ist
es nicht gelungen, die jetzt in Erschließung begriffenen ungeheuren
Phosphatlager des inneren Mitteltunesien bei Kalaat-es-Senam,
El Kef beziehungsweise Sbiba mit Biserta zu verbinden und von
Tunis, dessen Hafen im Vergleich zu Biserta immer schlecht
bleiben wird, und Susa abzulenken. Immerhin ist, abgesehen
von der Eisenbahnlinie nach Tunis, eine solche im Bau nach
Sidi Ahmet im Gebiet der Nefzas, wo Zinkerze vorkommen, und
ebenso eine Linie, die von Mateur nach Pont de Trajan bei
Beja am Medscherda führt und somit mit der großen Längsbahn
verbindet.
Noch weiter landeinwärts an zwei Punkten, räumlich von-
einander getrennt, liegen die Anlagen des Kriegshafens. Zu-
nächst nahe dem Handelshafen, aber noch nahezu iVg km land-
einwärts an einer kleinen jetzt nach dem Admiral Ponty benannten
Bucht ebenfalls am Nordwestufer, vor welcher die großen Fahr-
zeuge der hier stationierten Flottendivision im freien Fahrwasser
in Tiefen von 11 — 12 m zu ankern pflegen, während die Tor-
Fischer, Mittelmeerbilder. 29
— 450 —
pedoboote in der Bucht selbst liegen, sind Werkstätten, Kasernen
und vor allem auf einem hohen Landvorsprunge weithin sichtbar
ein zum Sitz des Befehlshabers der Flottendivision von Tunesien
bestimmter Prachtbau errichtet worden. Hier sind auch die
loo Mann Eingeborene untergebracht, mit denen als Nachkommen
der alten gefürchteten Seeräuber der Versuch gemacht wird, den
Kern der Baharia, einer eingeborenen Seetruppe, auszubilden.
Das eigentliche Arsenal liegt noch etwas weiter landeinwärts an
der Südwestecke des Sees, in 7 km Entfernung dem inneren
Eingange in den Kanal gegenüber, 15 km vom Meere. Dort
ist seit 1899 die kleine Bucht vom Sidi Abdallah durch Bagge-
rungen und Dämme zu einem 10 m tiefen Hafenbecken aus-
gebaut worden, an welches sich Docks und alle sonstigen An-
lagen anschließen. Das größte der Docks ist schon 1903 fertig-
gestellt worden. Das Ganze ist durch Mauern abgeschlossen.
Munitionsniederlagen, Kohlenvorräte usw. bilden in der Nähe
ähnliche von Mauern eingeschlossene Anlagen. Um dieses große
Arsenal ist nun in wenigen Jahren eine neue nach dem ver-
dienten Staatsmanne Jules Ferry, dem Frankreich Tunesien ver-
dankt, benannte Stadt Ferry ville entstanden, die bereits 5000
bunt aus Eingeborenen, Franzosen, Italienern, Maltesern usw. ge-
mischte Arbeiterbevölkerung mit einer Unzahl von Kneipen und
Tingeltangeln beherbergt. Lediglich französische Arbeiter heran-
zuziehen, ist mit allen Mitteln noch nicht gelungen. Eine für die
französischen Beamten erbaute Villenstadt schließt sich an.
Bis 1908 oder 1909 hofft man alle diese Anlagen, die,
sämtlich mit der Eisenbahn . Tunis — Biserta verbunden, bisher
46 Mill. Eres, gekostet haben und an denen ohne Unterbrechung
1000 Mann arbeiten, fertigzustellen und damit Biserta zu einem
der größten Seekriegshäfen der Welt zu machen. Genau Toulon
gegenüber und, von dem im Entstehen begriffenen Kriegshafen
an der einen ausgezeichneten Naturhafen bildenden Bucht von
Porto Vechio auf Korsika und Mers el Kebir bei Oran ergänzt,
bildet es den Hauptstützpunkt Frankreichs zur Beherrschung des
westlichen Mittelmeeres. Vor den vereinsamten Inselfelsen von
Malta und Gibraltar, denen alle Vorräte von weither zu Wasser
zugeführt werden müssen, hat Biserta vor allem noch ein großes
reiches Hinterland voraus. Biserta wird auch Frankreichs Herr-
schaft in Nordafrika weiter befestigen und dasselbe in immer
— 451 —
engere Beziehungen zum Mutterlande bringen. Schon heute ist
Biserta eine furchtbare Bedrohung sowohl Englands wie Italiens,
welches letzere damit heute von Frankreich im Westen förmlich
umklammert wird.
Tunis und Biserta, wie sie heute dastehen und in Entwick-
lung begriffen sind, sind somit glänzende Leistungen, auf welche
Frankreich stolz sein kann. Aber ihnen entsprechen zahlreiche
andere durch das ganze Land hin. Vor allem ist der wissen-
schaftlichen, allerdings überall zugleich praktische Ziele verfolgen-
den Erforschung des Landes zu gedenken, die geradezu be-
wundernswert ist. Erstaunlich rasch ist eine topographische Karte
des ganzen Landes hergestellt worden, zuerst im Maßstabe von
I : 200 000, jetzt aber bereits auf Grund sorgsamerer Neuaufnahme,
bei welcher ähnlich wie in Algerien auch der geologische Bau
berücksichtigt wird, soweit er das Gelände beeinflußt und für
das Verständnis desselben von Wichtigkeit ist, im Maßstab von
1:50000 weit fortgeschritten. Die Küsten sind neu vermessen
und ausgelotet, auch die geologische und geographische Er-
forschung ist weit fortgeschritten, zahlreiche gut gelegene meteoro-
logische Stationen sind seit mehr als einem Jahrzehnt in Wirk-
samkeit, die Erforschung der Altertümer hat ganz besonders die
Vorstellungen über die Dichte der Bevölkerung und den Kultur-
zustand in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung,
der höchsten Blütezeit Tunesiens, zu klären und festzuhalten ge-
sucht, in welcher Weise in dem schon damals regenarmen Lande
der Wasserbedarf für Menschen und Tiere, teilweise auch für
Berieselungszwecke gedeckt wurde. Es sind so ungezählte größere
und kleinere Anlagen zur Sammlung und Aufspeicherung von
Wasser nachgewiesen worden, die die Vorstellung erwecken, daß
damals kein Tropfen Wasser der Quellen, der Flüsse und der
Winterregen unbenutzt ins Meer rann. War Tunesien beim Ein-
rücken der Franzosen im Jahre 1881 ein noch völlig unerforschtes
und unbekanntes Land, so kann es sich heute bereits den best-
erforschten Europas zur Seite stellen.
Zieht man nun weiter in Betracht, was an Verkehrswegen,
an Hafenbauten, an Wasserversorgung der Städte und gesund-
heitlichen Einrichtungen der verschiedensten Art, was zu Hebung
des Anbaues, der Gewerbetätigkeit und des Handels, zur Schaffung
einer geordneten Verwaltung u. dgl., was für Unterricht usw, ge-
29*
— 452 —
tan worden ist, freilich alles aus Landesmitteln, nicht etwa aus
von Frankreich geleisteten Beisteuern und selbstverständlich auch
mit dem Zweck, Frankreich und den Franzosen hier eine neue
Quelle des Reichtums und der Macht zu erschließen, so muß
man den Stolz, mit welchem Frankreich auf dies Werk schaut
oder eine Zeitlang schaute, als völlig berechtigt anerkennen. Man
müßte auch annehmen, daß die Eingeborenen für das, was
Frankreich ihnen und ihrem Lande geleistet hat, dankbar sind
und Frankreich Zuneigung entgegenbringen.
Merkwürdigerweise ist aber das Gegenteil der Fall und
neuerdings erheben sich immer lautere Stimmen, französische,
nicht etwa solche mißgünstiger Fremder, welche den Beweis zu
führen suchen und tatsächlich in allen Hauptfragen auch führen,
daß das so hochgepriesene System des Protektorats weder Tune-
sien noch Frankreich zum Segen gereiche. Da Frankreich
sich eben noch anschickt, Marokko die Segnungen des fran-
zösischen Protektorats, als eines wahren Steins der Weisen auf
dem Gebiete der Kolonialpolitik, zuteil werden zu lassen, so er-
scheint es lohnend, diese Stimmen auch hier hören zu lassen.
Was zunächst die Stimmung der Eingeborenen anlangt, so
fand ich selbst, als ich 1886, also fünf Jahre nach der Besetzung
und in einer Zeit, wo von einer Betätigung der Franzosen fast
noch nicht die Rede war, das Land bereiste, dieselbe bis auf
eine Ausnahme den Franzosen durchaus günstig. Der Gegensatz
gegen Algerien war ein auffallender. Die Mißwirtschaft war eben
zu ungeheuer gewesen. Aber schon gegen Ende des Jahrhunderts
wollten Nichtfranzosen vielfach bereits Franzosenhaß in Tunesien
beobachtet haben, und ein Franzose, Lapie, der als Gymnasial-
lehrer mehrere Jahre in Tunis verbracht und sich namentlich als
ein scharfsinniger Beobachter der Bevölkerung erwiesen hat, be-
zeichnete schon 1897 Tunesien zu französieren als eine unlös-
bare Aufgabe. Zwar die unteren Schichten der Bevölkerung be-
fanden sich wohl, weil die Löhne stiegen und die Arbeitsgelegen-
heiten sich mehrten, aber die mittleren Schichten sähen die
Quellen ihres bisherigen Wohlstandes versiegen, weil die ein-
heimischen Gewerbe unter dem europäischen Wettbewerbe und
der Änderung des Geschmackes unter europäischen Einflüssen im
Rückgange sind. Am schlimmsten stehe es mit den reichen
Familien, deren Reichtum früher mehr auf der Gunst des Bey
— 453 —
und auf Bestehlen des Staates bzw. auf Willkürhandlungen be-
ruhte. Diese verarmen heute, selbst die Glieder der Dynastie
sind verschuldet.
Sehr viel schlimmer sind die Aufschlüsse, welche 1903 der
Volksvertreter Puech, der Tunesien als in vollem Verfalle dar-
stellte, in der französischen Kammer gab, und die sich daran
anschließenden, überall sorgsam, meist mit den amtlichen Zahlen
selbst belegten Ausführungen des Kolonialpolitikers Jaques Bahar
im Moniteur des Colonies 1904. Derselbe ist bemüht, die Lage
zu schildern, wie sie in Wirklichkeit ist, nicht wie sie die Regie-
rung schönfärberisch darstellt. Er spricht geradezu von dem
Krach — dies deutsche Wort ist bereits in den französischen
Wortschatz aufgenommen — des Protektorats.
Bahar stellt zunächst die amtlichen Berichte kritisch beleuch-
tend fest, daß von 1891 — 1902 der Ertrag der Steuer auf Ge-
treide, Oliven, Datteln und Gartenerzeugnisse, d. h. auf alle
wichtigen Erzeugnisse des fast ausschließlich vom Bodenbau leben-
den Landes um 1455000 Pres, jährlich gesunken ist, demnach
der Gesamtwert der Ernte um etwa 15 Mill. Frcs. Es waren
1901 318000 ha Land weniger angebaut als 1891, also 36 "/q,
und dies obwohl seitdem die europäische Kolonisation sehr be-
deutende Fortschritte gemacht hat. Ebenso hat sich der Vieh-
stand um 357 000 Köpfe vermindert, im Werte von etwa 14 Mill.
Frcs., während sich in der Zeit von 1886 — 1891 der Viehstand
um 2>^^lo gehoben hatte. Statt vier Köpfe Vieh auf einen Ein-
geborenen wie in Algerien, kommen in Tunesien deren heute
nur I y2 ^■uf einen Eingeborenen. Dementsprechend gab auch
die nur die Eingeborenen betreffende Medjasteuer eine um
1V2 Mill. Frcs. geringeren Ertrag, trotzdem die Zahl der steuer-
baren Eingeborenen sehr gewachsen war.
Die Ausfuhr, also vorwiegend diejenige landwirtschaftlicher
Erzeugnisse, war zwar von 1892 — 1902 um 13V2 Mill. Frcs. ge-
stiegen, Aus- und Einfuhr überhaupt von yöVg auf 123^/2 Mill.
Frcs. Aber der Wert der neun wichtigsten Erzeugnisse der tune-
sischen Landwirtschaft war um I4y2 Mill. gesunken, also um mehr
als die Gesamtzunahme, beispielsweise Olivenöl um 5,5, Getreide
um 4,7, Trockengemüse um 2,6 Mill. Frcs. Jene Gesamtzunahme
der Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse kam vorwiegend
(8,2 Mill.) auf Vieh und Häute, aber nicht etwa weil sich die
— 454 —
Viehzucht so erfreulich entwickelt hatte, sondern auf Kosten des
Viehstandes selbst! Man könne also von völligem Verfall der
eingeborenen tunesischen Landwirtschaft sprechen, nicht von
einem Aufblühen, wie die amtlichen Berichte glauben machen
wollen. Eine wirkliche Zunahme der Ausfuhr läßt sich bei den
Erzeugnissen des Gewerbefleißes feststellen. Aber auch da müssen
übertriebene amtliche Angaben ausgemerzt werden. So bei den
stetig wichtiger werdenden Phosphaten 1,3 Mill. Pres. Der Aus-
fuhr von Gold und Silber stehe eine größere Einfuhr gegenüber
und die Zunahme der Ausfuhr von Erzen um 4,7 Mill. Pres,
komme nur den Premden zugute, in deren Besitz der Bergbau
sei, wie auch die Zunahme der Erzeugnisse der Pischerei nur
Italiener und Griechen bereichere. Es blieben so von der amt-
lich für 1902 zu 50,7 Mill. Pres, angegebenen Ausfuhr tatsächlich
nur 26^2 M^^l- übrig, so daß gegen 1892 ein Rückgang von bei-
nahe 10 Mill. stattgefunden hat. So betrage auch die wirkliche
Einfuhr nicht "j;^ Mill., sondern nur ^g^j^ und Aus- und Einfuhr
1902 nicht 123,6 Mill., sondern nur 76,1 Mill,, so daß der Han-
del seit 1892 trotz der seitdem um etwa 100 000 Köpfe ge-
wachsenen europäischen Bevölkerung keine aufsteigende Bewegung
zeige. Bringe man die Bedürfnisse dieser zu etwa 14 Mill. Pres,
in Anschlag, so stehen der 76,5 Mill. betragenden Einfuhr von
1892 nur mehr 62,4 Mill. von 1902 gegenüber, also auch da
ein Rückgang von 14,1 Mill. Der verminderten Einfuhr im
allgemeinen entspricht auch verminderte Einfuhr von Kaffee,
Zucker, BaumwoUenwaren u. dgl., ja, es stellt sich heraus, daß
bei Berücksichtigung der von Prankreich auf Mehl und Teigwaren,
die nach Tunesien eingeführt werden, gezahlte Prämie der Ge-
winn Prankreichs am Handel mit Tunesien, der mit 38,8 Mill.
zu 5 1 7o in französischen Händen liegt, tatsächlich nur 8 2 1 000 Pres,
jährlich beträgt.
Die von Prankreich eingeführten scheinbaren Abgaben-
erleichterungen bilden mit verschiedenen neu eingeführten Ab-
gaben (auf Alkohol, Zucker u. dgl.) tatsächlich eine Vermehrung
der Abgaben um iiY^ Mill. Pres. Nur dadurch, nicht wie amt-
lieh behauptet wird, durch die normale Steigerung des National-
wohlstandes, sind die Staatseinnahmen von 1885 — 1902 von 18
auf 30 Mill. gestiegen. Zieht man jene 1 1 % Mill. ab , so bleibt
18 Mill., die Summe von 1885.
— 455 —
Fragt man, was mit dem Gelde gemacht wird, so zeigt sich
zunächst, daß in den letzten zehn Jahren die Zahl der Beamten
vervierfacht worden ist, die zum Teil ganz ungeheuere Gehälter
und noch überdies Gratifikationen beziehen und jährlich auf
drei Monate Urlaub Anspruch haben. Es sind 18,2 Prozent aller
Franzosen Beamte. Ja 1896 waren von 16000 Franzosen in
Tunesien 3000 Beamte und 1000 Gendarmen, also 25 Prozent.
Also auch Tunesien ist danach echt französisch eine Beamten-
kolonie. Große Summen werden nach Bahar zur Stimmungsmache
an die Presse ausgeworfen oder bei den öffentlichen Bauten ver-
schleudert, ja es wird auf die allerschlimmsten Veruntreuungen
hingewiesen. Jeder Kolonist, der sich wirklich ansiedelt, kostet
allein an Kolonisationsreklame 2000 Francs. Dann fordert er
Anschlußwege und andere Erleichterungen, so daß man noch
jährlich im Durchschnitt 3780 Francs auf jeden Kolonisten rech-
nen muß. Die französische Regierung hat in der Tat alles nur
Denkbare getan, um französische Kolonisten herbeizuziehen, aber
sie hat bisher vorwiegend Mißerfolge geerntet. Von 28000 Fran-
zosen in Tunesien sind nur 1624 Grundbesitzer mit zusammen
600000 ha Land, aber von diesen sind nur 800 wirkliche Ko-
lonisten, das Ergebnis 20 jähriger Kolonisationsarbeit! Die ganze
französische Besiedelung von Tunesien ist mehr Geld- und Land-
spekulation, denn beispielsweise wird das größte der im franzö-
sischen Besitz befindUchen Güter, die viel genannte Enfida
(90000 ha) mit Sizilianern besiedelt, wie auch andere Großgrund-
besitze im kleinen an Italiener aufgeteilt werden. Zu jenen
600000 ha gehören auch die sogenannten sialinischen Güter in
der Umgebung von Sfaks, die als ausgezeichnetes Olivenland, der
Hektar zu zehn Francs vorzugsweise an die Freunde des Pro-
tektorats abgegeben worden sind, ehemalige Minister, Beamte des
Auswärtigen Amtes, bekannte Nationalökonomen und Politiker,
also alle keine Kolonisten. Dieselben lassen ihre Besitzungen im
kleinen von Eingeborenen bearbeiten. Die etwa 800 wirklichen
Kolonisten besitzen nur 50 — 60000 ha. Die sogenannte franzö-
sische Kolonisation in Tunesien trägt also ganz feudalen und
großkapitalistischen Charakter mit alten gewöhnlich daran haf-
tenden Folgeerscheinungen. Diese Großkapitalisten stellen sich
nicht nur als Menschen hoch über die Eingeborenen, nein, sie
verschaffen sich denselben gegenüber selbst Recht und unter-
— 456 —
stellen, dank dem Einfluß, den sie auf die höchsten Stellen der
französischen Verwaltung ausüben, auch die eingeborenen Be-
hörden ihrer Autorität. Häufig hat man so den Eindruck völ-
liger Willkürherrschaft. Die Behandlung der Eingeborenen ist
vielfach eine derartige, daß sie auch die friedlichste Bevölkerung
zu wildem Hasse aufstacheln würde. Was z. B. über den Ver-
kauf von Kaid stellen (etwa Landratsstellen) mitgeteilt wird, mutet
ganz marokkanisch an. Dies und die fortschreitende Verarmung
aller einflußreichen Kreise der Eingeborenen erklärt das rasche
Wachsen des Franzosenhasses bei den Eingeborenen.
Eine andere Gefahr, die immer deutlicher hervortritt, immer
lebhafter erörtert und nur von wenigen Sachkundigen geleugnet
wird, ist die mächtig anschwellende Einwanderung und Ansiede-
lung von Italienern, besonders Sizilianern, der den Großgrund-
besitz in ähnlicher Weise und aus ähnlichen Gründen Vorschub
leistet wie bei uns der polnischen. Die Sizilianer kommen teils
als Landarbeiter, als Arbeiter bei öff"entlichen Bauten, wohl auch
in den Gewerben und im Bergbau, teils als kleine Grundbesitzer
nach Tunesien. Nach Grundbesitz streben sie aber alle mehr
oder weniger. Man schätzt diese Einwanderung jährlich auf
6500 und Bahar gibt die Gesamtzahl der Italiener, die jedenfalls
größer ist, wie die amtlichen Zählungen angeben, zu 130000 an.
Bewundernswert mäßig und bedürfnisarm arbeiten diese Sizilianer
sozusagen Tag und Nacht um das ersehnte Ziel, einen kleinen
Grundbesitz zu erwerben. Aus einigen Brettern und Petroleum-
kisten bauen sie sich ein Häuschen, um das sie Reben ziehen
und Gemüse pflanzen. Derartige sizilianische Hüttendörfer ent-
stehen nicht nur bei Tunis, sondern um fast alle Städte. All-
mählich werden die Hütten dann durch bessere Häuser ersetzt.
Allen schwierigen Arbeiten, für die Franzosen überhaupt nicht
zu haben sind, unterziehen sich diese Leute. Neuerdings haben
sich sogar italienische Landgesellschaften gebildet, die Italiener
ansiedeln. Aber immerhin ist, was heute an Grundbesitz in ita-
lienischen Händen ist, gegenüber dem französischen noch ver-
schwindend gering.
Der Gegensatz, der bisher zwischen den in Tunesien herr-
schenden Zuständen und den anscheinend unheilbar verfahrenen
in Algerien bestand, scheint somit von Tag zu Tag geringer zu
werden. Kein Kundiger leugnet die furchtbare Schwierigkeit,
— 457 —
\v eiche die Eingeborenenfrage in Algerien bedeutet. Soeben
noch hat ein sonst sehr optimistischer Kolonialpolitiker (P. Malon)
auf den stetig wachsenden furchtbaren Haß der 4 Millionen Ein-
geborenen hingewiesen, die sich mit ihrer immerhin unter franzö-
sischen Einflüssen wachsenden Bildung und Einsicht immer mehr
als rechtlos, unterdrückt und ausgebeutet ansehen. Ihre Zahl ist
beständig gestiegen, ihr Besitz und Wohlstand gesunken. Die
gleichen Abgaben der Eingeborenen, die i8go 18 Mill. Francs
abwarfen, gaben 1901 nur noch 13 Milüonen, trotz der gewachse-
nen Zahl der Steuerzahler. Mehr und mehr sehen sie ihren
Landbesitz in die Hände der Christen übergehen. Der mit Recht
außerordentliches Aufsehen erregende Prozeß, der sich an den
plötzlich ausbrechenden Aufruhr von Margueritte anschloß, stellte
fest, daß mehr als 300 Eingeborene auf Wegen, die allerdings
den herrschenden Gesetzen nicht widersprachen, von einem Be-
sitz von mehr als 1 100 ha vertrieben wurden, ohne eine andere
Entschädigung als kaum drei Francs auf den Kopf! Mit Recht
fragt man besorgt, was wohl mit den 500000 über das ganze
ungeheuere Ländergebiet verstreuten Europäern werden würde in
dem Augenblicke, wo Frankreich seine starke Besatzung aus Al-
gerien zurückziehen müßte.
Dazu sind aber diese Europäer, abgesehen von dem großen
Prozentsatze, den auch die Spanier und Italiener ausmachen, die
schon in vielen Gemeinden spanische, in einzelnen italienische
Vertretungen gewählt haben, unter sich uneins, von wilden Lei-
denschaften zerrissen, alle bemüht, jede Autorität und jeden
Träger eines Bruchteils solcher in den Kot zu ziehen, im Ange-
sichte dieser heute noch mehr als je- geeinten, von wilder Rach-
gier und der Hoffnung, doch einmal das Joch der Christen ab-
schütteln zu können beseelten Masse von Eingeborenen.
Wie wir es in Tunesien feststellen konnten, daß nicht so
sehr das amtliche Frankreich, die Regierung, es ist, welche durch
ihre Maßregeln den Haß der Eingeborenen groß gezogen hat,
sondern die einzelnen Franzosen im Lande, wenn auch nicht
ohne Mitschuld der Regierung, so hat man in Algerien den Ein-
druck, daß auch dort, wenn auch unter den unablässig wech-
selnden Systemen selbst solche eine Zeitlang herrschend gewesen
sind, die auf grundsätzliche Verarmung und Vernichtung der
Eingeborenen abzielten, es vorzugsweise die einzelnen Franzosen,
— 458 —
ganz besonders die Kolonisten es sind, welche, selbst wenn die
Regierung den besten Willen hat, den Eingeborenen gerecht zu
werden, durch die Behandlung, welche sie diesen zuteil werden
lassen, den Haß derselben immer von neuem schüren.
So glänzend das Bild auch ist, welches Algerien auf den
ersten Blick bietet, so bewundernswert ist, was Frankreich in
Tunis, in Biserta und ganz Tunesien in einer so kurzen Spanne
Zeit geleistet hat, so darf man doch kaum mehr hoffen, daß
diese Länder jemals jener glänzenden Zukunft als ein neues
Frankreich jenseits des Mittelmeeres entgegengehen, welche fran-
zösische Patrioten erhoffen und welche man nach den unge-
heueren Opfern an Geld und Menschen, die das an Geld reiche,
an Menschen so arme Land dafür gebracht hat, nach der Energie
und den hohen geistigen Fähigkeiten, welche dies hochstehende
Kulturvolk denselben hat zugute kommen lassen, zu erwarten
berechtigt wäre. Nun vergegenwärtige man sich Marokko, im
Vergleich zu welchem allerdings Algerien und Tunesien als arm
erscheinen, wenn sie auch heute schon eine fast ganz allein Frank-
reich zugute kommende Handelsziffer von 700 Millionen Francs
aufweisen, Marokko mit seinen wilden und ausgedehnten Gebirgen
und seiner Bevölkerung von mindestens 8 Millionen Eingeborenen,
von denen die Mehrzahl niemals fremdes Joch getragen hat! Es
gehört ein ungewöhnliches Maß von Wagemut, der allerdings
wohl von einem hohen nationalen Bewußtsein eingegeben ist,
dazu, sich neben Tunesien und Algerien noch an eine so unge-
heuere Aufarabe heranzuwagen.
8. Palmenkultur und Brunnenbohrungen
der Franzosen in der Algerischen Sahara. 0
Es ist eine unleugbare Tatsache, daß die Kolonisation Al-
geriens seitens der Franzosen sehr langsam fortgeschritten ist und
daß dabei unglaubliche Fehler begangen worden sind, allerdings
zum Teil durch Hineinziehen der Kolonie in die politischen Be-
wegungen des Mutterlandes. Bis heute ist es eigentlich nicht
gelungen, die große Masse der Franzosen für Algerien zu er-
I) Erschienen im Globus 1880. Bd. XXXVHI. Nr. 21.
— 459 —
wärmen, noch weniger eine irgendwie ins Gewicht fallende Aus-
wanderung dorthin ins Leben zu rufen. Der Franzose wandert
eben nicht aus, am wenigsten der Landmann. Nach fünfzig-
jähriger Herrschaft der Franzosen in Algerien sind dort erst
wenig über 300000 Europäer angesiedelt, von denen genau die
Hälfte keine Franzosen sind, trotz aller denkbaren Vergünstigungen,
welche ihnen von der Regierung geboten wurden. Erst seit
allerneuester Zeit, seit 1866, namentlich aber seit dem letzten
großen Aufstande von 1 8 7 1 , ist man energischer an die Koloni-
sation und friedliche Eroberung des Landes gegangen und sind
mit derselben gewaltige, die Zukunft sichernde Fortschritte ge-
macht worden, erst jetzt kann man mit Sicherheit voraussagen,
daß Algerien einmal eine Machtverstärkung Frankreichs sein wird.
Kulturarbeiten jeder Art, welche allüberall dringend nötig waren,
sind seitdem in größerm Maßstabe vorgenommen worden, es sind
Häfen gebaut worden, Eisenbahnen und Straßen, es sind Flüsse
geregelt und Sümpfe ausgetrocknet worden. Vor allen Dingen
aber sind in den verschiedensten Gegenden des Landes, das
sich in drei natürliche nach Boden, Klima und Erzeugnissen
scharf unterschiedene Abteilungen gliedert, die mediterrane Ab-
dachung, das Teil der Araber, das Hochland und die Algerische
Sahara großartige Arbeiten zur Bewässerung weiter Landstriche
ausgeführt worden, sei es Bewässerung das ganze Jahr hindurch,
sei es in der regenlosen Hälfte des Jahres. Selbst in dem an
Niederschlägen noch ziemUch reichen Teil ist künstliche Bewäs-
serung hier und da sogar für Getreidebau nötig, auf dem Hoch-
lande, das den Charakter der Steppe trägt, ist die Wasserarmut
noch größer und ist künstliche Bewässerung nur an wenigen
Punkten möglich, es wird immer im wesentlichen nur Haifagras
hervorbringen oder als Weideland dienen. Die Algerische Sa-
hara dagegen bringt nur im Winter und bis in den Frühling
hinein, wo es am südlichen Abfall des Hochlandes noch etwas
regnet, dürftige Vegetation hervor, intensivere Ausnutzung des Bo-
dens ist dort völlig an natürliche oder künstliche Brunnen und
damit mögliche Bewässerung gebunden. Dort hängt alles davon
ab, ob die Brunnen unterhalten werden, Ausdehnung der bebauten
Fläche und damit Zunahme der Bevölkerung und wachsender
Wohlstand derselben ist nur möglich durch Vermehrung des ver-
fügbaren Wasservorrats. Dort kann man sich die Herzen der
— 4^0 —
Eingeborenen erobern durch Erschließung neuer Wasservorräte,
dort schreitet in der Tat die Eroberung wirksamer vorwärts, wenn
sie mit dem Brunnenbohrer unternommen wird, als mit dem
Schwert in der Hand, Man baut nun wohl auch in diesen be-
wässerbaren Strichen des Wüstengebiets, den Oasen, Getreide
und Gemüse, man zieht auch südliche Fruchtbäume, Orangen,
Feigen, Aprikosen und dergleichen, aber all dies nur in geringer
Ausdehnung und zum Teil nur unter dem Schutze, welchen das
säuselnde Dach der Kronen edler Dattelpalmen gegen die sengen-
den Strahlen der Sonne gewährt. Die Dattelpalme ist das wich-
tigste Erzeugnis der Oasen, von ihr allein hängt die Existenz der
Oasenbewohner ab, neben ihr fällt selbst der Ertrag der Viehzucht
der wandernden Stämme wenig ins Gewicht, Das Vorhanden-
sein unterirdischer Wasservorräte und deren Erschließung ist daher
identisch mit der Kultur der Dattelpalme und deren Ausdehnung.
Von oberirdisch fließenden Gewässern ist in der Algerischen Sa-
hara kaum die Rede, nur nach heftigen Regengüssen im Winter
und Frühling füllen sich die Wasserbecken vorübergehend , und
selbst die zahlreichen größeren und kleineren Salzwasserpfannen,
die Schotts, vertrocknen im Sommer fast völlig. In der Tiefe ist
aber an sehr vielen Punkten das ganze Jahr Wasser zum Teil
in ungeheuren Mengen vorhanden, auch außerhalb der meist
trockenen Flußbetten.
Diese unterirdischen Wasservorräte sind natürlich atmosphä-
rischen Ursprungs, es sind die Wassermengen, welche in den
vorhergehenden Wintern und Frühlingen zum geringern Teil an
dem Orte selbst, zum größern an der saharischen Abdachung
des Atlassystems oder auch auf dem noch von keinem Europäer
betretenen Hochlande von Ahaggar und seiner Umgebung mitten
in der Sahara gefallen sind. Diese Regenwasser werden von
dem lockern Sandboden rasch aufgesogen oder fließen dort, wo
nackter Felsboden ansteht, rasch ab und sammeln sich in den
Wasserbetten, wo sie bald in die Tiefe hinabsinken und, von den
darüber gelagerten Sandmassen gegen Verdunstung geschützt,
unterirdisch auf einer undurchlässigen (meist tonigen) Bodenschicht
der Neigung derselben folgend weiterfließen. Je tiefer nun diese
Bodenschicht liegt, die zu durchstoßen und damit dem Wasser
einen Abfluß in noch größere Tiefen zu öffnen man sich wohl
hüten muß. in um so größerer Tiefe ist Wasser zu finden, je
— 4^1 —
näher sie der Oberfläche liegt, in um so geringerer. In vielen
Gegenden kann man die sanfte Neigung derselben genau nach
den Tiefen berechnen, in welchen man Wasser findet. Nicht
selten treten die unterirdischen Wasser ganz zutage als natürliche
Brunnen oder kleine Seen, namentlich in den Betten der Wadis,
wenn festes Gestein gangförmig dieselben quer durchsetzt und
dadurch das Wasser aufstaut und emporzusteigen zwingt. Wie
weit auf diese Weise die unterirdischen Ströme fließen und wie
rasch, wo sie sich in unter- oder oberirdischen Becken sammeln,
das hängt von dem Relief des Landes ab. Während z. B. im
Departement Oran entsprechend der sanften Abdachung des
Hochlandes gegen die Sahara hin die Grundwasser sich weit
vom Gebirge entfernen, ohne daß sich ein größeres unterirdisches
Stromsystem bilden kann, infolge wovon dort sich nur wenige
kleine Oasen unmittelbar am Gebirge finden, sammeln sich die
weiter östlich fallenden Meteorwasser in der tiefen Einsenkung,
welche sich wie ein Graben vor dem Festungswalle des Atlas-
hochlandes nach Osten bis nahe an die innerste Einbuchtung der
Kleinen Syrte zieht. Und zu ihnen kommen noch weit von
Süden her die jedenfalls geringen Reste der Niederschlagsmengen
der Hochländer der Innern Sahara, welche in dem breiten Wadi
Igharghar und dem Wadi Mia bis nahe an den Wall des Atlas
gegen 8oo km weit fließen. So ist denn jener Graben, in
welchem sich von zwei Seiten die Gewässer sammeln, von einer
Reihe salziger Wasserbecken ausgefüllt, die auch im Sommer
nicht ganz verdunsten. Es sind dies die großen Schotts, deren
Boden, zum Teil auch ihr Spiegel, unter dem Meeresniveau liegt,
eine Tatsache, welche den bekannten Plan wachgerufen hat durch
einen Kanal bei Gabes das Wasser des Mittelmeeres in diese
Depression zu lenken und ein inner-algerisches Meer zu schaff'en.
Ist nun auch kaum zu erwarten, daß dieser Plan, dessen Nutzen
Unbefangene selbst unter den Franzosen schwer einsehen wollen,
jemals ausgeführt werden wird, so hat derselbe doch zu einer
sorgfältigen Erforschung jener so lange unbekannt gebliebenen
Gegenden geführt, was die geographische Wissenschaft mit ebenso
großem Danke aufnimmt, wie die eben jetzt von den Franzosen
mit großem Eifer betriebenen für lange Zeit kaum weniger aus-
sichtsvollen Forschungen in der Sahara behufs Anlegung einer
Eisenbahn von Algerien nach dem Senegal, dem Niger, dem
— 4^2 —
Tschadsee und womöglich noch einige Stationen weiter. Wir
finden daher in der nähern wie in der femern Umgebung dieser
Schotts überall große unterirdische Wasservorräte und infolge-
dessen zahlreiche Palmenoasen und Oasengruppen. Im kleinen
wiederholt sich das auch auf dem Kochlande, wenigstens dem
Teile, welcher die geringste Meereshöhe hat, dem Hodnabecken.
Die wichtigsten dieser Oasengruppen sind die der Ziban,
des Wad Rirh, des Wad Suf und weiter ab die der Beni Mzab
(auf tunesischem Gebiet die des Belad-el-Dscherid , des Dattel-
landes im engern Sinne, und die von Nefzaua). In größerer
oder geringerer Entfernung voneinander, durch vegetationslose
oder vegetationsarme, aus Sand oder festem Gestein bestehende
Strecken voneinander getrennt. Hegen die grünen Datteloasen in
der gelblichen Wüste, den Flecken auf dem Fell eines Panthers
gleich, um uns eines treffenden Ausdrucks Strabons zu bedienen.
Namentlich lebhaft empfängt man diesen Eindruck, wenn man
vom Hochlande durch einen der wenigen schwierigen Pässe,
etwa die Schlucht von Alkantara, herabsteigt und nachdem
man die große Palmenoase von Alkantara hinter sich gelassen,
vom Col de Sfa die von Biskra und andere der Oasen der
Ziban als dunkle Flecken auf dem hellen Grunde der licht-
übergossenen Wüste vor uns liegen. Der unvermittelte Gegen-
satz zwischen der nackten Wüste und dem Palmenwalde,
auf dessen Grunde Weizen, Gerste, Baumwolle oder Luzerne
einen grünen Teppich bildet, ist ein wunderbarer; die Sonnen-
strahlen, welche das grüngelbe Fiederdach durchdringen und den
niederen Gewächsen noch hinreichend Licht und Wärme bringen,
verleihen dem Palmenhaine den Charakter des Warmen, des
Sonnigen; an seinem Saume lagert sich der ermüdete sonnen-
verbrannte Wüstenreisende, aber nur das geheimnisvolle Rauschen
der beständig auch vom leisesten Luftzuge bewegten langen
Fiederblätter erinnert ihn an seinen heimischen Tannenwald, die
erquickende Kühle fehlt in der Algerischen Sahara wenigstens
immer, wenn auch nicht in den dichteren, überreich bewässerten
Oasen des arabischen Oman. Auch nicht wie eine Mauer tritt
der Palmenhain dem Nahenden entgegen, die schlanken Stämme
stehen weit auseinander, tief dringt das Auge in ihn ein, erst
im Hintergrunde bildet sich eine geschlossene Wand, In der
Algerischen Sahara sind die Oasen meist von Mauern aus ge-
— 463 —
stampftem Lehm, zum Teil des Schutzes, zum Teil der Be-
wässerung wegen, umschlossen bzw. durchzogen, so daß die Ver-
teidigung einer solchen Oase sehr erleichtert wird, selbst gegen
überlegene europäische Waffen, wie dies die Franzosen z. B. 184g
bei der Eroberung der Zibanoase Saatscha erfahren haben.
Eigentümlich, von allen anderen Oasen abweichend ist die
Palmenkultur im Wad Suf. Dort werden die Palmen auf dem
Grunde eines einem umgekehrten Kegel ähnlichen etwa 8 m
tiefen Loches gepflanzt, rings von Sanddünen umgeben, welche
man durch Pallisaden aus Palmblättern auf ihrem Kamme fest
macht. Diese Vertiefungen, deren Anlage und Verteidigung
gegen den sie beständig mit Sand überschüttenden Wind viel
Mühe kostet, werden Ritan genannt. Sie reichen bis nahe an
die Wasser führende Bodenschicht, in welche die Palmen ge-
pflanzt werden. Senkt sich das Grundwasser, so daß die Wur-
zeln dasselbe nicht mehr erreichen und die Palme zu verkümmern
beginnt, so wird dieselbe mit Stricken an die nächsten derartig
festgebunden, daß sie nicht umfallen kann, die Bodenschicht unter
den Wurzeln wird entfernt und der Baum somit in eine tiefere
Schicht gebracht, wo er das Grundwasser wieder erreicht. In
diesen Trichtern nimmt die zugleich mit Kamelmist gedüngte
Dattelpalme eine ganz abweichende Gestalt an, sie ist nicht
schlank wie anderwärts, sondern hat einen kurzen, starken, oft
meterdicken Stamm, der am unteren Ende noch mehr verdickt
nur wenige Meter hoch wird, ähnlich den massigen Säulen ägyp-
tischer Tempel, und eine mächtige Krone mit 5 m langen Blättern
hat. Gegen Wind geschützt und durch Rückstrahlung von den
geneigten Sand wänden um so intensiverer Hitze ausgesetzt, reifen
hier die herrlichsten Datteln, fleischig, ölig und außerordentlich
zuckerhaltig. Zugleich wird in diesen Trichtern unter künstlicher
Bewässerung aus 6 m tiefen Brunnen Gemüse gebaut, das einzige
Erzeugnis dieser Oasen neben den Datteln, die also hier alles
sind. Diese Art der Palmenkultur dürfte aber außer im kleinen
in der tunesischen Oase El Getar nirgends wiederkehren, da sie
aus den örtlichen Verhältnissen hervorgegangen ist und wahr-
scheinlich diese Form angenommen hat dadurch, daß die Dünen
gegen die ursprünglich auf der Oberfläche gepflanzten Palmen
vorrückten und dieselben, wie man es ja auch anderwärts in ver-
nachlässigten Oasen beobachten kann, zu verschütten drohten.
— 4^4 —
Dies verhinderten die Bewohner, indem sie rings um den Stamm
den Sand entfernten, woraus sich dann dieses Trichtersystem ent-
wickelt hat.
In den Zibanoasen ist jeder der regelmäßig gepflanzten und
frei von Wurzelschößlingen wie von trockenen Blättern gehaltenen
Bäume von einem runden kleinen Becken umgeben, das mit dem
nächsten durch einen Kanal in Verbindung steht, so daß sämt-
liche Palmen bewässert werden können. Das Wasser wird selte-
ner durch Menschenhände, meist durch Kamele oder Esel ver-
mittelst meist sehr primitiver Schöpfwerke aus den oft sehr tiefen
Brunnen in Sammelbecken gehoben, aus welchen es dann in die
einzelnen Kanäle verteilt wird. Gewöhnlich werden die Palmen
das ganze Jahr bewässert, am meisten aber im Frühling vor der
Blüte und im Sommer vor dem Reifen der Früchte; man hat
auch beobachtet, daß die am häufigsten bewässerten am frühesten
blühen. Auf loo cbm berechnet man den Wasserbedarf einer
Palme im Sommer. Ob das Wasser aber süß oder brackig ist,
ist nicht von Bedeutung, ja es scheint fast, daß der Baum, wenn
er mit Brackwasser bewässert wird, bessere Früchte liefert. Die
herrlichen Palmen des Wad Rirh werden mit einem Wasser be-
wässert, das bei einer mittleren Temperatur von 24*^ C, etwas
mehr als die mittlere Jahrestemperatur der Luft, auf i 1 i — 3 g
schwefelsaures Natron, i — 2 g schwefelsauren Kalk, ferner etwas
Chlornatrium, Chlormagnesium und kohlensauren Kalk enthält,
also notwendig als Trinkwasser abführend wirken muß. Jeden-
falls sind die auf besonders fettem Boden auf mit schlammigem
Nilwasser bewässerten Bäumen gewachsenen Datteln Ägyptens
weniger gut als die der Oasen, obwohl die Bäume selbst sehr
viel schöner sind. Selbst Bewässerung mit warmem Brackwasser
wie in der Zibanoase Chetma schadet nicht. Wie das Wasser-
bedürfnis, so ist auch das Wärmebedürfnis der Dattelpalme sehr
groß, wenigstens in der Zeit zwischen der Blüte und der Reife
der Frucht. Man hat berechnet, daß eine Wärmesurarae von
5100^ C nötig ist in den acht Monaten von Ende März bis An-
fang November, damit sie ihre Früchte vollkommen reife, und
nur Temperaturen über 18° C kommen dem Baume zu statten.
Bei geringerer Wärme erreichen die Früchte geringere Fülle,
sind herber und haben geringeren Gehalt an Stärkemehl und
Zucker, ihr Nährwert ist also ein geringerer. Wichtig ist dabei.
— 465 —
daß die Luft einen hohen Grad von Trockenheit hat, wie er
der Wüstenluft eigen ist, es ist daher erwünscht, wenn es wäh-
rend dieser acht Monate nicht regnet. Allerdings gerät der
Weizen besser, wenn es im April und Oktober regnet, aber
man zieht es vor, daß es nicht regnet, weil die Datteln dann
um so besser gedeihen, und man gegen Datteln Getreide aus
dem Teil beziehen kann. Denn während eine gute Dattel-
emte alle Bedürfnisse der Oasenbewohner für das ganze Jahr
zu decken vermag, vermag das auch die beste Getreide-
ernte nicht für sechs Monate. Namentlich sind Regen im Sep-
tember sehr unerwünscht, weil sie die Datteln faulen machen.
Man hat sogar beobachtet, daß einzelne Täler der saharischen
Abdachung des Hochlandes in sehr viel beträchtlicherer Meeres-
höhe vortreffliche Datteln hervorbringen, wenn sie sich nach
Süden öffnen und den trockenen, heißen Wüstenwinden direkten
Zugang gewähren, als andere tiefer gelegene, aber gegen die
Wüste abgeschlossene. Die Dattelkultur im Hodnabecken bei
Bu Saada ist eben darauf zurückzuführen, daß dort die Gebirgs-
kette, welche von der Sahara scheidet, sich bedeutend senkt, so
daß die Wüste ihren Einfluß geltend machen kann. Dieser
Mangel an genügender Lufttrockenheit ist es, welcher am alge-
rischen Mittelmeerufer wohl die Dattelpalme gedeihen, aber keine
süßen, völlig reifen Früchte hervorbringen läßt, nicht die Winter-
kälte, denn die Palme erträgt ohne Schaden mehrere Grad unter
Null, wenn diese Kälte nicht anhält und in die Blütezeit fällt.
Nicht selten hat man in den algerischen Oasen die Kronen der
Palmen unter einer Last von Schnee zu Boden gebeugt gesehen,
was am Mittelmeerufer nie oder höchst selten vorkommen dürfte.
Aus demselben Grunde gedeiht die Dattelpalme jenseit der
Sahara nicht mehr, denn auch dort ist namentlich zur Zeit der
Fruchtreife mitten in der tropischen Regenzeit die Luft sehr
feucht und die Datteln faulen oder werden nicht reif und schmack-
haft. Mit Recht sagt daher der Araber in seiner blumenreichen
Sprache, dieser König der Oasen taucht seine Füße in Wasser,
sein Haupt in das Feuer des Himmels, Infolge der beständigen
Bewässerung im heißen Sommer ist aber der Aufenthalt in den
meisten Oasen im Sommer gefährlich, die Bewohner werden dann
gewöhnlich vom Fieber befallen.
Da die algerischen Palmenoasen an der Polargrenze der
Fischer, Mittelmeerbilder. 30
— 466 —
Dattelpalme als Fruchtbaum liegen, die den 35. Grad nördlicher
Breite nicht überschreitet, so liegen sie alle in geringer Meeres-
höhe, 60 — 150 m, höher, 300 — 500 m, die der Beni Mzab.
Nur einzelne kleinere Oasen liegen im besondem Schutz der
Berge in sehr viel größeren Meereshöhen, die von El Abiod
sogar in 861 m Höhe, und bei Sidi Makhluf findet noch Dattel-
palmenkultur bei 920 m statt, Höhen, in denen sie sonst nur
viel weiter südlich im inneren Arabien und in Beludschistan
möglich ist.
Weniger wichtig ist die Bodenbeschaffenheit. Die Dattel-
palme gedeiht in den Zibanoasen auf kalkigem und gipsigem
Ton- und Sandboden gleich gut und trägt gleich gute Früchte,
mag derselbe mit Salz imprägniert sein oder nicht. Doch zieht
dieselbe einen lockeren , neu gebildeten sandigen Boden vor, ja
man hat Dattelpalmen vortreiflich gedeihen sehen auf einem Bo-
den, der bis 80 Prozent aus Kieselsand, 13 Prozent aus schwefel-
saurem, 7 Prozent aus kohlensaurem Kalk bestand. Die Fort-
pflanzung geschieht fast überall durch junge Schößlinge, die sich
am unteren Stammende der Palmen anzusetzen pflegen, da man
auf diese Weise am sichersten die Varietät fortzupflanzen und
am frühesten Früchte zu erzielen vermag. Schon nach fünf
Jahren pflegen diese Bäume Früchte zu geben, in bedeutenderer
Menge freilich erst in 10 bis 15 Jahren, und zu vollem Ertrage
gelangen sie erst nach zirka 30 Jahren; im allgemeinen tritt erst
nach 8 Jahren Besteuerung ein. Die Fortpflanzung durch Kerne
gibt meist weniger gute Varietäten und später tragfähige Bäume,
sie setzt auch der Gefahr aus, daß man jahrelang männliche
Palmen in größerer Zahl pflegt, als zur künstlichen Befruchtung
der weiblichen nötig ist. Der Baum wächst langsam, erreicht
aber eine Höhe von 15 bis 25 m; er trägt 60 bis 70 Jahre, selten
aber läßt man ihn älter werden als 80 Jahre, obwohl er 200 Jahre
alt werden kann. Die künstliche Befruchtung wird zur Zeit der
Blüte im April seit den ältesten Zeiten in gleicher Weise vor-
genommen wie noch heute, indem man Teile der sich früher ent-
wickelnden männlichen Blüte in die künstlich geöffnete Blumen-
scheide der weiblichen Blütentraube hineinsteckt, so daß die
Bestaubung eintritt. Überläßt man die Befruchtung der Natur,
der Bewegung der Luft, so ist dieselbe unvollkommener und die
Datteln werden weniger gut, wie sich dies namentlich bei Kairo
- 467 -
während der Bonaparteschen Expedition auffallend zeigte, wo
infolge des Krieges die Befruchtung nicht hatte ausgeführt werden
können und infolgedessen auch die Dattelernte fast völlig miß-
riet. Wie bei allen Kulturbäumen, so unterscheidet man auch
bei den Palmen nach den Früchten zahlreiche Varietäten, in den
Zibanoasen nicht weniger als 75. Die Dattelernte findet in der
Algerischen Sahara gewöhnlich im Oktober und November statt
und ein vollentwickelter Baum gibt bis 150 Kilo Datteln. Auf
einen Hektar Land, der ungefähr 100 Dattelpalmen enthält,
rechnet man im Mittel 5000 bis 7000 Kilo Datteln, welche an
Ort und Stelle einen Wert von 1500 Francs und mehr haben.
Einzelne Bäume haben einen Ertrag von 30, 40, auch 50 Francs.
Wie fast überall, so werden auch in Algerien die einzelnen
Bäume besteuert, je nach Lage und Güte der Früchte mit 50
Centimes bis 1 Franc jährlich. Die algerischen Datteln werden
meist im Lande selbst aufgezehrt, nur ein kleiner Teil, nament-
lich von altersher die des Wad Suf, geht über Tunesien und als
tunesische Ware nach Europa, von denen die sogenannten Königs-
datteln vorzugsweise nach Berlin ausgeführt werden. Im Früh-
jahr und im Herbst rufen die Datteln einen lebhaften Binnen-
handel hervor, indem im Juni, zur Zeit der W^eizenernte im Teil,
Karawanen aus den Saharaoasen Datteln bringen und gegen das
doppelte Quantum Weizen umtauschen, während umgekehrt sechs
Monate später im November in den Oasen Datteln den halben
Wert des Weizens haben. Sorgfältig getrocknete Datteln kann
man lange aufbewahren, namentlich die höheren Varietäten, unter
denen in den Zibanoasen die Lichtdattel (Deglet Nur) die ge-
suchteste ist, während die sogenannte Kameeltreiberdattel (Deglet
bu Sehkraja) besonders als Proviant für Wüstenreisen dient. Die
weichen Datteln kann man nur in Schläuchen imd Gefäßen auf-
bewahren, wo man sie preßt und möglichst vor Luftzutritt schützt,
um Schimmel und Gährung zu verhindern.
Ein großer Teil der Dattelemte wird frisch gegessen; aus-
gepreßt geben sie einen Sirup und aus den getrockneten kann
man eine Art Mehl und daraus einen Teig bereiten, in der ver-
schiedensten Weise kann man sie zu allen Speisen verwenden.
Beim Trocknen fließt Dattelhonig ab und destilliert geben sie
einen freilich sehr teuren Alkohol. Die Krone und die zarten
Herzblätter geben den sogenannten kastanienähnlich schmeckenden
30*
— 468 —
Palmenkohl, den man natürlich nur von ohnedies absterbenden,
etwa umgestürzten Bäumen gewinnt.
Alle Teile der Dattelpalme werden von dem Oasenbewohner,
der sonst kein Holz und keine Faser weiter zur Verfügung hat,
benutzt. Das faserige Holz ist sehr widerstandsfähig, ja einzelne
Varietäten nehmen Politur an. Das Holz brennt langsam mit
geringer Flamme, aber großer Wärmeentwickelung. Die Fieder-
blätter und Fasern werden in verschiedenster Weise benutzt.
Die Kerne dienen sogar noch als Kameelfutter. Namentlich wird
auch aus dem zuckerigen Saft des Baumes, der bald in Gährung
übergeht, eine Art Wein gewonnen. In den Oasen des Wad
Rirh hat man ein eigentümliches Verfahren, aus der Krone große
Mengen Wein zu gewinnen, ohne daß der Baum daran zugrunde
geht. Der Baum genügt somit fast allein Bedürfnissen des Wüsten-
bewohners, nur ein wenig Brod und noch weniger Fleisch ver-
vollständigt seine Nahrung, die überwiegend aus Dattebi, aber
doch nur ausnahmsweise monatelang nur aus Datteln besteht.
Und da die Dattelpalme nicht allein gedeiht, wo keine andere
Pflanze fortkommt, in reinem Sande und von brackigem Wasser
bewässert, sondern auch erst den Anbau anderer möglich macht,
so ist an ihre Pflege das größte Interesse des Oasenbewohners
geknüpft.
Die Zahl der Dattelpalmen vermehren heißt daher die Be-
wohnbarkeit der Wüste steigern. Ersteres kann aber nur durch
Eröff'nung neuer Brunnen geschehen. In den Oasen der Ziban
war dies an vielen Punkten keine schwierige Aufgabe. Dort gibt
es artesische Brunnen, welche nur i'^j^ bis 2 m tief sind. Sie
durchbohren eine Schicht gipsigen Gesteins und eine nur wenige
Zentimeter mächtige Kalksteinschicht, unter welcher sich Wasser
in einer Schicht tonigen Sandes findet. In der Oase von Ain-
ben-chelil in der Provinz Oran findet sich Wasser ganz nahe der
(Jberfläche unter einer ganz dünnen Kalksteinschicht. Sehr viel
tiefer liegt die Wasser führende Schicht im Wad Rirh, im Mittel
60 bis 80 m tief, ebenfalls bedeckt von einer dünnen Kalkstein-
schicht. Dort haben seit den ältesten Zeiten die Eingeborenen
artesische Brunnen gegraben, freilich unter unsäglicher Mühe und
Gefahr, da es ihnen durchaus an Hilfsmitteln fehlte. Dort war
es aber auch, wo zuerst die Idee an die Franzosen herantrat,
mit den Hilfsmitteln europäischer Technik einzugreifen. Nach
— 4*9 —
dem Verfahren der Eingeborenen wurden die Brunnen m ihrem
obLn Teil mit Palmstämmen ausgelegt, sobald aber *e wasser-
r^rende Schicht erreicht war, konnte die Arbeit nur noch durch
Tarcher, wo.u man Neger verwendete, f g",-;'^' l"^™ '/ :
nur sehr «Geringe Sandmengen bei dem jedesmahgen Tauchen zu
en fernen vermochten, so daß die Arbeit sehr langsam vorruckte
of Verschattungen vorkamen und Wiederherstellung verfallener
Brunnen fas" unmöglich war. Vor der französischen Okkupat.on
w™ sehr viele Brunnen versandet und die Oasen sehr zuruck-
ZtlL hier konnte also großer Segen gestiftet werden. In-
feressant ist besonders die Entdeckung, daß in den Brunnen
bei Tuggurt vorkommt. .^^^^
Die ersten Bohrungen begannen im Wad K.rB J
,8.6 namentlich auf Betreiben des General Desvaux. Der Ein
d'f,: Wichen die im Vergleich zu ihrem Verfahren so leicht
o r'tergewaltigen Wassermassen auf die angeborenen machte ■
war ein tiefer. Bei nicht wenigen Brunnen war "er Druck ^e
Wassermassen so groß, daß sie überströmten, -bj^ ^^.f ^^'„\
Schicht durchbohrt war, einzelne wallten sogar font^'"™'''"» '"'
Da Wasser ist meist trinkbar, zuweilen aber stark brad^ig zn
Bewässerung der Dattelpalme aber -ts geei^e^- Z-ilen^^^^
reichte man schon bei 29 m Tiefe Wasser emrad j
erst bei ^14 m, im Mittel jedoch bei 50 bis 150 m. Em Brun
■• rji "=- .r.ir.£ es-:'" •=
jedoch 4800. Macn aem Departement Con-
Ingenieurs Jus waren von 1856 bis i»79 ™ 1'
stantine allein 447 Bohrungen vorgenommen worden davon ^ehr
viele auf Kosten der Bewohner, von einer T-e^J- '» »^^^^
,0 km, welche 153758 Liter Wasser 'V^^^^ ^ ""'%'^t^e
— 470 —
den anderen Departements. Am erfolgreichsten sind die Boh-
rungen im Wad Rirh, so daß diese Oasengruppe seit dem Jahre
1856 sich ganz außerordentlich gehoben hat und als ein Bei-
spiel gelten kann, welch hoher Entwickelung selbst das Wüsten-
gebiet Algeriens noch fähig ist. Dieselbe zählte 1856 in 31
Oasen 25 von 6772 Menschen bewohnte Orte, 359300 Palmen
und 40000 andere P>uchtbäume bewässert von 282 artesischen
Brunnen und 21 natürlichen Quellen, welche zusammen 52767
Liter Wasser in der Minute gaben. Es kam so 0,146 Liter auf
jede Dattelpalme in der Minute. Man schätzte den Wert der
Bäume und der Brunnen auf 1654000 Francs. Im Jahre 187g
war die Zahl der Oasen auf 37, die der bewohnten Orte auf
26, die der Bewohner auf 12827, die der Dattelpalmen auf
517563 und der übrigen Fruchtbäume auf 90000 gestiegen,
Bewässert werden diese Anlagen von 434 von den Eingeborenen,
59 von den Franzosen angelegten artesischen Brunnen und 16
natüriichen Quellen, welche 164078 Liter in der Minute geben,
so daß auf eine Dattelpalme jetzt 0,317 Liter in der Minute
kommt. Die 59 artesischen Brunnen der Franzosen geben aber
allein 99830 Liter. Der Wert der Dattelpalmen wird jetzt auf
4 127 Ol 8, der der ganzen Oase auf 5505018 Francs geschätzt.
Vollen Ertrag geben 430 500 Dattelpalmen, was, wenn mau jeden
Baum nur zu 15 Kilo rechnet, 6457500 Kilo gibt, in vier Jahren,
wenn die jungen Pflanzungen tragen werden, werden es 7700000
Kilo sein. Dazu kommt noch die ebenfalls fortgeschrittene Ge-
treidekultur.
Wir sehen also, daß sich in 23 Jahren, allerdings mit unter
dem Einfluß der friedlicheren Verhältnisse, wesentlich aber durch
Vermehrung und Sicherung der vorhandenen Wasservorräte, die
Einwohnerzahl der Oasengruppe, welche der Verarmung und Ver-
ödung verfallen schien, verdoppelt, der Wert der Palmenpflan-
zungen, obwohl die Zahl der tragfähigen Bäume sich nur um
60000 vermehrt hat, sowie der Brunnen sich mehr als verdrei-
facht hat. Der Wohlstand der Bewohner ist demnach bedeutend
gestiegen. Wir sehen aber zugleich auch, wie viel ergiebiger die
von den Franzosen gebohrten Brunnen sind.
Die Gesamtzahl der ertragsfähigen Dattelpalmen im östlichen
Teil der Algerischen Sahara schätzt man auf i 700000, ihren
Ertrag auf 400000 Zentner Datteln im Jahr. Dazu kommen noch
— 471 —
die im westlichen Teil, welche sich noch einer genauen Schätzung
entziehen, sowie die jungen Pflanzungen. Trotz der bedeutenden
EntWickelung, welche die Palmenkultur in dieser kurzen Zeit
allein im Wad Rirh genommen hat, ist dieselbe selbst dort noch
lan-e nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt, denn allein die Boh-
rungen der Kampagne 1878 bis 1879 haben Wasservorräte für
weitere 30000 zu pflanzende Palmen geliefert. Ahnlich, wenn
auch weniger rasch, entwickeln sich die übrigen Oasen, und die
Vollendung der Verkehrswege wird ihren Datteln besseren Ab-
satz und höheren Wert verleihen.
Namen- und Sachregister.
Abda 371
Abd-er-Rahmän Giami 72
Abgeschlossenheit der Iberischen
Halbinsel 237
Abruzzen 159, 163
Abulfeda 75
Ackerbau von Italien 170, von Sizi-
lien 192, von Tunesien 430
Adana 116
Adel Siziliens 190
Adrianopel 47
Adschlun 118, 137
Ägypten 61, 65
Agades 384
Ai'n-ben-Chelil 468
Ain Draham 420
Ain Dcshidi 116, 118, 152
Ain el Hadschar 350
Ain el Hammam 310
Ai'n-es-Sara 114, 152
Air 385
Ajaccio 219, 229
Aldos Dagh 6
Akabah 81, 107
Akka 87, lOi, 145
Albanergebirge 172
Albanien 52
Albanesen 45, 53, 55, 58
Alem Dagh 6
Alexandrien 90
Algarve jenseits des Meeres 299
Algerien 280, 299
Algerien, Küste von 294 ff., 394 ff.
Algier 295
Alkantara 462
Allan 118
Aleppo 85
Almunecar 261, 271
Alpenrandstädte 178
Amaidara (Haidra) 423
Amazirghen 377
Amselfeld 52
Amsmis 374
Anadoli Hissar 5
Analfabeti in Italien 188
Anbau Korsikas 226
Andalusisches Faltungssystem 241
Andjera 362
Angora 14
Ansairier 138
Ansairier Gebirge 84
Antiaüas 365
Antilibanon 81, 82
Appenninen 158, 164
Appenninenvorland, tyrrhenisches 165
Apulien 160, 204
Arabien 66
Arad 412
Ard-el-Huleh 109
Arganbaum 350
Aritsu 37
Armenier 54
Amon 118
Asif Ig 36s
Askalon 96, 131
Athanasische Mauer 16
Atlas 367
Atlasvorland 365
Atlit 96
■ Aulad Soliman 281
Azila (Arzila) 335, 339.340, 341. 367
Bagirmi 383
Bahar J. 453
Balkan 46
Balkanhalbinsel 44
Ball 359
Banijas 108
473 —
Bari 176
Barrua 384
Barth, Heinrich 325
Basan 119
Barka 280, 282, 302
Barkochba 90
Basra 66
Bastia 218, 229
Batnan 442
Batna 324
Baumzucht in Italien 172
Beerseba 144
Beja 449
Belgrad 47, 49
Belgrad, Wald von 6, 8
Belka 118, 129, 137
Bender Abbas 66
Bengasi 282
Beni Meskin 355
„ Mgild 375
„ Mtir 375
,, Mzab 462
Benjamin von Tudela 75
Bergbau in Spanien 247, in Italien
173
Bergschlipfe in Italien 162
Berut 83
Besan 112
Beschiktasch 20
Bethanien 92
Bethlehem lOl, 123, 130, 131, 145
Bevölkerung von Korsika 216, 220,
226, 228, 230
Bevölkerung von Italien 170
„ „ Marokko 377
,, „ Palästina 133
Bewässerung, künstl. in Italien 171
Bika 81, 82
Bir Medkides 317
Biserta 290, 413, 426, 439, 444
Biserta, See von 446
Biskra 324, 325
Blankenhom 76, 92, 115, 117
Bled el Djerid 320
„ „ ^Makhzen 379
„ es Ssiba 379
Blum Pascha 51
Blutrache auf Korsika 232
BobadiUa 271
Boden Apuliens 207, 213
Bodenplastik von Italien 163
Bojukdere 4, 9, 20
Bojuk Tschekmedsche 4
Bolo (Terra rossa) 165
Bona 445
Bosnien 45, 52
Bosporus 3, 5, 49, 50
Bosra eski Scham 120
Boz Bumu 41
Brindisi 154
Brives A. 365, 366
Brussa 41
Bu Hammara 380
Bu-el-Awän 372
Bulgaren 53
Bulgarien 46, 52, 55
Bu Regreg 339, 375
Burckhardt, L. 76
Cäsarea 96
Calvi 227
Cambon 393
Carghese 230
Caron 360
Casablanca 355
Castelfrentano 162
Castel del Monte 205
Ceuta 300, 361
Chaldäa 65
Chan el Hatrura 92
Chattara 273
Chetma 464
Cherf el Akab 337
Chianatal 162
China 91
Chirbet es Safije I17
Cillium (Kasserin) 423
Col de Sfa 462
Colonia Scillitana 314
Conca d'Oro 171, 262
Constantine 324
Corte 229
Crati 164
Dakar 386
Dalmatien 51
Damaskus 83, 99, 120
Dan 108
Dardanellen 5, 51
Dattelzucht in Tunesien
Demnat 352, 355, 374
Derna 283
Derat 128, 147
Derkossee 3
Dessaretische Seen 52
Desvaux 469
Dethier 31
433
— 474 —
Deutsche in Palästina 137
DiUy 118, 128
Djara 331
Djebala 362
Djebel Achdär 366, 371
Bargu 441
Ben Yunes 320
Bu Ramli 321
Chambi 310
ed Dahr 81
Dschermak lOO
Djukar 422, 441
Ghilis 366
Hadid 350
Ischkel 445
Karantal 81, 92, 113
Karra 366
Kebir 446, 449
Mrabba 422
Nador 440
Nadur 319
Ogeff 317
Orbata 321, 411
Sidi Aisch 319
Usdum 115
Zaghuan 422, 441
Zebina 322
Djebilet 365, 371
Djedeida 429
Djerba 411, 422, 424, 429
Djisr-Benät-Jakub 109
Djisr el Mudschami 1 1 1
Dobrudscha 52
Dolmabaghtsche 21, 25
Donau 12, 46, 48
Donau-Bulgarien 56
Draagebiet 360
Dragoman 1 2
Drin 45, 52
Drusen 137
Drygalski, v. 349
Dschalud II2
Dschenin lOl, 145
Dscherasch 147
Dscholan 42, 93, 118, 124, 129
Dukkala 367, 369, 371
Durazzo 13, 49
Dünenbildung 327, 328
Edfu 64
Elche 263
Eisenbahnen in Korsika 221
Eisenbahnen in Palästina 141
El Abiod 466
Araba 81
Asy 84
Aujeh 49
Battof 146
Bekri 322
Djem 422
Gab 128
Grarb 370, 375
Gettar 304, 321, 325, 330, 463
Golea 372
Ghuweir 108
Hammi 113
Haus 373
Hawara 337
Kantara 3?3
Kef 449
Kerak 147
Kis 317
Ledscha 120, 127
Lisan 116
Maleynin 360
Muzerib 118, 119, 125
Wadi 18
En Nukra Il8, 119, 124, 126, 152
Entwicklungsgeschichte Italiens 157
Erdbeben Italiens 159
Ergene I 2
Er Ramie 144
Es Salt 129, 147
Es Suweda 149
Etna 163
Euganeen 166
Euphrat 66, 84
Europäer in Tunesien 436
Fabert, Leon 391
Fäs 356, 362, 374
Fellachen 134, 135
Feriana 304, 314, 316
Ferryville 450
Ficheur, E. 366
Fischereien Tunesiens 435
Flatters, Oberst 388
Flotte de Roquevaire 359
Fontanili 167
Foucauld 259
Foureau 391
Freschisch 304, 306, 424
Fritsch, v. 359
Fruchthaine Apuliens 2 1 1
Fum el Gharb 362
Fussana 307, 3 10, 315
475
Gadara 113
Gabes 282, 301, 304, 321, 323, 330,
412, 429, 461
Gafsa 304, 317, 319, 320, 321, 323,
325> 329. 330, 423, 428
Galata 15, 19, 50
Galiläa 82, 93, 99, 100, 129, 145
Garaat el Aglat 321
Gargdno 160, 165
Gastmahl von Tameslocht 345
Gaza 87, 123, 128, 139, 144
Gauckler 316
Gebirge Korsikas 220
Genua 177
Genuesen 15
Getreidebau in Palästina 139
Gethsemane 131
Gewerbtätigkeit in Italien 174
„ „ Marokko 374
,, „ Palästina 140
„ „ Spanien 247
Ghadames 392
Gharbia 339
Ghab 81
Ghebisseh 37
Ghor 71, 76, 86, 93, 107, 121, 128, 135
Gibraltar 2, 300, 450
Gibraltar, Straße von 299
Goldene Hörn 3, 4, 50
Goletta 425, 428, 441, 442
Göl Dagh 41
Golo 217
Goltz, V. d. 34
Gomorrha Il6
Graham, Cyrill 149
Gran Sasso d' Italia 163
Gregoro^•ius 154
Grenzscheide zwischen Nord- und
Südmarokko 375
Griechen 53
Griechenland 52, 55, 60
Guadalhorce 270
Guerin. Viktor 3 20
Gurara 335
Hadrumet 423
Haha 357, 365
Haidar Pascha 14, 34
Haifa 87, 123, 136, 145
Haifa 396
Hammam es Zerka 152
Hammamet 411, 412
Hammema 304, 331
Handel in Italien 174
,, ,, Marokko 378
,, „ Palästina 140
,, ,, Tunesien 435
Hasbeya 108
Hasselquist 76
Hasskjiöi 20
Hassi Inifei 392
Hauran 93, 98, I18, II9, 124, 125,
129, 137, 147, 152, 153
Haustiere Palästinas 133
Hebron 92, 10 1, 130, 144
Hahn, Viktor 154
Hellespont 3
Henschir Sidi Ai'sch 304, 317, 319
Hergla 4 1 1
Hermon 83, 91, 108, 137
Herzegovina 45, 54
Hiaina 380
Hilderscheid 122
Hochstetter, Ferd. v. 30
Hodnabecken 465
Homs 84, 87
Hooker 357, 359
Hoyo von Chorro 270
Howara 377
Höhlenreichtum Palästinas 79
Hsi-ngan-fu 91
Huertas 245
Hüll 76, 95
Hulesee 87, 107, 109, 128
Humboldt, A. v. 42
Humusarmut von Palästina 78
Iberische Halbinsel 236
„ Scholle 240
Iberisches Tafelland 244
Ibn Haukai 75
Ibrahim Pascha 76
Innauen 362
Iskanderun 84
Isker 12, 47
Ismid 2, 16, 34, 36
Isnik Göl 41
Italien 154
Italiener in Tunesien 456
Jabbok 118
Jaffa 88, 96, 97, lOi, 123, 136, 138,
144, 145
Jarmuk 93, lll, 112, 118, 123
Jericho 71, 92, HO, 113, 151
Jerusalem 71, 92, lOl, 102, 121
126, 137
476
Jesreel 87, loo, 135
Jildis Kiosk 22
Jordan 81, 108
Judäa 98, 99, 144
Juden in Palästina 137
„ „ Marokko 378
Kaba Buinu 40
Kabata 386
Kadi Kjiöi 4, 20, 22, 35
Kairuan 321, 415, 422, 428, 439
Kai seh Dagh 36
Kalat-es-Senam 449
Kalat-es-Subebe 109
„ ,, el Am 125
Kallirrhoe 114
Kampanien 158
Kampagna, römische 172
Karjet-el-Eneb 130
Kanaan 97
Kanat Firaun 120
Kanem 281
Kap Blanco 440
Bon 411, 413, 424
Ghir 361, 365
Hadid 367
Juby 360
Kantin 368
Korso 217, 227
Spartel 348
Karmel 87, 123, 137
Kamak 1 5
Kartal 36
Karthago 413, 421, 423, 439, 441
Kasserin 310, 313, 315, 421
Kastanienhaine Korsikas 224
Kaukasus 58
Kelbiasee 321, 411
Kerak 115, 118
Kerkenah Inseln 411
Kircha Dibon 127
Kitchener 76
Kleinasien 44
Klima der Iber. Halbinsel 242, 260
„ von Italien 167
,, „ Marokko 376
,, ,, Tunesien 420
Kohl, J. G. I
Kongo 383
Konja 13
Konstantinopel i, 2, 47, 49, 54
Korsika 21 5 ff.
Kränget Muahad 307
Kränget Ogeff 317
Krim 58
Krumir 302, 415, 445
Kujundschik 66
Kulturgewächse Palästinas 130
Kuka 384
Küstenstädte Italiens 177, 210
Küste von Korsika 220
Kutschuk Tschekmedsche 4, 27
La Maddalena 219
La CaUe 445
La Malka 422
La Marsa 428
Lapie 452
Larasch 360, 362
Lartet 76, 95
Las Zaffarinas 301
Latium 158
Layard, H. 66
Lees, R. 149
Levantiner 19
Libanon 81, 82
Liberia 386
Licata 185
Ligurien 169
Limane 3
Litani 83
Ludd 87, 144
Luwakanal 127
Luynes, Duc de 76
Machaerus Il6
Machnaebene 145
Madeba 75
Madjer 304
Madrid 255, 258
Maghreb-el-Aksa 362
Magyaren 57
Mailand 155, 156, 178
Makedonien 47
Makedonen 56
Makri Kjiöi 16
Malaga 270, 271
Malta 450
Maltepe 36
Maltzahn, H. v. 310, 320
Maritza 12, 48, 53
Marrakesch 339, 343, 351, 364, 365,
373
Marokko 280, 281, 298, 333, 358ff.
Marmarameer 2, 5
Mar Saba 98, 1 15, 144
477 —
Marseille 407
Marx, H. 351
Masada 116
Mateur 445, 449
Maur, H. v. 349
Mauritania Tingitana 299
Maw 359
Mazagan 367
Medea 404
Medscherda 288, 411, 412, 429, 440,
449
Medschdel HO
Mehamla 305, 330
Mehedia 362
Meknäs 356
Melilla 361
Menzel 351
Merdsch Ajun 81
„ el Amir 145
Merdschaja 469
Mers el Kebir 450
Mery, M. G. 390
Meschra bu Challu 339, 355
Bab el Ksiri 339, 355
Mesopotamien 65
Metawile 137
Metuia 325
Mharhar 339
Mittelmeer i
Mittelmeergestade Spaniens 265
Moab 117, 118, 135, 152
Mogador 298, 349, 365
;Mogodgebirge 445
Moltke 21
Monastir 13, 49
Monteil 384
Monte Cinto 217, 220
„ Pollino 164
^lontenegro 45, 52, 55
!Morawa 12, 18
Msun 362
Mtal 367
Mtuga 358, 365
Mudania 41
Mugheir 65
Mukes 128
Muluja 362
Murcia 263
Murge 210
Nabulus loi, 145
Nachtigal, G. 383
Nähr Banijas 108
Nähr el Audscha 125
„ Hasbani 108
„ Kasimiech 81, 98
„ el Leddan 108
Nazareth loi, 123, 146
Neapel 178
Nebi Musa 115
Nedschran 66
Nefta 325
Nefza 449
Neger in Marokko 378
Nemara 153
Nerja 26 1
Niebuhr, K. 76
Niolo 230
Nisch 47, 48
Nischawa 1 2
Nordafrika 280, 301
Nordsyrien 84
Nordwestafrika, französ. 385
Novipazar 45
Nöthling 92, 117
Ochrida 1 3
Odessa 50
Österreich-Ungarn 55
Olivenzucht in Tunesien 431
Oman 68
Omer Pascha 27
Oran 295
Orontes 83
Ortakjiöi 22
Ostrovo 13
Ostjordanland 118, 127, 135
Oxeia 26
Ozeanküste von Marokko 367
Palästina 74
Palermo 189
Palmer, E. H. 149
Palmyra 83, 85
Pankaldi 20
Pantellaria 2
Pantellaria, Straße von 301, 410, 426,
439
Peloritanisches Gebirge 161
Pella 112
Pendik 7, 36
Pera 15, 19, 50
Peschel, O. 42, 157
Petra 87
Penon de Yelez 361, 375
„ ,, la Gomera 361, 375
478
Pfeil, Graf J. v. 352
Pflanzenkleid von Italien 168
„ „ Korsika 223
,, Palästina 129
Phasaelis 112
Philippopel 47
Phosphaüager in Tunesien 434
Plateia 26
Poebene 166, 168
Polopythia 38
Pomaken 55
Pont de Trajan 449
Pontybucht 449
Port Said 88
Porto Farina 289
,, Empedocle 185
„ Vecchio 218, 450
Portugal 252
Poiibergangsstädte 178
Preschowo 48
Pressel, W. 41
Prinzeninseln 10
Proti 36
Puech 453
Qäu 64
Rabat 356, 357, 362, 376
Ramie 95, 144
Randlandschaften der Iber. Halbinsel
243, 245, 248
Ras Dimas 411
„ en Nukra 85, 91
„ Engeiah 444
„ Kapudia 41 1
,, Sidi Ali el Mekki 411
Rebatel 320
Rein, J. J. 359
Rephaim 136
Rhadames 282, 412
Rhat 392
Rhcrhaiah 344
Rhodope 46
Riath 153
Riatha 334, 360
Rifgebirge 364
Ritter, K. 42, 74
Riviera, bithynische 33
Robinson 76
Rocher, L6on 428
Rolland, G. 390
Ruchbe 153
Rumänien 55
Rumelisches Schollenland 45
Russeger, Jak. 76
Saatscha 463
Safed 146
Sakarrah 62
Sakaria 16, 41
Sakiet el Hamra 360
Saloniki 13, 47, 48, 49
Samanly Dagh 41
Samaria 99, 100, 129, 145
Samaritaner 138
San Bonifazio 215, 218, 227, 230
,, Fiorenzo 218
Sangro 153
Sankt Colombano 166
„ Stephano 27
Saron 96, 129
Sarona 123, 136
Sbeitla 314
Sbiba 449
Scala di Sta. Regina 230
,, Tyriorun 85, 145
Sciacca 185
Schauia 355, 369
Schalt el Arab 66
Scheitan Akentisi 9
Schedma 358
Schkumbi 13
Schnell, P. 359
Schulen in Sizilien 189, 190
Schumacher 76, 125
Schutzverhältnis in Marokko 343
Schwöbel 150
Sebaita 149
Sebra 449
Seeverkehr Italiens 174
Segonzac, M. de 359, 360
.Seidenzucht Italiens 1 7 1
Seleukia 85
Serben 54
Serbien 52, 55
Serin 87, 112
Sfaks 288, 415, 422, 428, 455
Sichem 102
Sidi Aissa el Bochabia 351
,, Abdallah 450
,, Ahmet 449
„ Makhluf 466
Sidon 83
Siedelungskunde von Italien 175, 196,
208
Siedelungen in Palästina 142
— 479 —
Sila 165
Sinai 77, 81
Sizilien l6l, 162, 175, 180
Skutari 19, 34, 52
Sliwnitza 12
Slovenen 54
Sodom 116
Sofia 47
Sospiro del Moro 270
Städte Spaniens 250
Städtebevölkerung Palästinas 136
Strauchsteppe Südtunesiens 318
Susa 449
Südküste von Andalusien 268
Südosteuropa 44
Südtunesien 301
Syrakus 155
Syrien 81
Syrte, Kleine 321, 411, 429
Tabor lOO
Tafilalet 360
Tahaddart 327, 329
Taif 67
Tameslocht 342
Tanger 300, 335, 349, 363
Tarent 155
Tataren 54, 56, 57
Tattenbach, Graf 339
Taurus 13
Tavignano 217, 229
Tebessa 301, 307, 324
Tedla 370
Tekna 360
TeU-el-Hammam 151
,, „ Dschena 119
„ „ Kadi 125
Tensift 351, 366, 371, 373, 374
Thasa 362
Theater in Sizilien 190
Theben 62
Thelepte 316
Therapia 9
Thessalien 56
Tierwelt Korsikas 216
Thomson, J. 363, 365
Thrakien 46
Tiberias lio, 137
Tiberias, See von 87, 107, 109
Tidikelt 335, 392
Tifsist 354
Tigris 66
Timbuktu 360
Tirant 320
Tirremt 365
Tirs 370
Tleracen 362
Toskana 163
Totenverehrung 231
Totes Meer 76, 77, 107, 114, 128
Tozer 325
Trajanstor 1 2
Tripolis 84
Tripolitanien 280, 284 ff., 302
Tschataldscha 16, 33
Tscherkessen 54, 58, 137
Tschiragan 21
Tuat 335, 360
Tunesien 280, 287 ff., 406, 408
Tunesien, Beziehungen zu Italien 290ff.,
416
Turkmenen 138
Tuz Burnu 36
Türken 53, 56, 139
Türkei 55, 59
Tyrus 83
Ubangi 383
Udna 422
Udjda 362
Udref 326
Um-ed-Dschimal 1 49
Um-er-Rbia 339, 355, 366, 371, 378
Ungarn 52
Urlana 469
Ütsch Burnu 36
Vakarel 1 2
Valencia 262
Vallis 422
Vardar 48, 53
Vama 58
Velez Malaga 262
Venedig 155, 157
Via Egnatia 52
Vignon, L. 403
Viehzucht in Italien 173
,, „ Palästina 140
Vizzavona, Paß von 221
Volksdichte von Italien 175
„ „ ^Marokko 379
„ ,, Palästina 141
„ ,, Tunesien 437
Volturno 163
Volkszahl von Palästina 150
Wadi Arabah 107, iio
— 48o —
Wada Fara 114
Firan 68
ed Deheb 119
el Arisch 149
„ Tein 108
Hanem 149
Ighargar 46 I
Kelt 113
Mellaha 1 14
Mia 461
Zerka 114
Walidyia 368
"War 120
Wargla 392
Wasserarmut Apuliens 206
Wälder in Korsika 225
„ „ Tunesien 433
„ Aischa 339, 348
Wed Aguareb 422
Baiasch 320, 321
Beht 375
Bugena 319
Chair 445
Erseuf 319
el Abiad 322
„ Kseb 362
„ Rha 339
Feriana 319
Hathob 307, 315, 321
Karrub 339
Kebir 321
Melah 422
Wed Miliana 421, 440
„ Rdem 370
„ Rhir 324, 462, 464, 468, 469,
470
Wed Suf 64, 324, 462, 463
„ Tindja 445
„ Zerud 411, 421
Weinbau in Palästina 139
„ „ Tunesien 431
Weizenbau in Tunesien 433
Weltstein 76
Wilhelma 136
Wimmer, E. 352
Wlachen 53 ,
Yalak Dere 41
Yarim Burgas 24
Yedi Kule 27
Yelken Kaya Burnu 36
Zaian 375
Zair 375
Zarzis 427
Zarzuna 448
Zebojim 117
Zemmur 375
Zentrales Gebiet der Iber. Halbinsel
249, 254
Ziban 462, 464, 466
Zigeuner 54
Zoar 117
Zuckerrohrbau in Spanien 265
Druckfehler.
Lies Hasskjiöi Seite 20.
„ Wed Rirh Seite 121.
Verlag von B« 6» ü^cubncr in Leipzig urtd ßcrltri
Ortafienfabrt. Ton Dr. f. Dof lein. S?iSI«ti*Ä
CWna unb Ceylon. ITlit jabircidiert 2lbbilbungpii. (Seb. ca. Ji. 8. —
"^n fetten anf(ä;'aultii;er f pradie cnttrtrft bcr üerfajjer in biefem IDerfe ein glänjenbes
i3ilb pon 'bem farbenfroben Ceben bes fernen (Dftens, beren ITIenfcben, Sliere unb pflansen er
in bie perfcfiebenen Üu^erungen ibres 5etns verfolgt. (£s if^ besbalb aud^ fein Kcifeirerr im
gcmötinücbcn ^rinnc, fonbern bas Ergebnis eingcbenber, njiffenfdjaftlicber 5otf>ä?"'^9- '£^"
befonberer Jlei, toirb beni i5udi baburcb perlieben, tia^ Doflein gerabe in ber geit bcs ruffif*=
japanifcben Krieges in birfcn £änbern ipeilte unb bie Spannung unb «Erregung, bie burcb jene
tpeltgefdiiditlicben Sreigniffc aUentbalben tjerporgcrufen tuurbe, burd^sittert bas ganje Sud?.
«leltrcircbilder. Ton Julius )VIeurer. S?t"5nfTf""S:rn
fotnie einer IDeltfarte. (Seb. JC ^. —
Der als Heifefd;riftfteUcr befannte Derfaffer bringt feine Heifeerlebniffc unb =einbrüd'e in
5orm pon abgefdiloffenen Silbern, beren ein jebes einen Heifcabfdjnitt für fid; bebanbelt. 3«
biefcn abgearenjten Silbern tpar ber 2tutor bemübt , eine niöglidift anfdiaulidie üerftnnlidiung
beffen ju ettttperfen, tpas innerbalb biefes Hatimcns — fei es ein Canb, 3. S. 3"Ö'P" / Jaf^ii
Ctiina, 3apan, Horbamerifa , ober eine längere f ees ober Canbreife, ober aud) eine befonbers
bcrporragenbe Canbfdjaftsfjcnerie, voie ber Pinialaia — bem IDeltreifcnbcn entgegentritt. Se=
fonbere Sorgfalt tpibmet ber Derfaffer ber Dölferfunbe, ober riditiger ber befonberen «Eigenart
ber oftafiatifd^en üölfer, unb 5tpar '!)in 3nbern unb ibren Keligionsfulten, bin "^avamxn unb
tlTalaien , ben Cbinefen unb 'ben '^a'pixntxn , ferner ben unerreidjten Kunftbautcn , fotpie tun
unpergleid)li*en Kunfterseugniffen in 3"&if"/ China unb befonbers in 3'iP'T''
Das europäifcbe Rußland. Von prof .Dr.H.Rettner.
mit 2( Eertfarten. (ScK J(. 4 — , geb. Jt \.(>0.
Dorliegenbe Stubie, ju ber ber Derf affer burd? eine Heife in Hu^Ianb angeregt tuorben
ift, roirb bei ben augenblidlid^cn Vorgängen in ©ftafien Pon befonberem 3"*sreffe fein. Sie
tpiU bas, tpas uns «Ettniologen, ßiftorifer, Ilationalöfonomen, publisiften u. a. mitgeteilt unb
pon ihrem Stanbpunfte aus beleudjtet haben , unter geographifdjcn (Seftdjtspunftcn barfteUen,
uns bas Dcrftänbnis für bie Eigenart bcs ruffifdjen DolFes, bes ruffifdjen Staates, ber ruffifd^en
Kultur in itircr geographifd^en Scbingttieit Permitteln unb baburdj jugleid? bie (Srunblage für
eine geredete IDürbigung geben, bie nid)t preift unb nidit oerbammt fonbern 3U perfteben fnd)t.
Das IVIittelmeergebiet. Ton prof . Dr. H. pbilippfon.
Seine geograpbtfdie unb fulturelle Eigenart, mit 9 Äiguren, ^3 2lnfidjtcn unb ^0 Karten.
(Seti. Jt. 6. — , geb. M 7. —
,,I)as uorliegcnbe IDerf eignet ftdi porjügli* , um einem tpeiten Kreife allgemein (Se=
bilbeter eine DorftcÜung pon bem 3U geben, ipas (Scograpbie heute ift, nanientli* aber ber
ftetig n?adifenben §abl ber Sefudier bes JTIittelmeergebietes ein tieferes Cerflänbnis für bas,
Rias" fte feben, 3U erfcbließen. 3söcr foUtr ft* bas Sud; als «Ergänjung feines Heifehanbbudjs
mitnehmen, unb bie Sibliott)cfen unferer Kunbreifebainpfer foUten es in mehreren €remplaren
enthalten. . . . Zludj bem liiftorifer, bem Kulturhiftorifer, bem So3ioIogen bringt bas Sud) be=
beutenöen (5etpinn. . . . Sie Silber flnb por3Üglidj getpählt unb gut ausgeführt, bie Karten
fehr flare £)cranfdiaulidiun«en bes dertes." _
(Prof. Dr. et). 5ifdjer in ber Deutfd)en £iteratur=g)eitung.)
Tom Kauhafus zum JVIittelmeer. Ton Dr. p. Robr-
Etne ßod)3cits= unb Stubienreife burd) JIrmcnien. ITlit ^2 2tbbilbungcn im Üert.
«Seh. Jf. 5. — , geb. „«. 6. —
,,C»on ben Sd)neebergen bes Kaufafus bis 3U ben Ufern bes btauen ITlittelmeeres geteitet
uns pauI Kot)rbad) in bem oben genannten, mit einer Heihe diarafteriflifdier Sitber gefd)mucften
Suche, rieben bem perfönlid^en l\ei3 ber Darftetlung feffett uns por allem bie £ebl)aftigFcit ber
Itaturfdjitberungen , bie Sdnirfe ber Seobg.ditung über £anb unb Ccute unb bie Säue neuer
tpirtfd)afttid)er unb potitifd:er 2tuffd)Iäffe. Über bie armcnifd)e ^rage tpirb man ot)ne Kenntnis
ber Seobadjtungcn , bie p. Hohrbad) angeftcllt hat, nid)t met)r urteilen bürfen. 2lud) in
l]iftortfd)er unb ardjäologifdier Sesieliung bietet bas Sud), bas tpir unferen Cefern warm
empfetilen, piet jntcreffantes unb neues." (Dresbner Ilnseiger.)
bacb.
TcrUg von ß. 6. Ccubticr in Leipzig und Berlin
GeiftUches und ^eltUcbes aus dem türkifcb-grie-
chifchcn Orient v. 0eh.-Rat prof . D. Dr. fy, 6elzer.
Scibftcricbtes unb ^elbftgcfehencs. Hut porträt unb \2 §eid)iiungen. <S>el). .^H. 5 . — , ijcfd7ma(f=
poU aeb. J/. 6 —
„prof. (Seljer frnnt ben (Drietit, feine 5prad7ert unb (?eidjid;te. Was er bietet, iil uöllig
perfönlidj (Etforidjtcs. i£r luiU ben Cefrr in i'C'i d)riftlidje Konftantinopel einfül^rcn , in bie
IDelt ber ®rtt|oboren, ber (Sricdjen unb 2lrnifnicr. Die erfte i^älfte feines 8ud)c& bcfdjäftigt
fidj mit Kirdjenfragcn, bie jca freilidi am Bosporus 3ualeid) nationale fragen finb, bie 3tueitc
Sälfte, bodjintcteffant, bebaubelt politifdj unb ntenfdjlid; bie dürfen, (Sriecjien, lpanifd)en
^ubeii unb Jlttnenicr. iUun lernt aus öicfcii i'fijjen feljr i'iel, 3'i] erauiliiie befonbcrs bie
ilusfübrung über ben »Einfluß Don mobainniebanifierten >£lirifien auf bas dirfentum unb bie
Parftellung ber Ilusüditen bes ii'eftlidien unb fleinafiatifdjen (Sried7cntums. Rcligionsgefdjidjte,
Philologie unb poHtif ^Kannnen burdj (?>el3ev4 fein unb frei aejdjriebcne plaubereien. JXus:;
ftattung gut." (Die iMlfe. 1900. IXr. 5Ü.)
Vom Reiligen Berge und aus )VIakedonien. Reife-
bilder aus den Htboshlöftern und dem Infurrek-
tionsgebiet von 6eb.-Rat prof. D. Dr. R. 6elzer.
XTiit ^5 Zlbbilbungen im CLeft unb \ Kürtd)cn. (Pch. JC 6. — , gcfdjmacfiioll geb. M. 7. —
,,. . . 3n bem i>orliegcnbcn ITcrfe gibt ber als grünblidjcr Kenner unb t£rforfd)er bes
(Orients bcfanntc Terfaffer eine Ijodjintereffantc iJefdneibung feiner ilcifc nadj bem f^eiligen
Berge Jlttjos unb bem angrenjenben (Pebietc. . . . Das Bud? ift uorjüglidi ausgcftattet , mit
red^t guten Jlbbilbungcn rierfet]en unb rcrbient, 3umal es ien £efer in nod; tneniger befanitte
(Segenben fül]rt unb bie bortigen rerbaltniffe in ansiebcnber Ifcife fd;ilbert, bie roärmfte
t£mpfeb[ung." (Vloxb unb Siiti.)
Huf Java und Sumatra. Ton prof. Dr. K. Giefen-
hlrt^fl ^trcif3Üge unb ,5orfdmngsreifcn int £anbc ber lllalaien. mit \(i farbigen Doli;
I;il\jVll. bilbern,'3al]lrcidien 2lbbilbungfn unb [ Karte. (Sei). oU. 9-—, gefdjmacfooU
geb. Jt. 50.—
Diefe Rcifebefdjreibung berutjt auf hcn Jtufjeidjnungcn, bie ber Dcrfafler tDät^renb feiner
^orfdjungsreife unter bem unmittelbaren Cinbrude ber (Segeniuart gcmadjt tfat, unb enttoirft
ein anfdiaulidjes Bilb ber inbomalaiifdjen tiropen , insbefonbere uon 3aiia unb Sumatra.
(Seograpljie unb Canbesnatur, Vegetation unb (Eisrlebcn werben Icbenbig unb einbrurfsroU ge=
fdjilbert, ebcnfo bie fo3ialen üerbältii.ffe ber burdireifien Cänbcr unb bas malaiifdie Dolfstum
in feinen iierfd7iebenften £cbensiiu§erungen. Befonbere Bead^tung finbet aud; bie tropifdie
Zlgrifultur ber 3"fcl" u"'' ''li-i^ lieriiorragcnbc Bebcutung für IPeltbanbcl uni' Ifeltiierfebr. Bei
bem ungemein großen Jlnteil, ben beutfdje Jlrbeit unb beutfdjes Kapital an ber unrtfdjaftlidjen
lErfd^Iießung bicfer für uns fo unAtigen €änber baben, loirb bas Bud] uielen ermünfditc 2Iuf=
fd^lüffe über ibren Kulturjuftanb geben fönnen. (^ablreidie Potlbilber unb dcrtfiguren bilbcn
einen,, inftruftiuen Sdimurf bes IDerfes, eine Karte, in bie ber Kcifeweg eingetragen ift, erleiditert
bie Uberfidjt.
GineHuftraUen- und Siidfeef abrt. Ton Dr. H. Daiber.
iTlit 3at;lreid;en Ilbbilbungen. Vornehm geb. .//. 7. —
,,IPas bislang in beutfd)er Spradie über ^luftralien gefdjrieben worben ift, ift üußerft
gering unb mangelhaft. €rft bie gegenwärtige Sdirift, bie auf (Prunb cingebenbcr Stubicn an
Q)rt unb Stelle uerfaßt iporben ift, fann ben Jlnfprud) erbeben, über äanb unb £cute bes neuen
(Erbteils, über bie Cnta'idelung unb bas £ebcn in Jluftralien unb ber Sübfce in befriebigenber
unb ausfübrlidjer iDeife beridjten 3U Fönnen. Die Sdjrift fcffclt rom llnfange bis 3um legten
Sat3c unf^ getnälirt bem fieljrer für i£rb= unb Dölterfunbe, ebeufo tuie bem itatuririffenfd^aftler
unb Kaufmann eine reid;e .^unbgrubc tatfäd;lid;en ilnfdjauungsmaferials, bas alle tSrfdieinungen
früherer 3ilirc in ben Sdjatten'ftellt." {(Dt^i). ,^ellotn 5903. Hr. 5.)
Hus Deutrcb-ßrafUien. Ton Dr. Hlfred funke.
Silber aus bem Sehen ber Deutfdjen im Staate ilio (Sranbe bo Sul. lUit 3alilreid;en J[b=
bilbungen im dert unb [ Karte non J\io (?ranbe bo Sul. (SefdjmacfuoU geb. ^H.7. —
,,Der Derfaffer ift ein fdiarfer Beobad7tcr unb ein portrefflidjer ,5P"iU(^tonift.
M "" #
%^#5-:Vj|;J
■:^.J^
fe»^/:J*L'
UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITY
A 000 627 086
l'^^^KÄK
"^Ä^.. :*.J>?*^ :^5a. "«?^..^: ^"^